Alles ziemlich legendär

21. August 2021, Marlon Rusch
Selfies mit den Yakins im VIP-Bereich
Selfies mit den Yakins im VIP-Bereich

Der FC Schaffhausen feiert Jubliäum: 125 Jahre. Die Feierlichkeiten waren ein Spiegel der aktuellen Verfassung. Da ist noch Luft nach unten.

Grad bescheiden treten sie im Herblingertal ja nicht auf. Am Wochenende feierte der FC Schaffhausen sein 125-jähriges Bestehen und lud zum grossen «Legendentag». Im Zentrum der Veranstaltung stand das ­«Legendenspiel»: «FCS-Legenden» gegen «Pistoleros» (ein «Allstar»-Team). Wir würden gar ein «legendäres Legendenspiel» erleben, erklärte Stadionspeaker Ronny Bien kurz nach Spielbeginn.

Höchste Zeit, sich dem Wort aus linguistischer Perspektive anzunähern.

Legende, die: eine mit dem Märchen verwandte literarische Gattung, in der historische Ereignisse durch spätere Hinzufügungen überhöht und/oder verfälscht wurden.

Ein kleiner Bschiss also. An diesem Samstagnachmittag im FCS-Stadion im Herblingertal reift unter der brütenden Hitze aber vielmehr der Verdacht, dass sich die Verantwortlichen hier selber etwas vormachen. Da wird die eigene Geschichte überhöht, dabei wäre die bessere Richtung eine andere: abwärts.

Kurz nach 16 Uhr eile ich schwitzend zum Stadion, am Eingang beim «Legenden Check-In» lehnt ein sichtlich entspannter Gürkan Sermeter lässig an einer Mauer. Kein schlechtes Warm-up.

Dann schnell weg vom Pöbel, hinein in den Bauch des Stadions, den VIP-Bereich, wo Präsident Roland Klein gerade eine Ansprache hält, umringt von wichtigen Leuten (und solchen, die für 99 Franken ein VIP-Ticket gekauft haben). Er verdankt altgediente Mitglieder: Pfenninger, seit 1954 dabei, Thoma, seit 1958, heute noch Videoanalyst. Klein verweist auf einen Dok-Film, der bald erscheinen soll. Und auf den Golftag vom 3. September. Golf also – man will hier nicht der Club der kleinen Leute sein.

«Ihr gsehnd, es git en huufe, zum sich vergnüege», ruft Klein, das Zeichen, dass man jetzt Selfies machen kann mit den Yakins, mit Muri, dem neuen Natitrainer, im «Legende»-Shirt.

Bankchef Beat Stöckli und seine Leute vom Hauptsponsor Ersparniskasse sind vor Ort; Karin Spörli, die graue Eminenz der Schaffhauser Kommunikationsbranche spült Gläser beim Ausschank; die Torhüter der ersten Mannschaft servieren Falkenbier und Schinkengipfeli, der Adonis Francesco Ruberto mit wallenden Haaren, der Jungspund Amir Saipi. Gut gelaunt ruft er «Präsidentä, öppis trinke?» zu den Stadträten Rohner und Neukomm. Ersterer trägt als einziger Mensch weit und breit eine Krawatte, zweiterer witzelt, er könnte heute eigentlich auch auf dem Feld stehen, schliesslich habe er mit dem FC Kantonsrat der Frauennationalmannschaft einst eine bittere Niederlage zugeführt (was noch zu überprüfen wäre).

Eine echte Legende: Kurt Grünig, FCS-Spieler ab 1948
Eine echte Legende: Kurt Grünig, FCS-Spieler ab 1948

An einem Tisch sitzen dann tatsächlich Legenden. Es stellt sich vor: Kurt Grünig, der älteste noch lebende FCS-Spieler, erste Saison 1948. Er hätte gern ein kühles Bier, dann erzählt er. Die höchste Prämie, die er je erhalten habe, seien 80 Franken gewesen, «zwei Monatsmieten!» Schon damals habe man auf der Breite gekickt, und schon damals hätten die anderen Mannschaften über das Breitestadion gelacht. Aber egal. «Dafür waren wir eine Familie. Wenn einer umgezogen ist, hat die ganze Bande geholfen.» Heute hätten die «Buben» eine ganz andere Einstellung, es gehe nur noch ums Geld. Schade…

Ein Mann erzählt, er habe sich mal nach einer Handvoll Cuba Libre überreden lassen, dem Club 50 beizutreten (der seriösen Variante der Pistoleros, ­einem offenbar schiesswütigen anonymen Unterstützergrüppchen, das auch das heutige «Allstar-Team» gesponsert hat).

