1892 werden in Löhningen eine Frau, ihr Mann und ihr Kind Opfer eines Streits zwischen zwei Familien. Das Dorf ist danach nicht dasselbe. Oder doch?
Dorfkern, Brunnen, ländliche Idylle: In Löhningen, einem kleinen Dorf im Klettgau, leben 1892 knapp 700 Personen. In nachbarschaftlicher Harmonie, wenn man Berichten von damals glaubt. Man vertraut sich, niemand verschliesst seine Tür.
Aber in den frühen Morgenstunden des 22. August 1892, einem Montag, da ertönt ein ungewöhnliches Geräusch im Dorf: die verzweifelten Hilfeschreie einer Frau. Die Frau, ihr Mann und ihr Baby sterben in dieser Nacht, sie werden brutal und kaltblütig in ihrem Schlafzimmer ermordet. Gehört habe man sie, die Schreie, ja, aber niemand nimmt sie ernst, die Menschen drehen sich in ihren Betten um und schlafen weiter. Erst viel später, als die Leute die Ereignisse dieser Nacht immer und immer wieder Revue passieren lassen, da werfen die Schreie ein anderes Licht auf die Dorfidylle. Sie offenbaren den Neid und die Missgunst, die zwischen den Löhningern herrschte. Vor allem zwischen den Löhninger Männern.
Margaretha Walter, die in der Nacht um Hilfe schreit, ist eine 26-jährige Frau aus Gächlingen, die nach Löhningen kam, um den 11 Jahre älteren «Gablenmacher» Sebastian Walter zu heiraten. Die beiden haben zum Zeitpunkt des Mordes zwei kleine Kinder, das 1-jährige Klärchen und den sieben Wochen alten Jakobli, aber Margaretha akzeptiert auch Sebastians Kind aus erster Ehe, die kleine Maria, als ihr eigenes. Im Dorf wird sie deswegen hoch geschätzt.
Margaretha und Sebastian leben in einer Doppelhaushälfte mit angebauten Okönomiegebäuden am Ende der Schützengasse, die vom Brunnen im Dorfkern rechts den Rebberg hinaufgeht. Auf der Südseite liegt ein Blumengärtchen, Reben ranken um die Fenster. Sorgen haben die Eheleute keine.
Später, während der Ermittlungen, wird herauskommen, dass Sebastian sich mit Jakob Müller, dem Sattler und späteren Mörder, um eine Frau gestritten hatte. Beide hatten Christine Bollinger früher einmal Heiratsanträge gemacht. Christine heiratete schliesslich Jakob, den Sohn reicher Eltern, aus der «mächtigsten und ehrbarsten» Familie Löhningens. Aber Jakob verzeiht seinem Konkurrenten nicht. Immer wieder gibt es Reibereien zwischen den Familien. Jakob ist ausserdem der Bruder der ersten Frau von Sebastian, Maria Magdalena, die bei der Geburt ihres Kindes verstarb. Und jetzt hegt Jakob Argwohn gegenüber Margaretha, der neuen Frau seines ehemaligen Schwagers.
An jenem Sonntag vor der Mordnacht aber, einem klaren und heissen Sommertag, da scheint die Welt für die junge Margaretha noch in Ordnung. Abends geht die Familie zeitig ins Bett; der Nachtwächter dreht wie gewohnt seine Runden durch das Dorf. Doch am nächsten Morgen ist nichts mehr so, wie es einmal war.
Am Morgen nämlich findet Sebastians Bruder Simon «den Bruder tot übers Bett herabhängend, bluttriefend, vom Schädel ein Stück Hirnschale weggeschlagen». Margaretha, nackt und voller Blut neben dem Bett, ist noch am Leben und ansprechbar. Ihr totes Baby liegt unter der Matratze. Der herbeigerufene Bezirksarzt näht noch Margarethas Wunden, aber sie stirbt wenige Tage später. Geld und Wertgegenstände fehlen.
Wie konnte das passieren? Am Anfang tappen die herbeigerufenen Ermittler im Dunkeln, aber später weiss man: Die Familie stirbt, weil Jakob dem Sebastian eins auswischen wollte. Für die Sache mit Christine; dafür, dass Sebastian Maria Magdalena nicht gut behandelt haben soll und an ihrem Tod Schuld sei und dafür, dass er sich eine neue Frau aus Gächlingen geangelt hat.
Und Jakob ist in der Tatnacht nicht allein. Auch sein Cousin Johannes Müller, der Metzger und Wirt, ist dabei. Womöglich, weil er Sebastian nachträgt, dass dieser ihn vor zehn Jahren wegen Diebstahls angezeigt hatte. Und dann ist da noch sein Bruder Kaspar Müller, der Wagner. Dem ehemaligen Gemeinderat und Präsidenten des landwirtschaftlichen Vereins hätte man so eine Tat gar nicht zugetraut. Aber auch Kaspar soll dem Sebastian irgend eine Kleinigkeit nachtragen und öfter gesagt haben, man müsse ihn «kaputtmachen» und ihm «den Ranzen vollhauen». Das Trio beschliesst, dem Sebastian eine Lektion zu erteilen.
