Nach der Schliessung des Pflegeheims «Hand in Hand» kritisieren Angestellte und ein Bewohner den Kanton scharf.
Pures Chaos – so muss der letzte Tag im Hemmentaler Pflegeheim Hand in Hand beschrieben werden. Sechs verunsicherte Bewohnerinnen und Bewohner müssen zum Umzug bereit gemacht und gleichzeitig weiterhin gepflegt werden, Zügelhelfer und Angehörige gehen ein und aus, Rollstuhltaxis treffen zu früh ein, ein Bewohner weiss bis am Abend nicht, wo er künftig leben wird. Und das Gesundheitsamt schaut erst kurz vor Feierabend überhaupt vorbei.
Mittendrin: überarbeitete Pflegerinnen, die in wenigen Stunden arbeitslos sein werden und schon lange keinen Lohn mehr gesehen haben. Ein Teammitglied ist krank, die anderen helfen einander mit zusätzlichen Schichten aus. Sie sind mit den Nerven am Ende.
Dem Personal, das jahrelang unter einer herrschsüchtigen und unprofessionellen Leitung gelitten hat (AZ vom 1. und 23. April 2021), verlangen die letzten Tage und Stunden noch einmal viel ab. Die Pflegerinnen arbeiten auf Hochdruck und teilweise unter Tränen. Am Scherbenhaufen, sagen sie, ist auch das Gesundheitsamt schuld.
Nur drei Tage vor dem Auszug der Bewohnerinnen und Bewohner hat das Amt die Schliessung beschlossen (AZ vom 9. September 2021). Die Hoffnung auf eine Zwischenlösung, eine Weiterführung des kleinen Heims unter neuer Leitung, hat sich nicht erfüllt.
Der Kanton sieht sich trotzdem als erfolgreicher Krisenmanager und steckt sich rhetorisch die schönsten Blumen an. Das Gesundheitsamt habe «in äusserst kurzer Zeit entschlossen gehandelt und für die Bewohnerinnen und Bewohner Anschlusslösungen gefunden», schreibt der zuständige Regierungsrat Walter Vogelsanger und windet seinem Team ein Kränzchen für den «Kraftakt»: «Dem Personal konnten die Löhne gesichert werden.»
Die schönen Worte verschleiern die harte Realität von Angestellten, die vor dem Nichts stehen. Und sie sind teilweise schlicht nicht wahr. Ein Faktencheck.
«Die Löhne sind gesichert»?
Fakt ist, dass die Angestellten den Augustlohn nicht erhalten haben, teilweise stehen ausserdem die Entgelte für Überstunden oder nicht bezogene Ferien aus. Schon früher sei nur jeder zweite Monatslohn pünktlich bezahlt worden, sagt Pflegerin Sandra Schönberger.*
«Gesicherte Löhne» heisst nur, dass offene Lohnforderungen der letzten vier Monate letztlich durch die Insolvenzentschädigung gedeckt werden sollen. Doch das geht erst, wenn das Konkursverfahren eröffnet ist – was bis gestern Mittwoch noch nicht der Fall war.
Sandra Schönberger wird bald das Geld ausgehen. Sie ist überarbeitet und vom Stress der letzten Wochen angeschlagen, sie weiss, dass sie eine Auszeit bräuchte. Doch wenn nicht bald Geld fliesst, muss sie schon auf den Oktober eine neue Stelle suchen. Sie ist überzeugt: Das Amt hielt die Pflegerinnen mit falschen Versprechen warm, damit der Betrieb in Hemmental nicht zusammenbrach: «eine Frechheit». Milena Monti* stimmt zu: «Wir fühlen uns vom Gesundheitsamt im Stich gelassen und verarscht.»
Denn: Das Amt habe bis drei Tage vor der Schliessung versprochen, das Personal könne unter neuer Leitung weiterarbeiten. Gesundheitsamtsleiterin Anna Sax widerspricht auf Anfrage: «Wir haben versprochen, alles zu versuchen, um eine Interimslösung zu finden. Das haben wir gemacht.» Die beiden Pflegerinnen lassen das nicht gelten und spielen eine Sprachnachricht ab: Die Pflegedienstleiterin leitet darin die Beteuerung des Amtes weiter, die Arbeitsplätze seien für ein halbes Jahr sicher.
Stattdessen sind die Angestellten jetzt auf das Konkursverfahren und den Betreibungsweg angewiesen – sie warten auf ihr Geld.
«Das Personal findet neue Jobs»?
Pflegefachkräfte seien gerade sehr gesucht, verkündet Anna Sax vom Gesundheitsamt bei Medienanfragen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn nur eine Minderheit des Personals von Hand in Hand besteht aus ausgebildeten Pflegefachkräften. Arbeitslos werden auch Pflegehilfen ohne Diplom und Haushaltsmitarbeitende. «Für diese wird es schwierig sein, eine Stelle zu finden», sagt Patrick Portmann von der Gewerkschaft VPOD. Er ist selber Pflegefachmann und hat in den letzten Tagen intensiv Jobs für das auf die Strasse gestellte Personal zu vermitteln versucht.
