«Ich sehe so schwarz wie noch nie»

13. September 2021, Marlon Rusch
Daniel Zeljkovic ist nicht auf den Mund gefallen.
Daniel Zeljkovic ist nicht auf den Mund gefallen.

Anästhesiepfleger Daniel Zeljkovic berichtet von prekären Zuständen. Er sagt: Wenn die Impfquote nicht bald drastisch steigt, droht ein Desaster. Seine klaren Worte kommen nicht überall gut an.

Daniel Zeljkovic arbeitet seit bald 32 Jahren im Kantonsspital Schaffhausen. Er ist Leiter der Anästhesie-Pflege und der Aufwach- und Tagesstation. Daneben ist er im Rettungsdienst aktiv. Wir treffen ihn am Feierabend in seinem Garten.

AZ Daniel Zeljkovic, provozieren Sie gern?

Daniel Zeljkovic Ich provoziere, wenn es sein muss. Ab und zu muss man die Wahrheit einfach beim Namen nennen. Auch wenn es unangenehm ist und die Leute hässig macht.

Vor zwei Wochen war so ein Moment.

Ja.

In der AZ und in den SN erschien ein Leserbrief von Ihnen mit dem Titel «Helft uns bitte – lasst euch impfen, wandert aus …». Daraufhin haben Sie dem Portal 20 Minuten ein kurzes Videointerview gegeben und sehr klare Worte gefunden.

Das war ein Hilferuf, aus tiefer Überzeugung und Verzweiflung.

Ist die Situation in den Spitälern so prekär?

Sie ist prekär, ja. Im Gesundheitswesen ist es schon lange schwierig, anstrengend, mühsam. Wir arbeiten seit Jahren am Limit. Das Gesundheitswesen wurde ökonomisiert, die Liegedauer der Patientinnen und Patienten sinkt, aber gesund werden müssen sie trotzdem. Und jetzt, seit bald eineinhalb Jahren, kommt die Covid-Krise noch dazu. Dabei sind die Spitäler auch ohne Corona voll. In den letzten Monaten gab es dann auch namhafte Abgänge beim Spitalpersonal, gerade in der Pflege.

Wegen der Überbelastung durch die Pandemie?

Der Zeitpunkt kann jedenfalls kein Zufall sein. Bestehende Probleme wurden verstärkt. Die Corona-Krise demaskiert ein tieferes Problem, die Leistungslimite unseres Gesundheitssystems.

Wie läuft es denn derzeit im Spital?

Es ist genau das passiert, wovor Experten schon lange warnen – aber nicht gehört werden. Die Corona-Zahlen steigen, schnell, und ein gewisser Prozentsatz der kranken Leute wird schwer krank. Da braucht es nicht viel, und die Intensivstation ist voll.

Zeljkovics Partnerin kommt mit dem Telefon in den Garten: «Entschuldigung, es ist wichtig, Anästhesie …» Ein paar Minuten später kommt er zurück an den Tisch.

Eine Corona-Patientin?

Nein, ein anderer Fall. Solche Telefonate nach Dienstende gehören seit jeher zu meinem Job. Wie gesagt: Wir hätten auch so mehr als genug zu tun, da bräuchte es nicht auch noch Corona obendrauf. Nun ist die Intensivstation blockiert, alle Betten, die wir zur Verfügung haben, sind belegt. Vor einem Jahr, als die Pandemie anlief, hat der Bundesrat die elektiven Operationen gestoppt, um sich ganz auf Covid zu konzentrieren. Heute ist das anders, alle müssen irgendwie schauen, dass sie ihr Motörchen am Laufen halten können.

In Ihrem Leserbrief haben Sie geschrieben, die Leute seien «müde und ernüchtert». Was erleben Sie konkret, wenn Sie morgens zur Arbeit gehen?

Die Ernüchterung zeigt sich an einem gewissen Zynismus unter den Mitarbeitenden. Sie sind ungeduldig, ungehalten – und zwar querbeet.

Führt das zu Fehlern?

