«Ein Symbol der Hoffnung»

27. September 2021, Nora Leutert
Symbolbild: Peopleimages/ istockphoto.com
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Das SIT hat eine Studentin aus Afghanistan in die Schweiz gerettet. Und sich ewige Dankbarkeit gesichert.

Eine zierliche Frau sitzt an einem Tisch in der leeren Aula des Business-Gebäudes des Software-Unternehmens Acronis am Rheinweg in Schaffhausen. Sie ist Studentin und Stipendiatin des Schaffhausen Institute of Technology (SIT), der Privatuni von Acronis-Gründer Serguei Beloussov, die ebenfalls hier untergebracht ist. Ihr zur Seite sitzen zwei Mitarbeiterinnen, die Sicherheit ausstrahlen. Über dem zusammengebundenen Haar trägt die Studentin einen hauchdünnen schwarzen Schleier, den sie immer wieder nach oben zupft, wenn er runterrutscht. In den Händen hält sie ein Taschentuch.

Vor wenigen Wochen war sie unter den vielen Menschen am Flughafen von Kabul, die hofften, fliehen zu können, die Füsse aufgerissen von Stacheldraht. Die Taliban schossen, es war kein Durchkommen.

Und nun ist sie hier in Schaffhausen, dank dem SIT. Sie wirkt wie eine Kostbarkeit, welche die Firma schützt – und die ihr ein Stück weit auch zu ihren Zwecken nützt.

Der Rat der Mutter

Die junge Frau um die 30 stammt aus Afghanistan und heisst Azadeh. Zumindest hier auf dem Zeitungspapier. Ihr richtiger Name muss, wie ihre Heimatstadt und alle anderen Personalia, zur Sicherheit ihrer Familie geheim bleiben. Nicht nur ihre Brüder und ihre Eltern, auch ihren Mann liess sie in Afghanistan zurück. Das Einzige, was bleibt, ist der goldene Ehering, der an ihrem Finger glänzt.

Azadeh hat viel durchgemacht, bis sich ihr Leben mit der kleinen Stadt am Rhein kreuzen sollte. Sie war mit ihrer Familie vor dem Krieg in Afghanistan in ein Nachbarland geflüchtet, als sie noch klein war. Vor einigen Jahren kehrten sie in ihr Heimatland zurück. «Als wir zurückkamen, war es sehr hart, wir hatten weniger Infrastruktur in Afghanistan, Elektrizität, Gas und Internet sind ein Problem», sagt Azadeh. Trotzdem akzeptierte ich alle Unannehmlichkeiten, weil ich in meinem Land etwas bewirken wollte.»

Ihr Vater ging einer einfachen Arbeit nach, aber er schaute, dass die Kinder studieren konnten. Für Azadeh als Mädchen galt dies zwar etwas weniger, da hatte er traditionelle Ansichten, doch ihre Brüder und insbesondere ihre Mutter hätten sie sehr ermutigt, erzählt Azadeh und lächelt. «Meine Mutter konnte nicht schreiben, sie hatte nur ein, zwei Schuljahre gemacht. Sie hat mich immer ermutigt, tüchtig zu lernen. Das Einzige, was dir immer und überall helfen kann, ist dein Wissen, sagte sie.»

Azadeh schrieb sich an der Universität ihrer Heimatstadt für den Bachelor in Informatik ein, von der sie in der Schule immer wieder gehört hatte. Ihr Bruder kaufte ihr ihren ersten Computer, und sie kniete sich in die Studien. Einige Jahre später begann sie, an ihrer Heimat-Uni als wissenschaftliche Assistentin zu unterrichten. Und hier führt die Geschichte nach Schaffhausen.

Im Internet wurde Azadeh auf das SIT und seinen Masterstudiengang in Informatik und Software Engineering aufmerksam. Sie bewarb sich fürs Stipendium und konnte offenbar durch ihr Talent und ihre Fähigkeiten derart überzeugen, dass sie aufgenommen wurde. Der Plan war, in die Schweiz zu kommen und nach dem Studium in ihre Heimatstadt zurückzukehren, um zusammen mit den Kollegen an der Fakultät einen Masterstudiengang aufzubauen. So begann sie vor einem Jahr am SIT zu studieren, wegen Corona online und von Afghanistan aus. Für das jetzige Semester beantragte sie ein Visum in der Schweiz, das ihr auch zugesagt wurde. Doch dann kam alles anders.

Die Taliban nahmen nach dem Abzug der Truppen der USA und der Nato das Land ein. Als weibliche Akademikerin, die sich zudem für Frauenrechte engagierte, war Azadeh nach der Machtübernahme der Taliban besonders bedroht. Und ihr waren die Hände gebunden. Als Frau durfte sie nicht mal mehr ohne Begleitung vor die Tür gehen. Ihr Visum für die Schweiz stand aus, da die Schweizer Botschaft ihr Personal in Kabul abgezogen hatte. Und so legte Azadeh ihr Leben in die Hände des SIT und der Acronis.

