«Das Reich von Osamah M.»

30. September 2021, Nora Leutert
Abraham van Beyeren, Bankett Atilleben 1667, Öl auf Leinwand / Alarmy Stock Foto
Abraham van Beyeren, Bankett Atilleben 1667, Öl auf Leinwand / Alarmy Stock Foto

Der Tages-Anzeiger nutzt den Fall Osamah M. für Sozialhilfe-Bashing. Eine Einordnung.

Es sind explosive Schlagzeilen, die der Tages-Anzeiger letzte Woche veröffentlichte: Der Schaffhauser «Rollstuhl-Jihadist» Osamah M. soll weiterhin in radikal islamistischen Kreisen aktiv sein. Der Iraker, der 2017 als Terrorhelfer verurteilt wurde, schare nach seiner Haftstrafe Anhänger um sich und praktiziere Teufelsaustreibungen, schreibt der Tagi. Und nun sei sein Plan in Erfüllung gegangen: Er habe in Neuhausen am Rheinfall eine eigene Moschee gegründet.

Was die Geschichte besonders brisant macht: Eigentlich wurde Osamah M. 2017 aus der Schweiz ausgewiesen. Doch da ihm im Irak unmenschliche Behandlung und Folter drohen, kann er nicht ausgeschafft werden – und lebt stattdessen in Schaffhausen auf Kosten der Sozialhilfe.

Was hat es mit den Enthüllungen auf sich? Wer den Recherchen des Tages-Anzeiger nachspürt, stösst schnell an eine Mauer. Die neue Moschee, an der Osamah M. beteiligt sein soll, befindet sich im Zentrum von Neuhausen. Träger ist der neu gegründete Islamische Kulturverein. Er übernahm die Gebetsräumlichkeiten vom Türkisch-Islamischen Verein, der nun in die neu gebaute Aksa-Moschee am Schalterweg umgezogen ist. Der neu gegründete Verein, über den niemand Genaueres weiss, möchte keine Auskunft geben. Der Interreligiöse Dialog Schaffhausen war zwar zur Eröffnung des neuen Gotteshauses eingeladen. Noch kann er aber nichts dazu sagen, ausser, dass dort eine etwas konservativere Auslegung des Islams gepflegt wird.

Osamah M. verkehrt in der Tat in der Neuhauser Moschee. Auch die AZ begegnet ihm dort: Es ist an einem Wochentag kurz vor der Gebetszeit, Osamah M. lässt sich von zwei Helfern samt Rollstuhl die Treppe hochtragen.

Das ist alles, was wir wissen.

Auch der Tagi präsentiert eine eher dünne Faktenlage. Journalist Kurt Pelda bezieht sich auf verschiedene Informanten aus dem Umfeld von Osamah M. Bei einem soll es sich um einen ehemaligen Exorzismuspatienten handeln. Laut diesem hat Osamah M. nicht nur Heilungssitzungen abgehalten, sondern selbstgemixte Wundermittel aus Honig und «heiliges» Wasser verkauft. Letzteres wäre Sozialhilfebetrug. Es wäre wohl die einzige neuerliche Straftat, die Osamah M. laut Tagi begangen hätte.

Kurt Peldas Recherchen zum Aufbau eines radikalen Umfelds sind besorgniserregend, aber noch sehr vage. Doch der Tages-Anzeiger sieht in der Recherche noch eine andere, sehr konkrete Geschichte: die «Chronik eines behördlichen Versagens».

Der mehr oder weniger unterschwellige Vorwurf des Tages-Anzeiger: Osamah M. habe sich in dem städtischen Wohnheim, in dem er bis vor Kurzem untergebracht war, einen Luxustempel eingerichtet – auf Kosten der Steuerzahler. Ausserdem gehe das Sozialamt punkto Sicherheit zu locker mit dem Fall um. «Sonderbare Dinge geschehen im Kanton Schaffhausen», schreibt Autor Kurt Pelda in einem Folgeartikel: «Die Behörden geben ihr Bestes, um Osamah M. den Aufenthalt im Kanton so angenehm wie möglich zu machen.»

Wie steht es um die Vorwürfe des Tages-Anzeiger? Geniesst Osamah M. bei den Schaffhauser Sozialhilfebehörden eine Vorzugsbehandlung? Gehen sie zu sehr auf die speziellen Bedürfnisse des Querschnittgelähmten ein? Und zu wenig auf die allgemeine Sicherheit?

Früchte des Zorns

«Hier beginnt das Reich von Osamah M., dem Rollstuhlfahrer aus dem Irak», schreibt der Tagi, als er über das Wohnheim berichtet:

«Äusserlich wirkt das Wohnheim heruntergekommen. Doch im rollstuhlgängigen Erdgeschoss verfügt der Iraker über eigene Räume, in denen sich Fitnessgeräte und ein riesiger Fernsehbildschirm befinden. Ein Bekannter, der Osamah M. oft besucht hat, berichtet, dass die Empfangsdamen dem Rollstuhlfahrer manchmal Früchte brächten.»

