Die Hexe von der Karstgasse

12. August 2021, Nora Leutert
Foto: Peter Pfister

Hart, aber herzlich: Das ist Uschi, die Karst-Wirtin, die Ende Monat ihre Beiz schliesst. Man lernt: Besser einen Ruf haben als keinen.

Chiquitita, you and I know
How the heartaches come and they go and the scars they’re leaving
You’ll be dancing once again and the pain will end
You will have no time for grieving
(Abba)

Eine fesche Fünfzigjährige spaziert durch eine Altstadtgasse, an einer Bar vorbei, sie bleibt stehen, schaut durch das Fenster rein. Die Bar gefällt ihr. Sie geht hinein, sieht die Wirtin und fragt: Du, wann kann ich den Laden übernehmen?

Spinnst du?, antwortet die Wirtin der Fremden. Sie habe die Bar gerade erst übernommen. Sicher nicht gebe sie die gleich wieder her.

Bald darauf taucht die Frau wieder auf. Sie sitzt an einem der Tischchen vor der Bar.

Ich wollte fragen, wann ich den Laden übernehmen kann, sagt sie zur Wirtin. Sie laufe immer durch diese Gasse, und nie habe es Gäste. Es sei kein Wunder, dass sich auf diese rostigen Stühle hier niemand setze. Und überhaupt, die Andere mit ihrer sauren Art gehöre gar nicht hinter einen Tresen.

Als die Frau das nächste Mal aufkreuzt, hinterlässt sie ihre Telefonnummer.
Einige Monate später kriegt sie einen Anruf. Und die Bar eine neue Betreiberin.

Das ist Uschi. Ursula Forster. Und so kam sie, nach eigenen Worten, vor 13 Jahren zu ihrer Bar im Karstgässchen. Ohne Rücksicht auf Anstand und Gefühle. «Ich bin ein ekelhafter Siech, wenn ich etwas will», sagt Uschi. «Ich habe mich so in diesen Charscht verliebt, ich wusste einfach: Das ist meine Bar.»

Unbekümmert sitzt die Wirtin mit der gepflegten blonden Kurzhaarfrisur, der man die gelernte Coiffeuse ansieht, draussen vor ihrer Beiz. Der Nachmittag scheint noch zu jung, um sich ein «Prosecöli» zu genehmigen, vielleicht später, es ist das einzig Alkoholische, das sie beim Schaffen trinkt.

In langen Atemzügen redet sie ungefiltert daher, während ihre zusammengekniffenen Augen von links nach rechts wandern, die Strasse rauf und runter. Nichts entgeht ihrer Aufmerksamkeit. Bei jedem Passanten schaut sie auf und grüsst herzlich, die meisten mit dem Vornamen.

Ganz klar: Das ist ihr Wildgebiet hier. Doch Ende Monat zieht sie sich zurück, das Haus wird umgebaut, die Bar schliesst. Eine der letzten senkrechten Alt-Beizerinnen der Stadt geht in den Ruhestand. Die Leute kommen zu Uschi, obwohl einige ein bisschen Angst vor ihr haben. Wie geht das nur?


*

Die Karst ist eine Beiz, in der man als Frau noch eine Frauenstange serviert bekommt. Also nicht in einem Tulpenglas, sondern in einem, das wie ein Kelch aussieht. Uschi, frühere Wirtin des Riethofs auf der Breite, schenkt zu billigen Preisen aus, und immer gibt es Chips oder gar Toasteckchen mit Cervelat und Käse dazu. Die teils selbstkreierten Drinks serviert sie in Gläsern, bei denen man – wenn der Abend schon spät ist – zweimal hinschauen muss, denn diese Gläser sind schief wie die Titanic. Schräge Gläser für schräge Vögel, sagt Uschi.

Sie kassiert gern Handgelenk mal Pi ein, meist zu Gunsten der Gäste und vielleicht auch mal nicht. Die Karst Bar ist eine Ecke, in der man eine Fünf noch gerade sein lässt. In welcher der Blick noch etwas verrutschen darf und die Sprüche auch. Ganz unterirdisch verrutschen dürfen die hier sogar. Dann ist die Karst Bar wirklich eine Höhle.

Die dunklen Balken über dem Tresen sind gespickt mit Postkarten und Geldscheinen aus aller Welt, gerne mit zotigen Sprüchen und Zeichnungen vollgekritzelt, daneben das eine oder andere Dienstabzeichen, das ein Polizist an seinem Letzten hier liess. Geschichten ranken sich um diese Balken, genauso wie um den tödlichen Unfall des früheren Karst-Beizers, der in der Bar die Treppe runterstürzte.


*


Nachdem Uschi ihrer Vorgängerin, welche auf den verunfallten Beizer folgte, die Karst Bar abgejagt hatte, spielte sie sich bald einen Ruf ein. Du hast einen neuen Namen, erzählten ihr die Leute. Man nenne sie die «Hexe von der Karstgasse». Das sei ihr scheissegal, erwiderte Uschi. Ja, sie begrüsse das sogar, wenigstens habe sie Eindruck geschunden.

Bei der Beizentür nämlich hielt und hält sie auch heute noch einen Besen bereit, um Störenfriede handgreiflich zu verscheuchen. Die Kundschaft, die ihre Bar anfänglich noch aus alter Gewohnheit aufsuchte, passte der Karst-Wirtin gar nicht. Schlechte Gesellschaft habe früher in der Gasse verkehrt, sagt sie heute. Und mit schlechter Gesellschaft meint die Beizerin, die ein sehr klares Weltbild und Vorurteile der ältesten Jahrgänge auf Lager hat, in diesem Fall einfach: Gesellschaft, die sich schlecht benimmt. Männer, die rumpöbelten oder nach Flaschen hinter der Bar langten, wenn sie wegschaute.


