Faruk Gül spielte mehr als 200 Partien für den FC Schaffhausen. Jetzt arbeitet er mit Kindern. Und fühlt sich dabei «pudelwohl».
«Unknown since 1 July», steht auf der Website der Fussball-Datenbank Transfermarkt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Faruk Gül ist nicht verschollen. Man findet ihn, wenn man von Schaffhausen auf der A81 nach Norden fährt, vorbei an Singen, Stockach, Hohenfels, braven schwäbischen Kleinstädten, dann auf die B313 abbiegt, Rohrdorf, Engelswies, Vilsingen passiert, kleine Weiler, ein altes Sägewerk, eine Pizzeria, ein paar Autohöfe, bis man Inzigkofen erreicht: 1335 Einwohner, ein Museum, ein Skilift, der Bürgermeister regiert so lange wie Angela Merkel.
Vor einigen Jahren, 2011 bis 2019, war Faruk Gül in Schaffhausen ein grosser Name. «Gül, Gül, Super-Gül», tönte es aus hunderten gut geölter Kehlen von der Bierkurve herab. Fuki, so sein Spitzname, kam vom deutschen Drittligisten Heidenheim, ausgebildet wurde er in der Talentschmiede des VFL Bochum. Der «Blick» widmete ihm einmal ein Porträt, als «Hippie-Türke» wurde er mit dem im Boulevard ebenso beiläufigen wie selbstverständlichen Rassismus betitelt, seiner langen, lockigen Haare wegen. Gül war beim FC Schaffhausen Publikumsliebling, Antreiber, formidabler Ballmanipulator und allseits geschätzter Interviewpartner.
Man muss sich bei diesen Schilderungen auf die Zeitzeugen verlassen, der Autor hat nie inmitten der Fans gestanden. Auf Youtube und Facebook findet man einige wenige Mitschnitte, Arbeitsproben von Güls Œuvre, wenn man so will. Gül, wie er im Halbfeld einen hohen Ball technisch einwandfrei mit rechts abnimmt, zwei kurze Schritte, eine feine Körpertäuschung – schon landet der Ball im Lattenkreuz. Gül, wie er im Strafraum eine flache Hereingabe mit links unter den Querbalken hämmert. Er muss ein ziemlich guter Fussballer gewesen sein, kein Blender, keiner, der nur für die Galerie spielt. Vor allem aber hatte er das gewisse Extra, die Aura, die einen Spieler unweigerlich zu einem Gewährsmann der Fans macht; eine spezielle Verbindung, die nur demjenigen zuteil kommt, der – Achtung, Stereotyp! – ebenso gut in der Kurve wie auf dem Platz stehen könnte.
In der grossen Puppenstube
«Der Faruk kann halt einfach gut mit Menschen», sagt Gerlinde Henselmann, Leiterin des Kinderhauses Schatzkiste. Hänsel schaut zu, wie ihr Praktikant, ein 32-jähriger Mann mit breiten Schultern und einem unübersehbaren Bizeps, im Schneidersitz auf dem Boden hockt, neben ihm 12 Mädchen und Buben, alle zwischen zwei und fünf Jahre alt. Hier, im Erdgeschoss des ehemaligen Rathauses von Inzigkofen, ist seit einiger Zeit ein Teil des Kinderhorts untergebracht, der Raum ist eingerichtet wie eine grosse Puppenstube, an der Decke hängen Girlanden, an der Wand Kinderzeichnungen. Das «Radiospiel» wird gespielt: In der Mitte des Kreises versteckt sich ein Kind unter einer Decke, ein anderes muss herausfinden, welche seiner Kameradinnen unter der Decke steckt, und drückt zu diesem Zweck einen unsichtbaren Knopf auf der Decke, der das Radio in Betrieb setzt. «Alle meine Entlein», ertönt es unter der Decke. Gül lacht und klatscht in die Hände.