Spekulationen über die Nachfolge von Trainer Murat Yakin. Vielleicht werde der Verband Bruder Hakan beim zweiten Anlauf ja das erforderliche Trainerdiplom aushändigen. Beim FCS sei zwar einiges undurchsichtig, sagt er, «aber besser so als gar nichts».

Ständerat Hannes Germann kommt dazu, ein Mann mit FCS-Vergangenheit. Er grüsst links und rechts, ein lockeres Heimspiel. Währenddessen sitzt der Sohn des Cuba-­Libre-Mannes etwas verloren daneben. Er wollte unbedingt herkommen, um Jogi Löw zu sehen, vielleicht ein Foto mit ihm zu machen im VIP-Bereich. Der ehemalige deutsche Nationaltrainer war angekündigt für den Legendentag, wie auch Champions-League-Sieger-Trainer Roberto Di Matteo. Doch beide tauchten nicht auf, genau wie Rolf Fringer und Alex Frei.

Ziemlicher Etikettenschwindel, ein Fall sogar für den Konsumentenschutz? Oder hat man sich da einfach ein wenig übernommen in der Organisation? Zu gross gedacht?

FCS-Legenden beim Warmup
FCS-Legenden beim Warmup

Dann beginnt das Legendenspiel. Ich will mit Kurt Grünig auf die Tribüne, doch die Legende bleibt sitzen. «Do gangi sicher nid ine. Wenn wieder ein abliit, obwohler nüt het – da chani nüme mitaluege.»

Auf dem Platz wärmen sich die Silberrücken derweil bereits auf. Dann wird der abgehende Trainer Murat Yakin geehrt, die Legenden stehen Spalier, Muri bekommt eine Collage überreicht. Dann Anpfiff.

Das Spiel dauert drei mal 20 Minuten, das Feld geht von Strafraum zu Strafraum. Kubilay Türkylmaz, gemeldet für die Pistoleros, sei noch auf dem Weg, aber bald da, versichert Speaker Bien. Möge das «legendäre Legendenspiel» beginnen.

Die Köpfe sind grau meliert, der Applaus für die Spieler verhalten. Und doch gibt es hier und da Futter für die Connaisseure: das Dreieck Contini – Haas – Sermeter habe man lange nicht mehr zusammen auf dem Platz gesehen, hört man. «Hopp Legende, Hopp Legende», ruft der Speaker und warnt, man solle sich zurückhalten, der Schiedsrichter habe in seiner Karriere bereits 66 rote und gelb-rote Karten verteilt. Stapi Neukomm sagt derweil ins Mikrophon, er sei «tief beeindruckt» und meint damit den Umstand, dass die Spieler bei derartigen Temperaturen überhaupt auf dem Platz stehen.

Die Schaffhauser Nachrichten (grosser FCS-Sponsor) werden am Montag schreiben, 1900 Menschen seien da gewesen – eine, mit Verlaub, ziemlich grosszügige Schätzung. «Ein gelungener Anlass.»

Ich setze mich zwischen die Fans. Der Typ links von mir hat ein überzähliges Bier und bietet es mir an. Er hole jeweils gleich ein paar, schliesslich müsse man dafür raus aus dem Stadion, zu den Food-Wagen auf dem Teerplatz. Im Stadion selber dürfe der Verein nichts verkaufen, der «Veranstalter» habe es nicht erlaubt. Wer «der Veranstalter» ist, ist beim Sta­dion mittlerweile gänzlich schleierhaft, mehrere Parteien streiten um einzelne Stadionteile. Es ist also grosses Jubiläum, und der Club darf im eigenen Millionen-Stadion kein Bier ausschenken – wahrlich legendär. (Der Bierwagen draussen übrigens: Schützengarten).

Hakan Yakin behauptet sich im Trikot der Pistoleros im Ernstkampf gegen die FCS-Legenden vor leeren Rängen
Hakan Yakin behauptet sich im Trikot der Pistoleros im Ernstkampf gegen die FCS-Legenden vor leeren Rängen

Der Kick ist eher mau, obwohl viele Tore fallen (Endstand 7:6, vier Tore durch die grösste Legende auf dem Platz: Kevin Kurányi). Umso mehr Zeit für einen Schwatz. Der Fan sagt, er sei enttäuscht. Nicht mal eine Ansprache des Präsidenten habe es gegeben, alles nur für die VIP. Würde sein Dorfclub Jubiläum feiern, gäbe es eine Diashow mit historischen Momenten, «hier läuft nicht mal der Screen». Wobei: Der sei ja sowieso kaputt. Er kenne sich wahrlich aus im Fussball, sagt er, aber von den «Legenden» im Pistoleros-Team habe er die Hälfte der Namen noch nie gehört.

Vielleicht, denke ich, gehe ich nächstes Mal zum Jubiläum seines Dorfclubs. Dort will zumindest niemand grösser sein als er ist.