Werner Bärtschi, ist klassische Musik politisch? Der Patron der Meisterkonzerte über Beethoven, Genie und Zeitgeist.
Pianist und Komponist Werner Bärtschi empfängt im Salon seiner Villa, der zugleich sein Arbeitszimmer ist, zum Tee. Über dem Flügel hängen zwei Porträts von Ludwig van Beethoven an der Wand. Bärtschi wird an den diesjährigen Meisterkonzerten Beethovens «Eroica» dirigieren. Wir nehmen die Aufführung des bahnbrechenden Werks aus den Zeiten der französischen Revolution zum Anlass für ein grenzübergreifendes Gespräch.
AZ Herr Bärtschi, haben Sie geruhigt im Alter?
Werner Bärtschi Ich bin zumindest langsamer geworden, das schon (lacht). Ob das Ruhe bedeutet, weiss ich nicht. Aber man verändert sich, ja.
Und künstlerisch sind Sie noch gleich aktiv?
Die Pandemie hat natürlich einiges gebremst. Aber mit dem Alter hat das nichts zu tun. Unsereins hört nicht auf. Ich bin zu 100 Prozent aktiv.
Sie komponieren auch noch.
Dieses Stück hier feiert am Freitag Uraufführung (Bärtschi zeigt auf einen der vielen Notenbogen, die sich auf dem Salontischchen häufen).
Der Werkkatalog auf Ihrer Website ist auf Stand August 2011.
Das hat wohl niemand nachgeführt, ich schaue meine Website nicht an.
Ich nehme an, Sie nutzen auch kein Facebook und andere sozialen Medien.
Man sagt mir zwar, ich sollte das machen, aber meiner unzeitgemässen Meinung nach verdummen die Leute dort ihre Zeit. Es wird so wahnsinnig viel kommuniziert, dass man keinen Überblick mehr hat. Die Informationen, die an uns gelangen, sind unüberprüft. Schlug man früher ein Brockhaus-Lexikon auf, konnte man ziemlich sicher auf eine gewisse Richtigkeit vertrauen. Heute weiss man ja nichts mehr.
Die Flut der Informationen im digitalen Zeitalter.
Ja, diese bewirkt, dass man nicht mehr findet, was man sucht.
Verweigern Sie sich der heutigen Zeit? Sind Sie auf Informationsstopp?
Nein, überhaupt nicht. Ich bin an vielen, vielen Informationen interessiert. An valablen Informationen. Der zuverlässigste Weg, Auskunft über eine Sache zu bekommen, ist, wenn sie jemanden kennen, der etwas davon versteht.
Lesen Sie Zeitung?
Ja, ich lese Zeitung. Aber diese gibt mir keine Auskunft über meine Fragen. Ich interessiere mich nicht für das Tagesgeschehen in der Weltpolitik, was soll ich damit. Meine Fragen lauten anders. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir hatten vor einer Woche ein Jubiläumskonzert von Rezital, das ist eine Konzertreihe, mit der ich vor 40 Jahren angefangen habe. Zum Anlass spielte ich 40 kurze Stücke aus 400 Jahren. Über eines recherchierte ich lange nach, aber ich fand über Google und die bekannten Kanäle nicht heraus, wie die Melodie eines jahrhundertealten Volksliedes im Original lautete.
Sie sagten, das Tagesgeschehen interessiere Sie nicht?
Goethe hat geschrieben: «Die Menschen, da sie zum Notwendigen nicht hinreichen, bemühen sich ums Unnütze.» Die Leute ereifern sich über ein Weltgeschehen, zu dem sie nichts beitragen können. Aufgeregt die Neuigkeiten von heute zu verfolgen, das führt zu nichts.
Na ja, man kann sein Denken und Handeln danach richten. Haben Sie da nicht eine etwas egozentrische Sicht auf die Welt?