«Neue Plätze für alle»?
Im Verlauf des vergangenen Freitags wurden die Bewohnerinnen und Bewohner abgeholt. Erst zwei Tage zuvor hatten sie erfahren, dass sie zügeln müssen. Richtig ist, dass für alle ein neuer Wohnort gefunden werden konnte. Allerdings in einem Fall auf den letzten Drücker und nur auf Zeit. Am Tag seines Auszugs wusste ein Bewohner noch nicht, wo er leben würde. Ein Angebot für einen Platz wurde kurzfristig zurückgezogen, bis am Abend herrschte Unsicherheit und Verzweiflung.
Ohne sichere Lösung kam der Mann zunächst für ein paar Tage im Kantonsspital unter, seit vorgestern Dienstag wohnt er im ehemaligen Pflegezentrum auf dem Geissberg, das die Altersheime von Hallau und Neunkirch während ihres Umbaus zwischennutzen.
Jetzt spricht ein Betroffener
Dieser Bewohner heisst Armin Schmidlin, noch nicht ganz 70 Jahre alt. Er hat die AZ-Berichterstattung zu Hand in Hand aufmerksam verfolgt. Bisher konnte er aber keine Auskunft geben, weil er um seinen Heimplatz fürchtete. Jetzt ist der Platz futsch, und Armin Schmidlin hat zur Tastatur gegriffen, mit der AZ telefoniert und sein «Protestschreiben» geschickt.
«Jetzt spricht ein Betroffener», fängt er an. «Vor fünf Jahren war ich der gleichen Situation ausgesetzt wie heute. Nach der Schliessung des kantonalen Pflegezentrums in Schaffhausen wurden auch damals alle Bewohner auf die umliegenden Altersheime im Kanton verteilt. Ich war der letzte Mohikaner, für den kein Platz gefunden werden konnte.» Schmidlin wurde von sechs Institutionen abgewiesen, weil er zu alt oder sein Pflegebedarf zu hoch sei.
«Dann bekam ich die wunderbare Nachricht, dass in Hemmental ein kleines Alters- und Pflegeheim eröffnet wurde, bei dem alle Bedürftigen vorbehaltlos aufgenommen würden. Es klang wie ein kleines Wunder.»
Heimleiter Claus Heuscher besuchte Armin Schmidlin. «Im dunkelblauen Mercedes Sechszylinder fuhr er vor. Sein Auftreten war weltmännisch, er gut gekleidet und mit sehr viel Gold geschmückt.»
Das Haus und das Personal hätten einen sehr guten Eindruck gemacht. Schmidlin zog ein. Ein schroffer Empfang durch die Pflegedienstleiterin liess aber Ungutes ahnen. Bald erlebte Schmidlin die Missstände, über die die AZ später berichten sollte. Das grösste Problem waren jedoch die ständigen Personalwechsel.
Er schildert, in knapp fünf Jahren habe er über 20 Mal erlebt, dass jemand das Heim verliess und er sich an neues Pflegepersonal gewöhnen musste. Zur Erklärung habe Heuscher jeweils «Lügengebilde» aufgetischt, um Lohnstreitigkeiten zu vertuschen.
Armin Schmidlin schreibt, er habe 2018 Simon Stocker informiert, den damaligen Sozialreferenten – aber nie mehr etwas gehört. Er weiss auch, dass Angestellte und Angehörige immer wieder Beschwerden an das Gesundheitsamt richteten. «Angeblich wurden dem Heimleiter Auflagen gemacht, die er aber nie umsetzte. Kontrolliert hat das niemand. Hat das Gesundheitsamt geschlafen?»
«Stehe vor einem Scherbenhaufen»
Schmidlin ist überzeugt, das Heim hätte unter besserer Leitung weiterbestehen können, wenn der Kanton auf die Hilferufe reagiert hätte. Jetzt ist er wütend: «Dieser sogenannte Geschäftsführer, der vom kantonalen Gesundheitsamt noch gedeckt wurde, weiss gar nicht, was er für einen seelischen und emotionalen Schaden bei den Betroffenen und ihren Angehörigen angerichtet hat. Der letzte Freitag, an dem wir uns trennen mussten, war sehr traurig und emotional. Die Tränen flossen in Strömen. Jetzt stehe ich wieder vor einem Scherbenhaufen.»
Armin Schmidlin darf für ein Jahr auf dem Geissberg bleiben, dann muss er weitersuchen. Er schreibt: «Wer übernimmt eigentlich die Zügelkosten?»
«Ich bin es meinen lieben Pflegerinnen und Pflegern, Mitbewohnern und Helfern, von denen ich mich teilweise nicht einmal verabschieden konnte, schuldig, mit diesem Skandal an die Öffentlichkeit zu gehen», schliesst Schmidlin.
