Der Morgen danach

22. Juli 2021, Luca Miozzari

Im Randental ist die Welt untergegangen. Reportage über ein «Jahrhundertereignis» und fehlenden Hochwasserschutz – durch das Autofenster des Regierungspräsidenten.

Wieso wir am frühen Freitagmorgen in den Bus gestiegen und in Richtung Randental gefahren sind – im Nachhinein schwer zu sagen. Vielleicht war es dieses fatalistische Pflichtbewusstsein, das uns Journalisten oft nachgesagt wird: Die Welt geht unter, das müssen wir im Blatt haben! Vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich, sind wir aus einem rein voyeuristischen Reflex in die von heftigen Überschwemmungen überraschten Gemeinden Schleitheim und Beggingen gefahren. Zurückgekommen, jedenfalls, sind wir von dieser Reportagereise mit einer Geschichte über Jahrhundertereignisse, die sich innert Jahrzehnten wiederholen. Über eine Gemeinde, die den Hochwasserschutz ihren Bürgern überlässt. Und über eine spontane Rundfahrt mit dem Regierungspräsidenten.

Die Wassermassen, welche sich am Donnerstagabend ihren Weg durch das kleine Tal im nördlichen Klettgau suchen, kommen schnell und ohne Vorwarnung. Urs Vogelsanger, ehemaliger Schleitheimer Gemeinderat, steht in einem Pullover des italienischen Alpin-Ski-Teams am Geländer des Dorfbachs, der mittlerweile wieder friedlich vor sich hinrauscht, als wäre nichts gewesen. Nachdenklich studiert Vogelsanger eine der Brücken. Sofern man überhaupt noch von einer Brücke sprechen kann. Nur ein paar verbogene Stangen sind übrig, in denen sich Äste und sonstiges Treibgut verfangen haben. Er sei gegen halb sieben auf dem Nachhauseweg von der Arbeit mit dem Auto durchs Dorf gefahren. Da sei das Wasser bereits auf Höhe der Strasse gewesen. «Ich habe gesehen, dass es beim Elektriker Bollinger schon in die Garage läuft. Da bin ich schnell nach Hause gefahren und bin helfen gegangen.» Sandsäcke stapeln, Menschen und Haustiere evakuieren, schauen, dass kein Heizöl ausläuft. Viel mehr können weder Bewohnerinnen noch die angerückten Einsatzkräfte der Feuerwehr zu diesem Zeitpunkt machen. Eine gute halbe Stunde später war das Wasser wieder weg. Zurück blieb ein Bild der Zerstörung.

Das sei ein Jahrhunderthochwasser gewesen, sagt Vogelsanger, eines, das statistisch nur alle hundert Jahre vorkomme. Auch ein Feuerwehrmann, den wir ein paar Gassen weiter beim Reinigen von schlammigen Sandsäcken unterbrechen, benutzt diesen Begriff. Und er erzählt von einer Messstation etwas bachabwärts von Schleitheim, die am Donnerstagabend einen Durchfluss von 200 Kubikmetern Wasser pro Sekunde angezeigt habe. «Das ist so viel wie der Rhein bei Niedrigwasser. Das muss die grösste Überschwemmung gewesen sein, die es hier je gegeben hat», sagt er.

So viel Wasser wie der Rhein?

Roland Schwarz, dem kantonalen Gewässeraufseher, ist dieser Messwert der Messstation Talmühle ebenfalls ins Auge gestochen. Er hält ihn aber für nicht plausibel und er wurde mittlerweile nach unten korrigiert, wie er ein paar Tage später am Telefon erklärt. Schwarz’ Vermutung: Eine Verklausung unterhalb des Messgeräts, also ein kleiner Staudamm aus Ästen oder anderem Treibgut, hat den Pegel so stark ansteigen lassen, dass das Gerät die Wassermenge falsch geschätzt hat. Ob das nun die heftigste Überschwemmung aller Zeiten gewesen ist, das muss das Tiefbauamt zuerst noch ermitteln, alle Spuren vor Ort vermessen und miteinander abgleichen. Bis bestätigte Daten vorliegen, wird es wohl noch Wochen dauern. Fest steht: Auch der korrigierte Peak der Messstation Talmühle sucht seinesgleichen in der öffentlich einsehbaren Hydrodatenbank der Kantone Thurgau und Schaffhausen. Und sämtliche Zeugen, mit denen wir in Schleitheim und Beggingen gesprochen haben, sagten: So viel Wasser haben wir hier noch nie gesehen. Und das, obwohl Überschwemmungen keine Seltenheit sind im Randental. Vergleichbar dürfte die Flut von 1999 gewesen sein. Aber auch 2013 und 2016 gab es hier heftige Hochwasser.