Das finde ich nicht. Es ist die Aufgabe eines Menschen, seine Rolle in der Gesellschaft nach bestem Gewissen auszufüllen. Sie müssen richtig handeln. Dazu haben sie keine andere Möglichkeit, als Ihren Verstand und Ihre Gefühle zu befragen, was richtig ist.
Was ist Ihre Rolle auf der Welt?
Musiker, hauptsächlich bin ich Musiker. Ich bin aber auch Familienvater, Ehemann und vieles weitere. Ich habe mit vielen Menschen zu tun. Und wie ich mich da verhalte, das zählt.
Sie sind Künstler mit Haut und Haar.
Ja, natürlich. Wissen Sie, beim Komponieren gibt es etwas, das stärker ist als ich, und das ist die Musik selbst. Es ist, als ob die Noten und Klänge einen eigenen Willen hätten, und ich versuche, dem zu folgen. Und ich glaube, dass es Mozart auch so machte. Und Bach auch.
Haben Sie fast schon den Drang, Ihr eigenes Genie gegen äussere Einflüsse zu schützen?
Ich denke nicht viel über mein eigenes Genie nach (lacht). Aber es ist natürlich so: Man muss schon schauen, dass man sich abschirmen kann. Ich sehe, wie sich Menschen von Äusserlichkeiten in einer Art und Weise umtreiben lassen, dass ich denke, das ist ja birreweich. Ich bin keiner, der von der Realität wegschaut. Aber das kann ich Ihnen nur raten: Halten Sie sich an sich selber.
Beethoven hat sich in seinem Schaffen auch stark vom Weltgeschehen leiten lassen.
Ja, ja. Er hatte seine Ideale, die habe ich auch. Er war ausgesprochen politisch engagiert. Beethoven ist Jahrgang 1770. Als die französische Revolution losging, war er 19 Jahre alt. Das hat einen Zusammenhang. Ich bin ja 71 Jahre alt. Ich würde nicht mehr auf die Barrikaden steigen und eine Revolutionssonate komponieren. Nein, nein. Im Übrigen hat das auch Beethoven abgelehnt. Man fragte ihn an, eine Revolutionssonate zu komponieren und er erwiderte, ob die Leute eigentlich schwachsinnig seien.
Wieso?
Beethoven ist keiner, der so einen Blödsinn macht. Damit kann man einen Musiker nicht ernsthaft beauftragen. Beethoven war zwar überzeugt, dass die französischen Armeen die neuen Gedanken in die Welt tragen werden. Er merkte allerdings schnell, dass im Krieg Gedanken plötzlich sehr wenig wert sind. Aber natürlich gibt es auch politische Anekdoten. Wie bei Beethovens Eroica, die wir nun an den Meisterkonzerten zur Aufführung bringen.
Wie geht die Anekdote?
Man sagt, Beethoven hätte die Eroica für Napoleon komponiert. Als er aber erfahren habe, dass dieser sich zum Kaiser krönen liess, sei er wütend geworden. Er habe den Eintrag auf dem Titelblatt, der wahrscheinlich eine Widmung war, ausradiert. So heftig, dass es ein Loch gab im Papier. – Eine schöne Anekdote, vielleicht ist sie wahr. Allerdings hat die Eroica auch musikalisch einen ausgesprochenen Weltbezug. Es gibt ein interessantes Ratespiel: Wenn Sie das Radio anschalten und ein Musikstück läuft, können Sie normalerweise nicht sagen, ob dieses gerade angefangen hat oder auf das Ende zugeht. Bei Beethoven ist es anders. Seine Stücke machen einen Weg, es gibt einen Anfang und ein Ziel. In der Eroica steckt die Botschaft: Es wird etwas. Es wird anders werden. Und der letzte Satz der Sinfonie ist auch typisch für Beethoven. Wenn es auch ein strategischer Fehler ist, den er da macht, wie ich finde. Das darf ich aber nicht zu laut sagen (lacht).
Welchen Fehler?
