Unter Beobachtung

19. Juli 2021, Doerte Letzmann
Symbolbilder: Robin Kohler
Symbolbilder: Robin Kohler

Ein Schaffhauser findet heraus, dass er von der Polizei als Gefährder eingestuft wurde. Das hat Konsequenzen, gegen die er wenig tun kann: Die Polizei sammelt Daten. Auch wenn er nicht gefährlich ist.

Mit einer Mondfinsternis im Juli 2018 fing alles an. Marcel Becker* hörte in seinem Garten Musik. Zu laut, wie eine Polizeistreife befand. Die Nacht endete mit Beckers Festnahme, der Entnahme seiner DNA-Probe und einer Anklage wegen Gewalt und Bedrohung gegen Beamte.

Heute weiss der 59-Jährige, dass diese Festnahme der Auslöser war, der ihn ins Fadenkreuz des kantonalen Bedrohungsmanagements geraten liess. Und dass er heute als Gefährder gilt, über den im grossen Stil Daten gesammelt und mit anderen Behörden ausgetauscht werden.

«Ich wehre mich schon aus Prinzip», sagt Becker. «Denn es geht um meine Privatsphäre», sagt er, während er Aktenordner voll mit Dokumenten über seinen Fall auf den Tisch stapelt.

Die Dokumente sind Kopien von Korrespondenzen zwischen Marcel Becker und der Polizei, von Strafbefehlen, Gerichtsurteilen und von Polizeinotizen. Sie sind der Versuch des Betroffenen, nachzuvollziehen, was die Polizei über ihn weiss. Teile dieser Dokumente hat er selbst gesammelt, einige bekam er von der Polizei. Aber das war nicht einfach.

Aus dem Passbüro geschmissen

Denn dass er als Gefährder eingestuft wurde, erfuhr Becker nur durch einen Zufall. Als er im Mai einen Pass beantragen wollte und für seinen vorher vereinbarten Termin auf der Behörde erschien, sei er von zwei Polizisten aus dem Gebäude eskortiert worden, erzählt er. Einfach so, ohne, dass er etwas getan habe. Auf der Treppe in seinem Haus demonstriert er, wie die Beamten ihn in der Behörde einkesselten und dazu zwangen, das Gebäude zu verlassen. Einige Wochen später, als er seinen Pass habe abholen wollen, sei die Polizei wieder präsent gewesen. Er fühlt sich beobachtet.

Der Betroffene will wissen, warum. Auf Nachfrage beim Leiter der Passbehörde soll dieser ihm gesagt haben: «Sie sind eine Person mit einem gewissen Ruf und stehen auf einer kantonalen Liste.» Das liess Herrn Becker aufhorchen.

Er bat um Einsicht in seine Akten. Bei einem Termin auf der Polizeistation wurden ihm Dokumente gezeigt, Screenshots seiner digitalen Akte und auch ein Zeitungsartikel über den Gerichtsprozess wegen der Gewalt und Bedrohung gegen Beamte, derer er sich während der Mondfinsternis schuldig gemacht haben soll. «Es kam mir vor wie eine Stasi-Akte», sagt Becker.

Gleichzeitig gibt es in der Akte Verweise auf Dokumente, die Becker erst auf sein Drängen hin, Wochen später, zu Gesicht bekommt. Darunter sind Notizen, die über ihn erstellt wurden, denn jede Begegnung mit einer Behörde wurde festgehalten. Marcel Becker ist erschrocken und wird misstrauisch. Er fragt sich: «Woher weiss ich, dass sie mir damit alles gezeigt haben?»

Bedrohungsmanagement in Action

Genau wissen kann er das nicht, denn das Bedrohungsmanagement, und damit auch der Datenschutz der Betroffenen, bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone. Das kantonale Bedrohungsmanagement kann «spezifische Informationen über potenziell gefährliche Verfahrensbeteiligte» sammeln, diese zwischen den Behörden austauschen und auch notwendige Massnahmen einleiten. So steht es zumindest im «Reglement der Arbeitsgruppe Krisenmanagement (POGEV)», das die Grundlage für das Bedrohungsmanagement bildet. Gesetzlich geregelt ist die Datensammlung damit aber noch lange nicht, wie wir es auch in der AZ schon hergeleitet haben (Ausgabe vom 10. Dezember 2020). Denn im Polizeigesetz steht dazu nichts.