Was auffällt ist die Geschwindigkeit, mit der die Flut kam. In nur einer Stunde wurden die Dorfbäche von bescheidenen Bächen zu reissenden Strömen und wieder zu Bächen. Woher kam dieses Wasser so plötzlich? Und wieso passiert das hier so oft? Die kurze Antwort: Aus Beggingen und wegen Extremwettereignissen. Doch dahinter steckt mehr. Die Topografie und der Klimawandel sind ein Teil der Erklärung, wieso grosse Teile der Randentaldörfer auf der Gefahrenkarte Wasser des Kantons gelb eingefärbt sind. Aber auch eine strategielose Gemeindeverwaltung spielt eine Rolle, fehlende Ressourcen und eine ganze Menge der vielzitierten Eigenverantwortung. Beziehungsweise ihrem Pendant aus der Versicherungsbranche: dem «Einzelschutz». Aber um zu dieser Antwort zu kommen, müssen wir zuerst die Fährte des Wassers aufnehmen.

«Sind Sie von der Versicherung?»

Wir folgen dem Schlamm talaufwärts, nicht ohne zwischendurch immer wieder mit der Wanderschuhspitze die seltsam puddingartige Konsistenz der braunen Masse zu testen. Vorbei an Baggern, Hochdruckreinigern, Pumpen und einer Zivilschutzkompanie in ihren braun-orangen Anzügen, die an einer Ecke auf Aufträge wartet, gelangen wir auf die Landstrasse in Richtung Beggingen. Da wir gerade den stündlichen Bus verpasst haben, halten wir den Daumen raus. Aufgegabelt werden wir von Heinz Scheller. Er ist Landwirt und bestellt einen grossen Teil der Felder auf der Ebene zwischen Schleitheim und Beggingen. Auf einem kleinen Umweg zeigt er uns das Bachbett des Schleitheimerbachs. Und die Spuren dessen, was aus diesem kleinen Flüsschen geworden war: Ein Mähdrescher. Unübersehbar die Linie an den zum Fluss hin leicht abfallenden Getreidefeldern, bisdorthin sich die Wassermassen durch die Landschaft gefressen haben. Alle Halme sind geknickt, die Ähren schauen in Richtung Schleitheim. «Die sind hinüber», sagt er und setzt sein Auto etwas zurück, um uns die Stelle zu zeigen, an der der Bach quasi einen neuen Arm entwickelt hat und über eine Wiese mit Obstbäumen geflossen ist. «Oh», sagt er und lacht, als er im Rückspiegel sieht, dass er mit seinem Manöver gerade einen Traktor hinter uns zum Rückwärtsfahren gezwungen hat. Für einen, der gerade einen Teil seiner Ernte verloren hat, wirkt er erstaunlich entspannt.

Die Flut, die sei von da oben gekommen, sagt Scheller, während er uns im Begginger Dorfzentrum ablädt. Er zeigt die Hügel hinauf, welche die 500-Seelen-Gemeinde umgeben. «Als das Wasser kam, hat es hier unten gar nicht geregnet. Das hat sich alles dort entladen und ist dann runtergekommen.»

Als wir uns in Beggingen umschauen, wird uns schnell klar: Das ist noch einmal eine Nummer heftiger als das, was wir in Schleitheim gesehen haben. Überall türmen sich Dreck, Kies, Teile von Bäumen und sonstiger Schutt. Das hölzerne Bushäuschen steht jetzt auf der anderen Strassenseite als der Bus hält. An vielen Orten hat sich sogar der Strassenbelag gelöst. Zivilschützer werden wir hier den ganzen Tag lang nicht sehen. Junge Männer kurven mit Baggern und Frontladern durch die matschigen Strassen.