Der Fehler besteht darin, dass Beethoven sich zu lange damit beschäftigt, sich über das Ergebnis zu freuen. Das ist, als würden Sie in einem Roman nach dem Happy End noch ein paar Kapitel anhängen und weiter davon schwärmen. Vor allem sagt Beethoven aber am Ende der Eroica eben dies: Es wird jetzt alles. Man kann das, wenn man will, politisch verstehen. Aber es geht doch darum: Musik sagt etwas, das nur Musik sagen kann. Und wir Musiker sind hoffentlich hauptsächlich mit den Noten, mit der Musik im Tun. Natürlich kann man sagen, das sei ein egozentrisches Weltbild, aber so ist es halt.
Es gibt aber auch klassische Musiker wie Igor Levit, die politisch sehr aktiv sind. Levit engagiert sich gerade im Wahlkampf für die Grünen in Deutschland. Eine solche Dringlichkeit spüren Sie nicht?
Nein, die spüre ich überhaupt nicht. Ich kenne Igor Levit nicht persönlich. Ich habe nur einmal eine Aufnahme von ihm gehört. Levit ist dank solcher Aktionen auch sehr schnell sehr bekannt geworden. Er ist ein Kollege und muss selbst wissen, was er tut. Daniel Barenboim ist Ihnen sicher ein Begriff?
Ich glaube nicht.
Er gründete ein Orchester aus Palästinensern und Israeli, weil er gegen die Antagonie der zwei Parteien ist. Das ist mutig, und ich bin überzeugt, dass er es aus einem ehrlichen Engagement heraus macht, was ich bei Herrn Levit auch annehmen darf. Aber man redet mir nicht ein, dass ein Mensch nicht weiss, was für eine öffentliche Wirkung er mit solchen Aktionen erzielt. Nehmen wir den Fall eines Komponisten, der schon gestorben ist: Dmitri Schostakowitsch. Wenn man über Schostakowitsch redet, dann immer über seine Lebensumstände. Er wurde schnell berühmt, aber auch angegriffen als Klassenfeind. Seine Sinfonien seien bürgerlich – was bitte ist eine bürgerliche Sinfonie? Jedenfalls, er musste sich ducken und hat in Angst und Schrecken gelebt, war dann aber auch wieder erfolgreich. Was mir dabei auffällt: Schon damals und noch heute wird seine Musik durch seine politische Haltung erklärt. Und ich kann vielleicht ein Statement machen: Ich wünsche mir, dass man meine Musik nicht aus meinen Lebensumständen erklärt. Meine Musik ist meine Musik. Und als solche übt sie ihre Wirkung aus, über die man vielleicht streiten kann, aber sie soll von vordergründigen Kämpfen verschont sein.
Aber es ist bestimmt wichtig, sich als klassischer Künstler oder Künstlerin ein Image zu schaffen, wenn man Erfolg haben will?
Ich mache das nicht. Aber es gibt viele, die das probieren, ja.
Sie haben auch ein extravagantes Image mit Ihrem Bart und Ihrer wallenden Kleidung.
Ich habe einen Bart, weil Haare halt wachsen (lacht). Jeder Mann hat ja eigentlich einen Bart.
Wie wichtig ist Ihnen der Bart?
Ich denke nicht über ihn nach.
Man spricht und schreibt über Sie als Naturgewalt, als Gesamtkunstwerk.
Ich mache nur, was ich normal finde.
Ernsthaft: Muss man sich exzentrisch geben, um Erfolg zu haben? Es fällt ja schon auf, wie klassische Künstler und Künstlerinnen sich inszenieren: Barfuss, leicht bekleidet, sinnlich, verschroben.
Auf irgendeine Art muss ein Künstler oder eine Künstlerin ein Charisma haben. Ich glaube, dass ein Mensch, der sich innerlich von Zwängen befreit hat, in der Regel ein gewisses Charisma hat. Wahrhaftigkeit hat viel Überzeugungskraft. Man kann das Charisma versuchen einzustudieren, da bin ich sehr dagegen. Das bedeutet, die Lüge zum Prinzip zu erheben.
