Release the Beast

30. August 2021, Luca Miozzari
Hier versucht man die Wutach zu befreien: Gewässeraufseher Roland Schwarz zeigt frische Baggerspuren.
Hier versucht man die Wutach zu befreien: Gewässeraufseher Roland Schwarz zeigt frische Baggerspuren.

Der wütendste Fluss der Region darf endlich aus seinem steinernen Käfig. Stellenweise.

Die Wutach ist der wohl missverstandenste Fluss im Kanton. Und daran ist sie selbst sicher nicht ganz unschuldig. Sie hat ein gewisses Temperament, wird schnell aufbrausend. Unterhalb der Wehranlage beim Kraftwerk Wunderklingen bei Hallau liegen Dutzende von Bäumen, die der Fluss während der Regenfälle im Juli angespült hat – mehrere Meter über dem aktuellen Pegel. Bei Hochwasser führt die Wutach schnell das Zehn- bis Zwanzigfache seiner normalen Wassermenge. Man kann nachvollziehen, wieso unsere Vorfahren das Gewässer hier Wutach genannt haben, statt wie im Südschwarzwald, oberhalb der berühmten Schluchten: Gutach. Doch die sprichwörtliche Wut dieses Flusses ist zugleich seine beste Eigenschaft. Für die Natur und letztendlich auch für den Menschen.

Die Sauschwänzle-Begradigung

Um das zu kapieren, haben wir lange gebraucht. Noch vor 130 Jahren war die Wutach ein mäandrierender Strom mit etlichen Nebenarmen und Tümpeln, in denen es von Leben nur so gewimmelt haben muss. Er beanspruchte die gesamte Talsohle. Heute zeugt davon nur noch eine alte Karte auf einer Infotafel, gezeichnet ums Jahr 1845. Der Wutach ist widerfahren, was hierzulande vielen Fliessgewässern passiert ist. Der Mensch hat versucht, sie zu zähmen, ihnen Land abzutrotzen. Einerseits für die Landwirtschaft und in diesem konkreten Fall wohl vor allem zugunsten der strategisch wichtigen Sauschwänzlebahn, deren Trassee, heute weitgehend ungenutzt, parallel zur schnurgeraden Wutach verläuft. Doch das schmale Korsett aus Granitblöcken und hohen Schutzwällen, welches in den 1890er-Jahren gebaut wurde, hat den Fluss nur noch wütender gemacht.

Gewässeraufseher Roland Schwarz holt uns in einem der weissen Tiefbauamt-SUVs ab. Es ist seine letzte Woche vor der Pensionierung. Entspannt nimmt sich der Hallauer einen ganzen Morgen Zeit, um uns eines der Herzensprojekte seiner Karriere beim Kanton zu zeigen. Die Befreiung des Biests im Wutachtal.

An dieser Stelle ist die Wutach ein schnurgerader, monotoner Strom. Das ist seit 130 Jahren so und wird sich wohl nie ändern.
An dieser Stelle ist die Wutach ein schnurgerader, monotoner Strom. Das ist seit 130 Jahren so und wird sich wohl nie ändern.

Törchen auf und anstupsen

Unsere erste Station heisst Wunderklingen und liegt jenseits des Hügels, nordöstlich von Hallau. Hier wurden in diesem Sommer 330 Meter Flussufer mit Baggern bearbeitet. Auf beiden Seiten der Landesgrenze, die in der Mitte der Wutach verläuft. Die Spuren der jüngsten Revitalisierungsmassnahme sind noch ganz frisch. «Hier haben sie einen Löffel rausgenommen», sagt Roland Schwarz, und zeigt auf eine baggerschaufelförmige Ausbuchtung am Flussufer. Diese soll dem Fluss helfen, das Ufer zu erodieren. Denn die eigentliche Revitalisierung kommt erst nach den Baggern. Und sie dauert Jahre.

«Der Fluss muss sich sein Land selbst zurückholen», sagt Schwarz. Die Aufgabe des Menschen sei es lediglich, die richtigen Voraussetzungen zu schaffen. Im Fall der Wutach war der erste Schritt das Entfernen der Steinblöcke und Betonelemente, welche das Ufer befestigten. Damit öffnet man den Käfig. Dann braucht es nur noch ein paar Stupser und schon erwacht das Biest zum Leben. Das Anstupsen geht, stark vereinfacht ausgedrückt, so: Man schmeisst diverse Dinge in den Fluss. Tote Bäume zum Beispiel, das nennt man dann eine Baumbuhne. Sie verwirbelt und verlangsamt den Fluss des Wassers. Es entsteht ein sogenanntes Hinterwasser, was kleinere Fische lieben. Oder man schmeisst Steine und Kies in den Fluss. Macht man das an beiden Ufern, nennt sich das Trichterbuhne. Sie sorgt für eine Vertiefung in der Mitte des Flusses, was wiederum lokal zu einer geringeren Fliessgeschwindigkeit führt. Auch das freut die Fische.