Ich glaube nicht, dass das direkt zu Fehlern führt. Aber das innere Feuer geht verloren. Wir alle, Pflegefachpersonen auf den Bettenstationen, im Notfall oder auf der Intensivstation – wir sind alles Leute, die extrem hohe Ansprüche an uns selber haben. Wir haben viel Zeit in eine anspruchsvolle und lange Ausbildung investiert, wir werden eher durchschnittlich entlöhnt, und jetzt rennen alle wie ein Hamster im Rad. Man kommt kaum mehr zum Notwendigsten, kann nicht so arbeiten, wie man es gelernt hat und gern machen würde. Wir wollen einen guten Job machen, aber wir können nicht. Mit der Zeit macht einen das fertig.

Was bleibt dabei auf der Strecke?

Man hat fast keine Zeit, die Patientinnen und Patienten zum Beispiel vernünftig zu mobilisieren; wir können die Leute nur rasch rasch abfertigen, haben keine Zeit, uns mal mit ihnen zu unterhalten. Als ich vor langer Zeit die Ausbildung absolvierte, redete ich stundenlang mit Patienten. Klar, das war auf einer Privatstation, in einer ganz anderen Zeit … Aber wir konnten da auf die Patienten eingehen, konnten uns auch um ihre Ängste und Sorgen kümmern.

Und heute?

Heute kann man nur noch sicherstellen, dass man die Medikamente nicht vergisst und dass niemand allzu starke Schmerzen hat. Wir rennen einer Ziellinie nach, die sich ständig verschiebt.

«Die Krankheitsverläufe sind nach wie vor völlig unberechenbar.»

Kürzlich zeigte die Rundschau Bilder davon, wie ein Covid-Patient auf der Intensivstation gedreht wurde. Das war sehr aufwändig, überall Schläuche, es brauchte viele Pflegekräfte, absolute Konzentration.

Genau! Covid-Patienten sind 24 Stunden am Tag anspruchsvoll. Auf der Intensivstation liegen Menschen, bei denen ein allgemeines Organversagen droht. Weil sie infektiös sind, müssen wir uns permanent schützen. Natürlich sind wir geimpft und müssten selber keine schweren Verläufe befürchten; aber wir müssen ja auch darauf achten, dass wir selber das Virus nicht weitergeben. Wir arbeiten im Vollschutz, mit Mantel, Handschuhen, Schutzbrille, FFP2-Maske – das ist physisch anstrengend. Nach einer Schicht auf der Intensivstation kommt man komplett verschwitzt raus und ist physisch wie psychisch erschöpft.

Heute wissen wir mehr über die Krankheit als vor einem Jahr. Hat das die Situation in den Spitälern nicht etwas entschärfen können?

Man weiss heute einiges mehr, ja, aber die Verläufe der Krankheit sind überhaupt nicht entspannter, sie sind nach wie vor verheerend. Die Leute zu behandeln, ist eine höchst anspruchsvolle Arbeit, technisch, medizinisch und physisch. Und es ist höchst frustrierend, weil die Krankheit häufig fatal endet. Das Durchschnittsalter der Patientinnen ist dramatisch gesunken, der Verlauf ist dramatisch ernst.

Drücken diese Schicksale beim Pflegepersonal zusätzlich auf die Stimmung?

Das macht einen fertig! Nicht viele Menschen finden es normal, dass ständig Menschen um sie herum sterben. Im Spital, auf einer Palliativstation, da gehört das dazu. Man versucht dann, den Menschen zumindest ein würdiges, schmerzfreies Ende zu ermöglichen. Aber was auf der Intensivstation mit Corona-Patienten passiert, das ist nicht normal. Da enden Leben, die noch lange weitergehen sollten, die Leute sterben uns unter den Fingern weg. Bei manchen Patienten glaubt man vielleicht irgendwann, es werde jetzt besser, man könne langsam ans Aufwachen denken – und am nächsten Tag geht es ihnen plötzlich wieder miserabel, und vielleicht sind sie wenig später tot. Die Krankheitsverläufe sind nach wie vor völlig unberechenbar. Mit dem Wissen, dass man diese Dramen verhindern könnte, macht es die Sache für uns schwierig.

Die Leute, die auf der Intensivstation liegen, sind nicht geimpft, oder?

Nein, laut Auskunft des Gesundheitsamtes sind es fast ausschliesslich Ungeimpfte.