«Häsch d Staa usetue?»

«Sind Sie von der Versicherung?», fragt Susanne Bachmann hoffnungsvoll, als wir kurz vor ihrem Vorplatz stehen bleiben und das seltsame Beton-Mäuerchen begutachten, das ihn von der Strasse trennt. «Sie müssen uns unbedingt in ihrem Bericht erwähnen», sagt sie. Die Frau ist mit den Nerven völlig am Ende. «Wir hatten solche Angst, als gestern das Wasser kam.» Verständlicherweise. Hier an der Ecke, wo eine Querstrasse den Hügel hinauf in die Dorfstrasse einmündet, hat das Wasser besonders stark gewütet. Wie eine Gletschermoräne, stellenweise bis zu einem Meter hoch, liegt hier Kies in der Einfahrt und versperrt das Scheunentor, das sich nun nicht mehr öffnen lässt, im Erdgeschoss tropft es von der Decke.

Das Mäuerchen auf dem Vorplatz wäre eigentlich als Hochwasserschutz gedacht. Das habe man erst kürzlich gebaut. Eine Auflage der Gebäudeversicherung, welche die Hälfte der Kosten übernommen hat, erklärt uns der Ehemann. Gebracht hat es in diesem Fall wenig bis gar nichts. Denn das Wasser kam von allen Seiten. Der Dorfstrasse entlang, parallel zum Mäuerchen, rechtwinklig zum Mäuerchen den Hügel hinab und zu guter Letzt trat auch noch der Dorfbach hinter dem Haus über die Ufer und überschwemmte den Garten. «Wir waren eingekesselt», sagen die Bachmanns. Seit gut 10 Jahren leben die beiden hier. Und das sei bereits die dritte heftige Überschwemmung, sagen sie.

In Schleitheim ist ein Bach über die Ufer getreten. Hier in Beggingen waren es drei. Und dann gab es offenbar auch noch Wasser, das sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, sich einem Bach anzuschliessen. Stattdessen wurden Strassen zu Flüssen. Und Vorplätze zu Kieswerken. Wir folgen wieder der Spur des Wassers. Und die führt durchs Dorf, den Hügel hinauf.

Doch wir kommen nicht weit. Kaum haben wir ein paar Höhenmeter überwunden, treffen wir auf ein bekanntes Gesicht. An einem steil ansteigenden Strässchen im hinteren Dorfteil steht Regierungspräsident Walter Vogelsanger im Büezer-Tenue auf seinem Garagenvorplatz und spritzt mit dem Gartenschlauch den Schlamm weg. Hier oben scheint die Flut weit weniger heftig gewütet zu haben als im Dorfkern. Ausser dem Dreck auf dem Vorplatz sind keine Schäden zu erkennen. Er sei nicht hier gewesen, als die Flut gekommen sei, sagt Vogelsanger. «Wir waren in der Stadt zum Essen eingeladen und sind erst etwa um neun zurückgekommen.» Der Gesundheitsdirektor ist in bester Plauderlaune und bietet uns eine Rundfahrt an. «Dann seht ihr mehr.» Ein Angebot, das wir nicht ausschlagen können.

Auf der Landstrasse kommen uns mehrere Fahrzeuge mit deutschem Kennzeichen entgegen. Vogelsanger lässt die Scheibe runter und ruft einem Mann am Strassenrand zu. «Du, schickeds die Düütsche wieder vorne dure?» Der Mann nickt bestätigend. «Ja, hinneabe isch gsperrt.» Wir weichen auf Kieswege aus, die von Furchen und Gräben durchsetzt sind. Jetzt wird uns klar, woher diese Kiesmoräne auf dem Vorplatz der Bachmanns kommt. Gekonnt manövriert Vogelsanger über die Holperpisten, nicht ohne immer wieder das Fenster zu öffnen und sich mit Aufräumenden zu unterhalten. «Häsch d Staa usetue?», fragt er einen erschöpft aussehenden Mann, der auf seiner Veranda sitzt und raucht. «D Staa», damit meint er Kies und Geröll, das sich in der Kanalisation gesammelt hat. Die wieder sauberzukriegen, ist keine leichte Aufgabe.