«This message, one of supporting and uplifting others in need, holds true to SIT values and aligns with those of our partners.»

SIT

Ein beachtlicher Erfolg

Die Privatuni von IT-Unternehmer Serguei Beloussov gab die Nachricht am 1. September auf ihrer Website bekannt: Man habe eine Studentin aus Afghanistan in die Schweiz bringen können. Menschen in Not zu unterstützen, entspreche den Werten des SIT, schrieb das Unternehmen in pathosgeladener PR-Manier. Die Sicherheit der Studentin sei für das SIT zur Priorität geworden, wie auch zum Symbol der Hoffnung für alle jungen inspirierenden Menschen. Mit der immensen Hilfe der Schweizer Behörden sei ihre Rettung und der Start in ihr «neues Leben» gelungen, so das SIT.

Eine beachtliche Aktion in der Tat, welche die Privatuni nicht nur für PR nutzt. Sondern die auch zeigt, wie sie Wissenschaft und Business verbindet. Und Einfluss ausübt.

Governement Director Roman Hagen, der früher bei der Bundesverwaltung gearbeitet hat, wendete sich zur Rettung von Azadeh persönlich an Bundesrat Cassis. Man brachte die Studentin letzten Endes unter die gerade mal 385 Personen, die bis zum 27. August aus Afghanistan in die Schweiz evakuiert wurden. Sie erhielt als eine von 82 Nicht-Schweizern ein Laissez-Passer, um vereinfacht in die Schweiz einreisen zu können.

Aufs Studium fokussieren

Hier sitzt diese junge Frau nun also in ihrem «neuen Leben» (SIT), und etwas surreal wirkt das alles schon. Man fragt sie vorsichtig, wie sie hier zurechtkomme.

Azadeh muss lächeln. Naja, hier zurechtzukommen, das sei nicht so schwierig, antwortet sie in Englisch. Denn wer sie als fragil einschätzt, der irrt. «Keine Sorge, ich habe nur das erzählt, was ich möchte», wird sie am Ende des Gesprächs mit Nachdruck sagen.

Und doch bleiben Zweifel. Erzählt Azadeh ihre Geschichte nur aus dankbarer Verpflichtung gegenüber dem SIT und der Acronis? Nur, weil sie alles richtig machen will in diesem neuen Land, in dem sie im Asylprozess steckt?

«Frauen in Afghanistan erleben täglich viel Schlimmeres als ich», sagt Azadeh. Sie glaube, dass ihre Geschichte die Probleme von afghanischen Frauen beleuchten könne. Frauen, die viele Jahre für ihre Grundrechte gekämpft haben.

«Ich versuche nun, für mich zu sorgen, es ist das Einzige, was ich tun kann. Nicht jeder hat die Chance zu studieren.»

Azadeh

Azadeh befindet sich nun im Asylverfahren in der Schweiz, mit ihrem L-Visum kann sie nur knapp ein Jahr bleiben. Das SIT übernimmt ihre ganzen Kosten, vom Studium über Wohnung und Verpflegung. Sie verdankt dem SIT alles. So wie ihr geht es auch vielen anderen SIT-Studentinnen, einem Grossteil der zurzeit rund 60 Studentinnen und Studenten der aktuell zwei Masterklassen wird das Studium vom SIT gezahlt.

Azadeh möchte nach dem Studium zurück in ihr Land – wenn das möglich sein wird. Vielleicht wird sie schliesslich auch hier bleiben. Bei einer von Beloussovs Firmen. Auch wenn das Studium derzeit laut SIT nicht an eine spätere Arbeitsverpflichtung gebunden ist. Die Privatuni bildet die Leute aber natürlich genau auf die Jobs aus, welche in Beloussovs Unternehmen gesucht sind. Und sie kann die Leistungen ihrer Studierenden ein ganzes Studium lang mitverfolgen.

Dabei kann sich das SIT sicher sein, mit Azadeh eine Studentin zu haben, die so hart und zielgerichtet studiert wie nur möglich, und wahrscheinlich exzellente Resultate erzielen wird. Denn hier wird Azadehs Stimme sehr bestimmt: «Ich versuche nun, für mich zu sorgen, es ist das Einzige, was ich tun kann. Nicht jeder hat die Chance zu studieren. Ich versuche, darauf zu fokussieren.» So viel ist sicher: Sie wird dem Unternehmen auf immer dankbar sein – ob sie bei ihm bleiben wird oder nicht.