Sie leben in Schaffhausen, haben verschiedene Jobs und Interessen. Was sie eint: die Sorge um ihre Familien in Afghanistan. Drei Angehörige schildern, wie sie damit umgehen.
Kamila Qasimi, 27
«Wenn ich Ihnen sage, dass meine Familie okay ist, dann meine ich: Sie sind am Leben.»
Ich stehe unter Schock. Es ist nicht einmal die Sorge darum, dass die Taliban jetzt in Kabul sind, dass sie die Regierung übernommen haben oder dass Frauen nicht mehr tragen dürfen, was sie wollen. Meine grösste Sorge ist: Was essen die Leute jetzt? Mein Vater ist Lehrer, er hat seinen Lohn bisher von der Regierung erhalten. Jetzt fehlt der Lohn seit zwei Monaten. Ich bin ab und zu in Kontakt mit meiner Familie, wenn gerade eine Verbindung möglich ist. Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass meine Familie okay ist, dann meine ich damit nur: Sie sind am Leben. Aber ich kann sie nicht fragen, ob sie zu essen haben. Was würde ich tun, wenn nicht?
Ich lebe seit 2019 in Schaffhausen, mit meinem Mann und unserer Neugeborenen, sie ist eineinhalb Jahre alt. Eigentlich sollte ich mich sicher fühlen. Aber nur mein Körper fühlt sich sicher, mein Geist nicht. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich noch sehr klein war, vielleicht fünf Jahre alt. Ich wollte für meine Familie Wasser von einem Brunnen holen, wir hatten im Haus keines. Es war schon etwas dunkel. Dann kam eine Gruppe Männer auf mich zu und forderte mich auf, sofort nach Hause zu gehen und um diese Uhrzeit nicht mehr draussen zu sein. Es war die Zeit zu beten. Ich war so klein, aber manchmal denke ich noch an diese Situation und stelle mir vor, wie die Taliban plötzlich unsere Wohnung stürmen könnten. Aus welchem Fenster würde ich flüchten? Wenn mein Mann nicht zuhause ist, verlasse ich die Wohnung eigentlich nicht. Hier kann ich kochen und putzen und meine Tochter stillen, ich habe Kontrolle. Ich weiss nicht genau, warum das so ist. Aber ich musste deswegen auch aufhören, die Nachrichten über Afghanistan mitzuverfolgen. Es hat zu viel mit mir gemacht. Mein Körper hat keine Milch mehr produziert, obwohl ich wirklich viel gegessen hatte. Mein Mann sagte, ich solle mich von Facebook fernhalten – es nützt meiner Familie nichts, wenn ich mich sorge, aber meine Tochter braucht zu trinken.
Besonders die Frauen haben Angst. Meine Schwester hatte im Ausland Ingenieurwissenschaften studiert und kehrte nach Afghanistan zurück in der Hoffnung, dort gute Arbeit zu finden. Wenn ich sie jetzt frage, ob sie nach draussen gehen kann, sagt sie: Ich habe die Tür geöffnet und nachgeschaut, dann bin ich zurück ins Haus gegangen. Die Angst ist zu gross. Es gibt immer wieder Nachrichten, dass die Taliban Frauen von zuhause mitnehmen, egal ob sie verheiratet sind oder nicht. Vor einiger Zeit hat sie ein Foto von einer wunderschön gekleideten afghanischen Frau gepostet und darunter geschrieben: «Once upon a time in Afghanistan». Als ich das las, habe ich die Kälte unter meiner Haut und in meinem Herz gespürt.
Was ich Ihnen sagen will, ist das: Man darf den Taliban nicht glauben, dass sie sich verändert haben. Zwei Jahrzehnte lang haben die Menschen ein wenig Demokratie erfahren, und die Taliban waren in den Bergen und planten, wie sie sie töten sollen. Die internationale Gemeinschaft muss sie stoppen.
Nawroz Nadiri, 32
«Alles, was sich die Bevölkerung in den letzten 20 Jahren aufgebaut hat, ist innert einem Monat zerstört worden.»
Ich will hier nicht mit Foto erscheinen. Die Taliban dürfen nicht wissen, dass ich in der Schweiz lebe. Menschen aus westlichen Ländern verstehen oft nicht, wie wichtig das ist. Aber ich komme aus Afghanistan und habe die Situation dort erlebt.