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Als in jener Nacht in der Schützengasse gegen Mitternacht alle schlafen, schleichen sich Jakob und Johannes durch die Hintertür in das Haus ihrer späteren Opfer, «der Jakob voraus mit seinem Hammer in der Hand», wie das Schaffhauser Intelligenzblatt später schreibt. Kaspar bleibt draussen und hält Wache. Im Dunkeln bahnen sich die Männer ihren Weg durch die Stube zum Schlafzimmer. In diesem Moment wird Sebastian wach, springt auf und ruft: «Wa giits da?». Seine letzten Worte, denn «im gleichen Momente aber erhielt er vom Sattler mit dessen Hammer einen so wuchtigen Hieb auf die Stirne, dass der Schädel sprang und er lautlos zusammenbrach.»
Margaretha, vom Gemenge aufgeweckt, rennt zum Fenster in der Stube, reisst es auf und schreit um Hilfe. Ein Knüppel saust von vorne auf sie nieder. Ein, zwei, drei Schläge treffen sie auf den Kopf. Es ist Kaspar, der vor dem Fenster auf sie eindrischt. Auch von hinten prasseln die Schläge, wo Johannes mit dem Hammer in der Stube steht. Ein, zwei, drei und mehr Hiebe auf den Kopf und in die Schulter. Das Blut spritzt. Aber Margaretha ist zäh. «Es entspann sich (…) ein entsetzlicher Kampf um ihr Leben, bei welchem sie tüchtig dem Metzger das Gesicht verkratzte und ihm Haare vom Kopf riss.» Doch auch sie sinkt irgendwann bewusstlos zusammen.
Dann fertigen die Täter Sebastian ab, der sich wieder bewegt. Johannes befiehlt seinem Cousin Jakob: «Du musst ihn vollends hinmachen.» Aber Jakob kann nicht. «Ich zittere wie Espenlaub», soll er gesagt haben. Also erledigt Johannes die Sache für ihn, mit mehreren gezielten Hammerschlägen auf den Kopf des Opfers. Blutige Gehirnfetzen fliegen durch das Schlafzimmer.
Dann fällt der Blick der Männer auf das im Bettchen neben der Mutter schlafende Baby, den kleinen Jakob. Johannes «ergriff das Kind und schob es unter die Matratze, auf welcher die noch röchelnde Mutter lag.» Kleinkind Klara übersehen sie, da ihr Bett versteckt hinter der Schlafzimmertür liegt.
Die Täter laufen davon, aber eine halbe Stunde später sind sie zurück, brechen die Kommode auf und reissen alle Wertsachen an sich, die sie finden können. Danach kehren sie in ihre eigenen Häuser zu ihren Familien im Dorf zurück, waschen die Blutflecken aus ihren Kleidern und tun so, als sei nichts passiert.
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Für eine Weile geht das gut. Keiner der Nachbarn gibt Preis, dass sie nachts Schritte und Geräusche hörten, keiner sagt etwas dazu, dass das Diebesgut in der Dorfbevölkerung verteilt wird, dass alle von den Reibereien zwischen den Familien und speziell von Johannes Jähzorn wissen und, dass bekannt ist, dass Jakob seine Frau «grob behandelt». Unter diesem Deckmantel des Schweigens braucht der zuständige Verhörrichter Monate, um den Fall aufzuklären.
Der Richter ist der spätere Ständerat Heinrich Bolli, der bekannt ist für seine rabiaten Verhörmethoden. Später trägt er den Spitznamen «kleiner Hindenburg». Dutzende Male fährt er nach Löhningen, um dort in mühsamen Verhören die Mörder ausfindig zu machen. Die wertvollsten Hinweise dafür findet er auf der Strasse, in den Beizen und in den Gassen; dort, wo die Gerüchteküche brodelt. So kommt Bolli zuerst auf Jakob und dann auf Johannes und Kaspar. Alle drei werden verhaftet, ohne jegliche Beweise.
Weil sie die Tat bestreiten, verordnet Bolli schmale Kost, Prügel und Dunkelarrest. Später lässt er auch die Frauen der Täter, eine davon hochschwanger, verhaften, um aus den Männern ein Geständnis zu erpressen.
Unter diesen Bedingungen gesteht Johannes als erster, im März 1893, nach Monaten in Haft. In der folgenden Nacht erhängt er sich in seiner Zelle. Am 14. Juni 1893 werden schliesslich Jakob und Kaspar mit Geldstrafen und lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Der Fall schlägt aber solche Wellen, dass deswegen 1893 die Todesstrafe wieder eingeführt wird.
Sommerserie: Cold Cases für heisse Tage
In der diesjährigen Sommerserie spielt die AZ Detektivin: Wir schauen uns berühmte Schaffhauser Mordfälle aus dem 19. und 20. Jahrhundert an. Teils wurden die Täter gefasst, teils blieb es bei wilden Spekulationen und Justizirrtümern. Gemein ist den Geschichten aber eins: Sie versprechen kaltes Erschaudern an heissen Tagen. Heute: der Dreifachmord von Löhningen. Und nächste Woche? Ein Giftmord mit Arsen. Der Täter ist schon wieder ein Löhninger, die Tote seine eigene Ehefrau. Vielleicht ist am Gruseldorf etwas dran?
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