Es seien schwierige Zeiten gewesen. Kein einziges Mal in ihren 13 Jahren jedoch habe sie die Polizei rufen müssen, sagt die Wirtin. Das mag daran liegen, dass sie selbst ziemlich wehrhaft ist.

Einmal spätnachts, die Beiz war bereits zu, schepperte es draussen. Drei Typen hatten eine Flasche Jägermeister in den Gang hinein geworfen, alles war klebrig verspritzt. Uschi kam, sah, und rannte ins Hinterzimmer. Sie holte einen Pfefferspray und setzte den Jungs hinterher, bereit, ihnen die Zähne in den Kragen runterzuhauen.

Sie habe schon dem einen oder anderen den Besen übergebraten oder eine gebuttert, erzählt Uschi. Einmal zwang sie einen Kerl, der ihr ins Pissoir gespien hatte, die Sauerei mit blossen Händen in den Müll zu schaufeln.
Wer bei Uschi einmal in Ungnade gefallen ist, bleibt es. Hausverbot bis ans Lebensende. Ein besonderer Dorn im Auge waren ihr Jugendliche, die noch der Erziehung bedürfen. Unter 20-Jährige sind in der Karst Bar nicht erwünscht. Sie werden wieder rausgeschickt.


*


Uschi hat mit ihrer Raucherbeiz ein Eckchen für eine etwas ältere Kundschaft geschaffen. Viele Witfrauen verkehren bei ihr, die abends sonst weniger oft ausgehen würden. Die Karst Bar ist ein Hort für eine grosse Schar an Stammgästen geworden und ein Fels in der Brandung für Suchende. Denn seit der alte Kastanienbaum in der Webergasse zuging, sind wieder einige Beizengängerinnen heimatlos.

Sie alle finden bei Uschi einen sicheren Hafen. Ausser eben die, welche ihr dumm kommen oder ihr auf die Nerven gehen. Die werden in der Karst Bar gnadenlos abgewiesen. Und wenn einer an einem Abend zu viel gesoffen hat, soll er auf den Mund sitzen, ein Bier kriegt er von Uschi jedenfalls nicht mehr.

Vielleicht ist es gerade diese Kombination von mutterhafter Strenge und Herzenswärme, welche den Leuten ein Gefühl von Geborgenheit gibt in der Karst Bar. Sie kommen her, um sich gemütlich ein Weinchen zu leisten, sich «zum Wöhlerchen» wünschen und auch mal in die Schranken weisen zu lassen. Auch solche, die jeden Rappen umdrehen müssen.

Ein Stammgast setzt sich an diesem Freitagnachmittag draussen auf der Gasse vor die Kast Bar zu Uschi. «Sie ist manchmal schon eine Hexe» sagt er lächelnd, «aber es wird ja niemand gezwungen, hierherzukommen.»
Man verabschiedet sich von Uschi, ohne genau zu wissen, was man von ihr halten soll. Nur eins weiss man: Man kommt wieder zu ihr.


*


An einem regnerischen Sommerabend, es ist einer der letzten von Uschis Karst Bar, sitzen einige altbekannte Gesichter vereinzelt am Stammtisch. Im Fenster liegt Dekor, den Uschi noch verramscht vor der Schliessung. In der Beiz wird es langsam kahl. Wo Rahmen und Spiegel an der Wand hingen, zeichnen sich weisse Quadrate ab, die Bildernägel stecken noch. Auf der alten Jukebox, dem Herzstück der Bar, läuft Chiquitita von Abba. Uschis Lieblingslied, 08-09 ruft sie immer, wenn einer vor der Jukebox steht und nicht entscheiden kann, welchen Song er wählen sollte.

Die Wirtin schunkelt sanft mit der Musik mit, sie ist aufgeräumt an diesem frühen Abend. «Que voulez vous boire?», versucht sie sich mit einer Besucherin am Stammtisch auf Französisch und wird immer wieder korrigiert. «Danielle!», ruft sie, «du machst mich ganz durcheinander, so durcheinander macht mich kein Mann!». Schliesslich bringt sie die Getränke, «Pröschterli», und setzt sich ebenfalls mit einem «Prosecöli» dazu.

Ein weiterer Gast tritt ein, Uschi begrüsst ihn und organisiert, wie bei allen eintrudelnden Gästen zuvor, ein Plätzchen für ihn: «Wenn ihr Frauen da hinten etwas zusammenrutscht, dann hat es für den Heinz auch noch einen Stuhl. Aber tut ihm nichts.»

«Ich tu ihm nichts, wenn er mir nichts tut», erwiedert eine Frau und macht Platz für den alten Bekannten. Der nächste Song läuft an in der Karst Bar und Uschi weiss genau, wer ihn gewählt hat. «Wenn ich im Keller unten war, habe ich an den Liedern immer erkannt, welcher Gast gerade oben in der Bar ist», sagt sie und wird etwas wehmütig. Die Jukebox kommt, nachdem der Karst Ende Monat seine Türen endgültig schliesst, in den Falken. Dort wird Uschi nach ihrem Abgang jeweils einmal im Monat einen Tisch reservieren, um mit ihren alten Stammgästen zusammenzusitzen – sie könne die nicht einfach vergessen.

Sie freut sich auf den Ruhestand, ein paar Tränen werde sie aber bestimmt verdrücken, oder wie sie sagt: «Ich bin so ein Tubel, ich lätsche dann immer gleich.»

Vergessen gehen wird die Wirtin jedenfalls auch dann nicht, wenn man sie in Zukunft nur so durch die Gassen spazieren sieht. Ohne Besen. Und ohne Beiz.