«De Fluss chaflet und macht und tuet.»

Roland Schwarz

Von Mordor zum Auenland

Oder, und das ist die wohl spannendste Massnahme, man schüttet nur an einem Ufer eine mit Steinen befestigte Kiesbuhne auf. Im Fall Wunderklingen hat man das auf der deutschen Seite gemacht. Der Effekt ist bereits ansatzweise sichtbar. Der Fluss «chaflet und macht und tuet», wie es Roland Schwarz ausdrückt. Weil das Wasser ja irgendwo durchmuss, frisst es sich auf der Schweizer Seite landeinwärts. Das ist gewollt. Denn die Gemeinde Hallau hat dem Kanton extra zu diesem Zweck einen 3000 Quadratmeter grossen Uferstreifen zur Verfügung gestellt. Je mehr Wasser die Wutach herunterfliesst, desto näher kommt man hier in Wunderklingen dem Naturzustand: ein breites, flaches Bachbett mit Seitenarmen und Weihern, unterspülte Baumwurzeln, Wasserpflanzen – eine echte Auenlandschaft.

Dass das funktionieren kann, zeigt sich ein paar Kilometer flussaufwärts zwischen Stühlingen und Schleitheim. Auf Schweizer Seite wurde die Wutach hier bereits vor sechs Jahren aus ihrem steinernen Korsett befreit und renaturiert. Am deutschen Ufer ist man gerade dabei, nachzuziehen. «Jeder Geologe wäre entzückt, wenn er diese Vielfalt von Gesteinsarten sehen würde», sagt Schwarz, während wir über das von Humus befreite Schotterbett schlendern, das sich hier über Jahrtausende aufgeschichtet hat. Er reisst ein paar Springkraut-Pflanzen (Neophyten!) aus und zeigt auf eine alte, abgestorbene Ulme am Ufer etwas flussabwärts, die bereits viel Boden unter den Wurzeln verloren hat und sich neigt. «Die wird bald ins Wasser kippen, das ist gut», sagt Schwarz. Eine Gratis-Baumbuhne quasi.

Und hier hat es bereits funktioniert: Wutach bei Oberwiesen, revitalisiert vor sechs Jahren.
Und hier hat es bereits funktioniert: Wutach bei Oberwiesen, revitalisiert vor sechs Jahren.

Eine kalte Feuerstelle auf dem Kies zeigt: Den Schlaatemern gefällt ihr neu gewonnener Naturraum. Und der Fauna und Flora erst recht. Den Weiden, Erlen, Stieleichen, Klettendisteln, den Bibern, Ringel- und Schlingnattern, Feuersalamandern, Eisvögeln und Wasseramseln. Konkret mit Zahlen belegen lässt sich der Erfolg der Renaturierung etwa bei den Bachforellen. Die Anzahl Laichgruben ist im renaturierten Bereich 24-mal höher als im nicht renaturierten Abschnitt.

Kein Grund, sich zu beruhigen

Als wir wiederum ein paar hundert Meter flussabwärts zu unserer letzten Station an diesem Morgen fahren, sehen wir auch sofort, wieso. Hier, auf Höhe des Gipsstollens und des Zivilschutzzentrums, fliesst die Wutach monoton durch ein schmales, mit Steinblöcken befestigtes Flussbett, wie sie es für die vergangenen 130 Jahre getan hat. «Wenn der Fluss sich nicht ausbreiten kann, fehlt das durch Erosion eingebrachte, lockere Kiessubstrat. Dann haben die Fische keine Chance, ihren Laich in der verdichteten Flusssohle zu vergraben», sagt Schwarz. Und das wird hier leider auch auf unbestimmte Zeit so bleiben. Denn es gibt nicht ganz unbegründete Befürchtungen, dass sich die Wasserqualität des Pumpwerks nebenan verschlechtern könnte, wenn man den Fluss aus seinem Gefängnis befreien würde.

Und so muss man, allen Bemühungen zum Trotz, konstatieren, dass die Wutach immer noch allen Grund hat, wütend zu sein.