«Das hier ist mein Land», sagt Vogelsanger, als wir an einem Feld am Hang mit geknicktem Getreide vorbeifahren. Es ist bei weitem nicht die einzige Schneise der Verwüstung, welche wir hier oben in den Hügeln antreffen. Überall plattgedrückte Wiesen und Felder bis zum Waldrand oben auf den Kuppen. Das Wasser ist hier buchstäblich den Hang runtergekommen. «Man würde ja eigentlich denken, der Wald könne dieses Wasser aufnehmen. Aber weil es in letzter Zeit so viel geregnet hat, war der Boden gesättigt und das Wasser ist einfach abgelaufen.»

Dieser Naturgewalt sind die Begginger und Schlaatemer hilflos ausgeliefert. Um Schäden an Häusern zu verhindern, müsste man das Wasser oberhalb von Beggingen auffangen und kontrolliert seitwärts dem Hang entlang umleiten. Das sagen Vogelsanger und auch andere Begginger, mit denen wir gesprochen haben. Pläne für solche Massnahmen hat es auch tatsächlich mal gegeben. Aber anders als Schleitheim, das im Juni dieses Jahres eine umfassende Sanierung des Dorfbachbetts für 17 Millionen Franken beschlossen hat (Bund und Kanton übernehmen gut zwei Drittel der Kosten), sind Pläne für Hochwasserschutzmassnahmen in Beggingen im Sand verlaufen. An der Gemeindeversammlung im vergangenen Dezember gab der Gemeindepräsident Peter Wanner Folgendes zu Protokoll: «Der Gemeinderat hat beschlossen, das Projekt Hochwasserschutz nicht weiter zu verfolgen.»

«Für nüüt bruchemer kei Studie»

Am Telefon mit diesem denkbar schlecht gealterten Satz konfrontiert, erzählt Wanner, wie es dazu kam. Vor drei Jahren habe man beim Kanton drei Projektideen eingereicht. Schutzwälle, Gräben, Rohre – im Detail sei noch nichts ausgearbeitet gewesen. Das Tiefbauamt des Kantons habe diese «Kostenschätzungen» angeschaut und dem Gemeinderat signalisiert, dass diese Massnahmen sehr wahrscheinlich zu teuer würden im Verhältnis zum Schadenspotenzial und dass der «Einzelschutz» der Gebäude wahrscheinlich effektiver sei. Und man hätte eine weitere Studie anfertigen lassen müssen, um allfällige Kantonsgelder zu erhalten. Kostenpunkt: 10 000 Franken. Dann habe der Gemeinderat gesagt: «Für nüüt bruchemer kei Studie», und die Übung abgebrochen. Und so bauen die Begginger weiterhin kleine Beton-Mäuerchen vor ihre Häuser. Wanner sagt, er könne nicht konkretes in Aussicht stellen, verspricht aber: «Wir werden Gespräche führen und diese Ideen wieder aufnehmen.»

Daran wird wohl kein Weg vorbeiführen. Die Gebäudeversicherung rechnet mit einer Schadenssumme von 2,5 bis 3,5 Millionen Franken allein für diese Überschwemmung im Randental. Und das sind nur die Gebäudeschäden, den «Inhalt» nicht mitgerechnet. Geht man davon aus, dass solche Extremwetterereignisse mit dem fortschreitenden Klimawandel häufiger werden, hat das malerische Randental bald ein Attraktivitätsproblem. «Schon heute wohnen gerade einmal 45 Menschen in den 60 Häusern hier an der Dorfstrasse», sagt Urs Vogelsanger, den wir ganz am Anfang unserer Recherche in Schleitheim angetroffen haben. Und das, obwohl Schleitheim gerade Millionen in seinen Hochwasserschutz investiert. Walter Vogelsanger stimmt ein Dorf weiter ähnlich pessimistische Töne an, als wir von der Rundfahrt zurückkehren. «Ich glaube nicht, dass diese Überschwemmung zu einem Umdenken führen wird. Das Gedächtnis daran wird nicht lange halten.»