Er wünscht sich, dass er in sein Zimmer in Hemmental zurückkehren kann. Das Gesundheitsamt könne seine Fehler wieder gut machen und die Villa gemeinsam mit der Eigentümerin, der Windler-Stiftung, wie geplant umbauen und als neues, etwas grösseres Heim wieder eröffnen. Denn: «Dieses kleine Heim in Hemmental wäre für mich und auch für andere immer noch ideal, wenn es eine menschliche, kompetente Führung hätte.»
* Namen geändert
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Blindes Vertrauen
Kommentar von Mattias Greuter
«Vielleicht» müsse sich der Kanton vorwerfen, «zu spät interveniert» zu haben, räumte die Leiterin des Gesundheitsamtes vergangene Woche ein.
Das «vielleicht» ist überflüssig. Der Kanton hat der Misere rund um das private Pflegeheim «Hand in Hand» viel zu lange zugeschaut und der unfähigen Heimleitung den Rücken gestärkt. Nur deshalb musste die Schliessung letzte Woche derart Hals über Kopf erfolgen, dass nacktes Chaos herrschte (Seite 12). Ein Chaos, das die Angestellten ausbaden mussten, ohne Unterstützung des Gesundheitsamtes. Daran, dass die Pflegerinnen jetzt arbeitslos sind, nachdem sie lange ohne Lohn arbeiten mussten, ist der Kanton mitschuldig. Hätte er früher eingegriffen, wäre eine Weiterführung des Heims unter neuer Leitung wohl möglich gewesen.
Zugegeben: Der Kanton konnte der Heimleitung wohl nicht wegen der Missstände das Handwerk legen, über die Angehörige und Pflegerinnen die AZ und den Kanton immer wieder informiert hatten: Gefährliche Pflegefehler, ekelerregende hygienische Bedingungen, mutmasslicher Alkohol- und Medikamentenmissbrauch durch die Leitung. Dem Kanton fehlten Beweise, auch wenn er dies durch zu wenig intensive Kontrollen teilweise selbst verschuldet hat.
Schliesslich wurde das Heim nicht wegen dieser Zustände geschlossen, sondern weil der Chef die Löhne nicht mehr zahlen konnte. Doch soll der Kanton wirklich erst jetzt gemerkt haben, dass «Hand in Hand» auch finanziell ein Desaster war?
Der zuständige Regierungsrat hat Kritik immer kleingeredet, er vertraute wohl seinen Mitarbeiterinnen im Gesundheitsamt. Und diese Vertrauten einem dubiosen, aber wortgewandten Heimleiter.
Vertrauen war hier fehl am Platz: Die Aufsicht hat komplett versagt. Als sie in den letzten Monaten etwas verstärkt wurde, war es schon zu spät.
«Zu spät» habe man Kenntnis von der desolaten finanziellen Situation erhalten, heisst es jetzt. Das Heim reichte mit grosser Verspätung seinen Jahresabschluss ein, der das katastrophale Ausmass offenkundig machte. Der Kanton hätte aber jederzeit Zugriff auf die Zahlen gehabt.
Das unmenschliche Regime des Heimleiters in Hemmental hat jetzt ein Ende: Das kann sich der Kanton nicht selber zuschreiben: Sein spätes Handeln war alternativlos geworden, weil sich einmal mehr Pflegerinnen zur Wehr gesetzt hatten, die schon zu oft auf den Lohn warten mussten.
Vier Pflegerinnen haben bei früheren Recherchen mit der AZ gesprochen, einige von ihnen haben sich schon vor drei Jahren an das Gesundheitsamt gewandt – erfolglos. Eine weitere Pflegerin, die bis zum bitteren Ende in Hemmental arbeitete, hat während eineinhalb Jahren Beweise gesammelt und sie dem Gesundheitsamt geschickt – bis zum Sommer dieses Jahres. Jetzt, sagt sie, wurde sie vom Amt im Stich gelassen.
In Hemmental hat sich ein Kreis geschlossen. Als die AZ vor über vier Jahren zum ersten Mal über Missstände bei «Hand in Hand» schrieb, ging es um nicht oder zu spät bezahlte Löhne und Mitarbeiterinnen, die sich wehren. Mehrmals erfuhr das Amt seither aus der AZ oder direkt von Betroffenen vom gleichen, offenbar dauernden Problem. Und am Ende musste das Heim genau aus diesem Grund schliessen: Weil es die Löhne nicht zahlen konnte und die Angestellten nicht mehr bereit waren, ohne Lohn zu krampfen.
Die mutigen Pflegerinnen haben das Ende des «Villa Wahnsinn» genannten Heims besiegelt. Der Kanton hätte viel Leid vermeiden können, wenn er ihnen geglaubt hätte.