Besteht ein starker Druck auf das Persönliche in der Klassikbranche?
Das betrifft gerade junge Kolleginnen, ja. Wie sie glauben, sich aufmachen zu müssen, und auch dazu gedrängt werden. Das ist ein gewisser gesellschaftlicher Druck. Oder ein biologischer Druck, wenn man so will, Frauen wurden von der Natur zu etwas Schönem gemacht, sie wollen und sollen gefallen.
Bleiben wir beim gesellschaftlichen Druck. Die Filmbranche und auch die Theaterbranche wurde mit der Metoo-Debatte in Ihren Grundfesten in Frage gestellt. Findet das in der Klassik nicht statt?
Es gibt immer wieder vereinzelte Fälle. Ich kenne Beispiele, die sind haarsträubend. Dirigenten, die Musikerinnen drohen. Aber es ist natürlich eine Grauzone: Was ist Machtmissbrauch, was der natürliche Gang der Dinge. Macht ist sexy.
Wie patriarchal ist die Klassikbranche?
Im Vergleich zum Jazz oder Pop ist die Klassikbranche heilig. Es besteht hier eine völlige Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Finden Sie das ernsthaft?
Ja, ja. Aber es gibt natürlich Führungspositionen, die immer noch vor allem Männer innehaben. Aber es ist sehr im Tun.
Wie hat sich die Klassikbranche allgemein verändert?
Meiner Meinung nach leidet die Klassikbranche nur unter einem: nämlich daran, dass das Denken in Events Einzug gehalten hat. Es mag auch früher schon mal so gewesen sein. Beethoven hat zum Beispiel eine Schlachtensinfonie mit Kanonenschüssen und grossem Tamtam für den Wiener Kongress komponiert, das war relativ opportunistisch (lacht). Ich halte nicht viel von sogenannten Events. Das Stars in Town zum Beispiel, das ist ja überhaupt nur Event. Ich möchte in Zweifel ziehen, dass die Leute dahin gehen, um Musik zu hören.
Und in der Klassik geht die Tendenz auch in Richtung Eventisierung?
Es kommt vor. Und die Presse ist daran nicht unschuldig, wenn sie über Konzerte schreibt: Dies oder das sei das kulturelle Ereignis des Jahres. Entschuldigung, aber das ist hirnrissig.
Etwas wollte ich Sie noch fragen, Herr Bärtschi. Sie sagten mal in einem Interview, es wäre für Sie absurd, in die Ferien zu verreisen. Ist das immer noch so?
Ja, das ist immer noch so. Ich arbeite 365 Tage im Jahr und ich gedenke, das weiterhin zu machen.
Absurd also, weil Sie immer in der Nähe Ihres Klaviers sein wollen?
Ja, natürlich, ja. Hat das nicht Konfuzius gesagt? Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben zu arbeiten.
Ist das bei Ihnen so?
Das ist so, ja. (Überlegt) Ich glaube, das steht bei Konfuzius, ich bin nicht sicher.
Ich überprüfe es später noch.
Konfuzius hat viele Bücher geschrieben, ich weiss nicht, wo man das findet.
Ich werde im Internet danach suchen.
Es wäre besser, Sie würden Konfuzius’ Ausgaben nach der Stelle durchsuchen. Dann haben Sie gleich noch ein Buch gelesen (schmunzelt).
Das wird leider nicht möglich sein. Bei meiner Arbeit ist es etwas anders. Ich habe dafür keine Zeit.
Sie sind so frei im Leben, wie Sie es sein wollen. Man ist schlecht beraten, wenn man sich immer von den wirtschaftlichen Notwendigkeiten unter Druck setzen lässt. Viel mehr ist möglich. Und ich bin nicht aus reichem Haus. Dieses schöne grosse Haus hier habe ich, weil ich es brauche. Hier stehen meine Flügel, und alle Räume sind voll mit Noten.