Es klingt, als habe sich der Sozialhilfeempfänger in seinen Gemächern einen exklusiven Trainingsraum eingerichtet, der an den «Fall Carlos» (respektive «Fall Brian») erinnert. Und als würden besagte Empfangsdamen einem Herrscher aus dem alten Rom Trauben direkt in den Mund reichen.

Nüchtern betrachtet muss man allerdings sagen: Wahnsinnig üppig wirkt das Reich von Osamah M. nicht. Besonders wenn man weiss, dass es sich bei dem Wohnheim um eine Notschlafstelle für Obdachlose handelt. Das Soziale Wohnen Geissberg, das gerade dem Spitalneubau Platz machen muss.

Und die Inneneinrichtung?

«Die Fitnessgeräte – ein Stehtisch und ein Beinmuskeltrainingsgerät – sind auf ärztliche Empfehlung hin angeschafft worden, es sind günstige Occasionen», sagt Andi Kunz, Leiter des Schaffhauser Sozialamts, auf Anfrage. Den Fernseher habe Osamah M. weder vom Sozialen Wohnen Geissberg noch vom Sozialamt bekommen. Und das Wohnheim bekomme Lebensmittelspenden von Grossverteilern. Darunter auch Früchte.

«Blamage» der Behörden?

Osamah M. hat seine Haft rechtmässig abgesessen, und da er in der Schweiz vorläufig aufgenommen wurde, hat er ein Recht auf Sozialhilfe und Zugang zu Integrationsmassnahmen. Wie jedem Sozialhilfeempfänger stehen Osamah M. neben dem Grundbedarf «situationsbedingte Leistungen» zu – etwa medizinische Versorgung oder eine barrierefreie Wohnmöglichkeit.

Die Frage, wie die Behörden mit solch einem Fall umgehen sollen, ist dennoch nicht einfach zu beantworten.

Die Ausweisungsverfügung des Fedpol ist nach wie vor rechtskräftig, und somit gilt die Einschätzung, dass Osamah M. eine Gefahr für die innere Sicherheit der Schweiz darstellt. Die Überwachung liegt beim Nachrichtendienst des Bundes. Wenn von einem Versagen oder einer «Blamage» der Schaffhauser Behörden (Schaffhauser Nachrichten) die Rede ist, stellt sich die Frage, was die kantonalen Behörden überhaupt ausrichten dürfen.

Wenn, dann wäre am ehesten die Schaffhauser Polizei und die dort angesiedelte Fachstelle für Radikalisierungsprävention für Osamah M. zuständig – die nun längere Zeit nicht besetzt war. Die Schaffhauser Polizei hat bereits jetzt Möglichkeiten, Personen zu überwachen, mit dem Inkrafttreten des PMT-Gesetzes werden sich diese noch verstärken. Die Kantonspolizei betreibt ein Bedrohungsmanagement, eine polizeiliche Überwachung führt aber nicht automatisch zur Aufnahme auf die Gefährderliste. Ob eine Person wie Osamah M. auf der Gefährderliste steht, darüber gibt die Polizei keine Auskunft.

Was hingegen ganz klar ist: Das Sozialamt seinerseits hat keinen Sicherheits- und Überwachungsauftrag. Es ist kein vorgelagerter Spitzel der Polizei. Es hat die Aufgabe, seine Klienten zu (re)-integrieren und aus der Sozialhilfe herauszuführen – auch zur Sicherheit der Bevölkerung. Dazu gehört laut Schaffhauser Sozialamt zwar auch die Deradikalisierung. Man arbeite im Fall Osamah M. mit der Beratungs- und Anlaufstelle für Extremismus und Gewaltprävention Schweiz zusammen, um ein besonderes Setting zu schaffen: Ein besonderes Setting nicht für Osamah M., sondern für das Sozialamt. Denn mit nicht-ausschaffbaren Risikopersonen, wie es nur wenige in der Schweiz gibt, hat man in Schaffhausen keine Erfahrung.

Dass ein Fall wie Osamah M. eine Überforderung für den Kanton darstellt, ist klar. Nicht zuletzt auch wegen den Erwartungen aus der Bevölkerung, wie mit solchen verurteilten Straftätern umzugehen sei.

Es sind Erwartungen, die beispielsweise geschürt werden, wenn der Tagi suggeriert, dass der ehemalige Straftäter verhätschelt werde und sogar hervorhebt, wie das Sozialamt eine rollstuhlgängige Wohnung suchen und deren Inventar extra rollstuhlgängig machen musste. Oder Erwartungen, die entstehen, wenn die Schaffhauser Nachrichten das Narrativ aufgreifen und sich wundern, dass der Iraker, der seine Haftstrafe rechtmässig verbüsste, «von den Behörden an einer sehr langen Leine gelassen wird», und dass er für den Kanton offenbar nur ein Sozialhilfefall wie jeder andere ist.

Wie die Leserschaft dieses Narrativ auffasst, muss man wohl kaum erwähnen. Es zeigt sich in den Kommentarspalten.