Sind Sie wütend auf die Leute, die sich nicht impfen lassen?

Der Grossteil der Bevölkerung macht ja gut mit. Der andere Teil, der dieses Desaster mit verursacht, macht mich weniger wütend als sprachlos.

Was macht Sie sprachlos? Dass viele Leute nicht verstehen, was Sie im Spital sehen?

Ich könnte Ihnen viele Menschen mit Namen nennen, die behaupten, was ich im Spital erlebe, sei gelogen.

Ihr Leserbrief und Ihr Interview auf 20 Minuten, in denen Sie sagen, die Menschen könnten ja auch auswandern, wenn sie von einer Corona-Diktatur sprechen und sich nicht impfen lassen wollen, wurden hundertfach kommentiert. Was sagen die Leute?

Ich bekam sehr viele positive Rückmeldungen: Ich hätte etwas gesagt, was viele denken würden. Die Leute sagten, ich sei «mutig» – und das finde ich bedenklich. Man sollte in der Schweiz nicht mutig sein müssen, um so einen harmlosen Satz zu schreiben.

Die Stimmung in den Kommentaren war mitunter aggressiv. Man kann da beispielsweise lesen, Sie seien «menschenverachtend», es sei fraglich, ob Sie mit dieser Einstellung noch professionell arbeiten könnten.

Dabei hatte ich ja nur eine einfache Bitte: Helft, diese Entwicklung zu bremsen. Ich habe nie gesagt, man solle sich impfen lassen oder auswandern, das wird jetzt völlig verdreht.

«Dass wir wissentlich in ein Desaster laufen, ist einfach bitter.»

Wie die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli haben Sie aber auch gesagt, vielleicht müsste man sich irgendwann Privilegien für Geimpfte überlegen.

Wenn man davon überzeugt ist, dass wir uns mit dem Impfen aus diesem Schlamassel rauswinden können …

… und davon sind Sie überzeugt …

… dann muss man sich auch überlegen, wie man die Leute von einer Impfung überzeugen kann. Wenn sich Leute nicht impfen lassen und damit bewusst in Kauf nehmen, andere anzustecken, finde ich das persönlich unerhört. Wenn jemand sagt: Ich ernähre mich gut, ich bin auch sonst nie krank, für mich ist Corona keine Gefahr – dann mag das ja vielleicht sogar sein. Aber das heisst nicht, dass diese Menschen das Virus nicht trotzdem weitergeben. Das ist ja genau der springende Punkt.

Ihr Leserbrief und Ihr Video waren ziemlich direkt. Damit sind Sie eine Ausnahmeerscheinung, ansonsten hört man aus den Spitälern eher diplomatische Voten.

Über Covid zu kommunizieren, bedeutet vor allem, mühsame Botschaften zu vermitteln. Das ist nicht populär. Deshalb hört man ja auch von den Politikerinnen wenig bis nichts.

Weil sie wiedergewählt werden wollen?

Genau. Und auch ein Spital braucht Kundschaft. Das ist brutal, jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt. Im Gesundheitswesen herrscht ein mörderischer Konkurrenzkampf, niemand will eine Angriffsfläche bieten.

Was prognostizieren Sie für den weiteren Verlauf der Pandemie?

(lacht) Ich werde mich hüten, darauf zu antworten.

Immerhin geht die Impfquote in der Schweiz jetzt langsam hoch.

Die Frage wird sein, ob die Zeit reicht. Jetzt sitzen wir hier im Garten, haben tolles Wetter. Wenn die Impfquote aber nicht massiv steigt, bevor der Winter Einzug hält, werden die Infektionen mit der Delta-Variante explodieren. Ich bin wenig optimistisch, ehrlich gesagt sehe ich so schwarz wie noch nie.

In der ersten oder der zweiten Welle haben Sie keinen verzweifelten Aufruf gestartet.

Das hätte ja auch nichts gebracht. Damals hatten die Leute auch keine Möglichkeit, sich selber aus der misslichen Situation zu manövrieren. Heute wissen wir, dass die Impfung das Problem entschärft. Dass wir nun trotzdem wieder in ein solches Desaster laufen, macht die Sache so bitter.