Jetzt verfolge ich die Entwicklungen dort über internationale Medien: BBC, France 24, die Deutsche Welle. Ab und zu spreche ich mit meinem Vater. Er lebt mit meiner Mutter, meinem Bruder und dessen Familie in Jaghori in der Provinz Ghazni. Er sagt, dass die Taliban im Dorf neue Regeln aufgestellt haben: Wer zuhause eine Waffe hat – das ist normal in Afghanistan, nach so vielen Jahren Krieg –, muss diese aushändigen. Und alle müssen zehn Prozent ihres Einkommens abgeben, eine Art islamische Steuer. Die Schulen sind geschlossen. Viele gehen nach Pakistan, mein Onkel ist schon dort. Mein Vater sagt, er will bleiben; das verstehe ich, er ist 66 und hätte im Ausland keine Arbeit. Ich würde sie gerne unterstützen. Da ich gerade die Ausbildung zum Elektriker mache, ist das aber nicht möglich. Und ja, natürlich beschäftigt mich ihre Situation. Aber ich kann nichts tun, deshalb bringt es nichts, wenn ich mir zu viele Sorgen mache. Immerhin sind meine Schwestern nicht mehr in Afghanistan, sie leben in Bosnien.
Niemand hat damit gerechnet, dass die Taliban so schnell die Macht übernehmen. Meine Mutter und mein Bruder sind erst vor Kurzem nach Kabul geflüchtet, weil sie davon ausgingen, dass die Taliban dort erst etwa in einem Jahr sein werden. Schon nach einer Woche kamen sie zurück nach Jaghori. Manchmal glaube ich, dass selbst die Taliban von ihrem Erfolg überrascht waren. Wie wollen sie jetzt ein Land regieren? Sie sind ideologisch getriebene Kämpfer, aber wenn es darum geht, eine Strasse zu bauen, haben sie keine Ahnung.
Für Afghanistan habe ich meine Hoffnungen aufgegeben. Das wird kein sicheres Land mehr. Die Toten, die all diese Kriege produziert haben, sie bedeuten nichts mehr. Es sind nur noch Zahlen, aber Menschen sind keine Zahlen. Die Zivilbevölkerung hat alles verloren; alles, was sie sich in den letzten 20 Jahren aufgebaut hat, ist innert einem Monat zerstört worden. Auch die Zukunft sehe ich düster, nicht nur für Frauen, auch für ethnische Minderheiten wie die Hazara. Und nicht nur für Afghanistan, sondern für die Welt. Ein ganzes Land in Händen von Terroristen – mit einer solchen Infrastruktur können sich Attacken wie jene vom 11. September 2001 wiederholen. Der Abzug der amerikanischen Armee war ein Fehler.
Hasti Salehi*, 25
«Erfahren die Taliban, dass meine Brüder im Militär waren, bringen sie sie um. Da bin ich mir sicher.»
Seit Ende Juli habe ich nichts von meiner Familie gehört. Meine Eltern und Geschwister leben alle in der Stadt Scheberghan, im Norden. Die Taliban haben sie vor zwei Wochen eingenommen. Jetzt weiss ich nicht einmal, ob meine Verwandten noch leben. Besonders gross ist die Angst um meine kleine Schwester. Ich habe gehört, dass die Taliban dazu aufrufen, ein rotes Kreuz an die Haustür zu machen, wenn eine Familie ein Mädchen bei sich hat. Dann nehmen sie es mit. Das ist einfach schrecklich.
Zwei meiner Brüder waren im afghanischen Militär, um Geld zu verdienen. Wenn die Taliban das erfahren, werden sie ihnen oder unseren Eltern etwas antun. Da bin ich mir sicher, sie bringen alle um. Die Situation in der Stadt meiner Eltern ist mega schlimm. Es fallen immer wieder Bomben. Manchmal erhalte ich Nachrichten von meinem Onkel, der im Iran lebt, oder Videos. Die Taliban laufen mit Waffen durch die Strassen, schiessen wild umher, zünden ganze Häuser an. Auch wenn sie sagen, dass sie keinen Krieg wollen, ich glaube ihnen das nicht.
Obwohl ich in Schaffhausen bin, obwohl ich in Sicherheit bin: Ich weine die ganze Nacht, sobald meine kleine Tochter im Bett ist. Sie ist sechs Jahre alt, ich erziehe sie allein. Sie soll nichts von alldem erfahren. Aber meine Traurigkeit zu verstecken, ist schwierig. Morgens bringe ich sie in die Kita, weil ich die Ausbildung zur Coiffeuse mache, ich bin im zweiten Lehrjahr. Bei der Arbeit versuche ich die ganze Zeit zu reden, weil ich der Kundschaft meine Sorgen nicht zeigen will. Abends hole ich meine Tochter ab, koche für sie, bringe sie ins Bett. Dann drehen die Gedanken, und ich wünsche mir, dass meine Familie sicher ist.
(Anm. d. Red.: Nach dem Gespräch erreicht Hasti Salehi ihren Bruder über das Handy der AZ-Journalistin. Alle sind am Leben. Sie wollen demnächst in den Iran flüchten.)
*Name geändert