Zurück in den Berufsalltag
Mit 35, spätestens 40 Jahren ist das Leben als Fussballer vorbei. Dann, so der weitverbreitete Glaube, stellt sich für die Ex-Profis eigentlich nur noch die Frage, wie man nun die restlichen Jahrzehnte bis zur Pensionierung rumbringen soll. Die Wahrheit ist eine andere. Gehört man nicht zu den paar hundert Spielern, die in den fünf grossen europäischen Ligen lukrative Verträge abgeschlossen und das Einkommen gewinnbringend investiert hatten, muss man nolens volens wieder malochen. Im Gegensatz zum Frauenfussball haben bei den Männern viele keine abgeschlossene Ausbildung, und wenn doch, mangelt es an Berufserfahrungen. Der Einfachheit halber entschliessen sich viele, weiter im angestammten Bereich zu wirken: als Sportartikelverkäufer, Scout, Spieleragent, Kommentator. Andere gehen in die Versicherungsbranche, einige zieht es in Privatwirtschaft.
Manche kommen mit der Rückkehr in die «normale Arbeitswelt» nicht klar, scheitern an der Fallhöhe zwischen dem lückenlos organisierten Leben im hermetisch abgeriegelten Fussball-Kokon und dem unglamourösen Alltag zwischen Arztrechnungen und Mülltrennung. Die Berichterstattung über gefallene Sportlerhelden ist im Boulevard fast schon eine eigene Rubrik. Erst vor kurzem präsentierte der «Sonntagsblick» den ehemaligen Schweizer Nati-Torhüter Stephane Lehmann (58). Lehmann, immerhin WM- und EM-Teilnehmer, zweifacher Meister und vierfacher Pokalsieger mit Sion, stand da wie ein insolventer Harley-Davidson-Mechaniker, massiver Brustkorb, die langen weissen Haare über dem Jack&Jones-T-Shirt, und erzählte aus dem Leben eines arbeitslosen Ex-Profi-Fussballer. Das Interview war eigentlich eine Blindbewerbung.
Gül ist mittlerweile im zweiten Lehrjahr. Vier Tage die Woche geht er zur Schule, jeweils am Mittwoch hat er seinen Praktikumstag. Nach dem Rücktritt vom Profifussball hatte er eine Ausbildung als Bauzeichner in Angriff genommen. Aber die Tage im Büro waren lang und Gül realisierte, dass ihm die Menschen fehlten. «Ich fragte mich, was wohl das Richtige sein könnte für mich.» Dann erinnerte sich Gül, wie er beim FC Schaffhausen mitunter den Nachwuchs trainierte und wie viel Spass ihm die Arbeit bereitete. «Ich erkundigte mich nach Ausbildungen im Erziehungsbereich und wurde bald fündig.»
Im Lauf des Gesprächs versteht man immer besser, was die Leiterin des Kinderhorts gemeint hat. Gül, die grossen Augen fest auf den Gesprächspartner fixiert, wirkt hellwach, neugierig, charmant und zuvorkommend. Man muss darauf gefasst sein, Komplimente zu seinen Fragen abzuwehren. Pointierte Aussagen widerstreben ihm, diplomatisch umschifft er heikle Themen, nein, die Politik habe seiner Meinung nach im Fussball nichts zu suchen, konfrontiert man ihn mit Gegenargumenten, nickt er milde – Konfrontation und Auseinandersetzung, das Spiel mit harten Bandagen scheint Gül auf dem Fussballplatz zurückgelassen zu haben. Zum Interview hat er eine Papiertüte voller Bretzel mitgebracht und eine Packung Süssgetränke. Care-Arbeit auch im Umgang mit Medien.
Die Hüfte macht nicht mehr mit
Klar, Gül – Fussballer, Mann – ist als Kind-erzieher doppelt exotisch. Aber je länger man mit ihm spricht, umso mehr überzeugt einem der 32-Jährige von der Selbstverständlichkeit seines Tuns. Und irgendwann gerät man in Zweifel über die Ausgangsthese dieses Artikels. Was ist eigentlich so speziell daran, wenn ein ehemaliger Zweitliga-Fussballer eine Ausbildung im Erziehungsbereich einschlägt?
Nach der Karriere beginne für Fussballer erst das eigentliche Leben, sagt Gül an diesem Morgen irgendwann. Es ist wahrscheinlich diese nüchterne, unprätentiöse Art, mit der er einst das Publikum für sich eingenommen hat. Und auch hier, in der Schatzkiste Inzigkofen, ist Gül Publikumsliebling. Als er fürs Interview die Kinderschar für eine Weile verlässt, muss er ihnen hoch und heilig versprechen, bald wiederzukommen. «Was ich an den Kindern so mag, ist, dass sie immer im Jetzt leben», sagt Gül, «ein Heute oder Morgen gibt es für sie nicht.»
Die Fussballschuhe hat der 32-Jährige seit der letzten Saison endgültig an den Nagel gehängt, zuvor spielte er für die zweite Mannschaft des SC Pfullendorf, Kreisliga A, Staffel III, achthöchste Spielklasse. Eine Hüftarthrose habe ihn zum Aufhören gezwungen, sagt Gül. Als er es sagt, meint man, eine kleine Unregelmässigkeit in seinem Gang zu beobachten. Aber vielleicht sind es auch nur die eng geschnittenen Hosen, die Güls Beinen die etwas hölzerne Gangart diktieren.
Wir spazieren über den weitläufigen Aussenbereich des Kinderhorts, vorbei an einer Rutschbahn, Schaukeln, Sandkasten. Gül bleibt vor einer dieser Holzkonstruktionen stehen, die auf Kinderspielplätzen immer öfters anzutreffen sind: scheinbar willkürlich ineinander verwinkelte Holzstämme, Kletterkunst für die Kleinsten. Ein Stamm ist entzweigesägt. «Ein Junge blieb vor ein paar Wochen mit dem Knie zwischen den Holzstreben stecken und kam nicht mehr raus, der Bauer von nebenan musste mit der Säge anrücken.» Gül und eine Kollegin müssen lachen, als sie die Anekdote erzählen. Die Geschichte ging glimpflich aus, der Bub trug keinen Schaden davon, aber im Hort herrschte gehörige Aufregung. Ist das etwa weniger dramatisch als das entscheidende Spiel um einen Liga-Aufstieg?
Alles herausgeholt
Drei Tage sind vergangen seit dem EM-Final im Wembley-Stadion. Gül stand einst selber auf der ganz grossen Bühne, oder zumindest war er kurz davor. Vor 16 Jahren war das, bei der Qualifikation zur U17-EM. Gül erzählt, wie er an der Seite von Toni Kroos, Mesut Özil und Jérôme Boateng auflief – Spieler von Weltformat, spätere Weltmeister, Champions-League-Sieger, mehrfache Landesmeister mit ihren Klubs. Hat Gül sein Potential ausgereizt? Es ist eine unnötige Frage, sie impliziert, dass letztlich nur der Wille zählt und dass sich die Mühsal und die Opfer nur lohnen, wenn man den Zenit erreicht. Und doch möchte man wissen: Hätte Faruk Gül, der Fussballer mit dem grossen Herzen und den flinken Füssen, mehr erreichen können, wollen? Gül schüttelt lächelnd den Kopf. «Ich habe alles herausgeholt aus meiner Karriere.»
Ganz abgeschlossen hat Gül mit dem einstigen Broterwerb jedoch nicht. Ein Leben ohne Fussball, sagt er am Ende des Gesprächs, sei für ihn unvorstellbar. «Fussball ist meine Leidenschaft, das wird immer so sein.» Er könne sich gut vorstellen, nach der Ausbildung zum Erzieher eine Ausbildung zum Fussball-Trainer anzuhängen.
«Die Meeresschildkröte ist mein Lieblingstier», sagt Gül, als er den Autor zum Parkplatz begleitet. Durch die Heckscheibe sieht man in seinem Auto eine Plüsch-Schildkröte liegen. «Es sind unglaublich treue Tiere, sie finden immer wieder zu ihrem Geburtsort zurück, auch wenn sie dafür hunderte von Kilometern schwimmen müssen.» Am 14. August kehrt Gül zurück in die Schweiz, ein Legendenspiel zur 125-Jahr-Feier seines FCS steht an.