Dabei sind die Konsequenzen für Betroffene einschneidend. Ist man ein Gefährder, dann nimmt sich die AG Bedrohungsmanagement das Recht heraus, alle möglichen Daten zu sammeln und diese ohne richterlichen Beschluss unter Umständen für 20 Jahre zu speichern. Eine Rekursmöglichkeit gibt es nicht.

Zum konkreten Fall nimmt die Polizei auf Anfrage der AZ keine Stellung. Sie wiederholt lediglich das, was auch im Reglement steht, und, dass es darum gehe, Behördenmitglieder vor Gefahren zu schützen. Ist Herr Becker so eine Gefahr?

Aufnahme in Datenbank

Hier, in Beckers Küche, ist das schwer nachvollziehbar. Der 59-Jährige lebt allein, seine Familie, Frau und zwei Kinder, wohnen im Ausland. Sein Haus am Rande der Innenstadt, das letze in einer Sackgasse, hinter Bäumen und Gebüsch, ist ruhig gelegen. Kein Verkehrs- oder Stadtlärm ist zu hören.

Die Küche ist einfach, aber liebevoll eingerichtet. Auf dem Tisch steht ein Teller mit zwei Amalfi-Zitronen, noch mit Blatt. Daneben liegen selbst getrocknete Wacholderbeeren. Ein Blümchen steckt in einer alten kleinen Glasflasche. Ist der Mann, der hier wohnt wirklich eine Bedrohung?

Geht es nach der Staatsanwaltschaft, dann ist er das. Wie ein Protokollauszug zeigt, stellte die Staatsanwaltschaft am 17. Juni 2019 den Antrag, Marcel Becker in die Datenbank des kantonalen Bedrohungsmanagements aufzunehmen. Aber warum? Im Protokoll steht, Becker «lehnt jegliche Art von staatlicher Autorität ab» und «verhält sich massivst drohend und gewaltbereit». Auch eine Richterin teilt die Auffassung, dass Becker «sehr gewaltbereit» und ein Alkoholiker sei. «Dabei kannte sie mich gar nicht», erwidert Becker. Im Protokoll ist auch vermerkt, er sei «verzeichnet wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte». Aber zu dem Zeitpunkt hatte Becker keine Einträge im Strafregister. Das Verfahren wegen der Sache bei der Mondfinsternis wurde erst im November 2020 abgeschlossen. Unschuldsvermutung? Fehlanzeige.

Wie es also dazu kam, dass er ins Fadenkreuz der AG Bedrohungsmanagement geriet, das lässt sich erst jetzt anhand seiner Polizeiakte zusammen puzzeln.

Ein Mensch mit Fehlern

Was deutlich wird: Marcel Becker kommt mit Autoritätspersonen nicht gut klar. Damals, bei der Mondfinsternis, als die Polizei ihn nach seinem Heimatort fragte, da soll er «Tokyo Baby» geantwortet haben. Und er soll den Polizisten mit Gewalt gedroht haben, soll seine Fäuste erhoben und «Fuck you» gerufen haben. Becker sagt, dass es so nicht gewesen sei.

Er deutet auf die Stelle vor dem Küchenfenster auf den Sitzplatz im Garten. «Ich war zuerst erschrocken, als ich im Dunkeln zwei Gestalten die Auffahrt hoch kommen sah», erinnert er sich. Dass es Polizisten waren, das habe er zuerst gar nicht gesehen. Nachdem er sich weigerte, die Musik leiser zu stellen, eskalierte die Situation. Becker erinnert sich, er sei gegen die Wand gedrückt und schliesslich festgenommen worden. Die Nacht verbrachte er in einer Zelle.

Seitdem kommt es immer wieder zu Konfrontationen zwischen Becker und der Polizei und anderen Behörden. Auch, weil Becker die Sache mit der Festnahme nicht ruhen lassen kann. Sein Verhalten nimmt anstrengende Züge an. Zum Beispiel erstattete er Anzeige wegen Ruhestörung während Stars in Town – aus Trotz. «Das hätte ich nicht gemacht, wenn ich mich nicht so provoziert gefühlt hätte», rechtfertigt er sich.

Es gab Tage, das zeigen die Notizen der Polizei, da rief er fast 50 Mal auf der Polizeistation an. Um etwas nachzufragen, wie er sagt. Auch mit der Staatsanwaltschaft telefonierte er. Und reichte Beschwerden ein gegen die Staatsanwälte, die mit seinem Fall befasst waren. Einfach fügen wollte er sich nicht, also reizte er den Rahmen dessen, was möglich war, bis an die äusserste Grenze aus.

Dabei mag auch Alkohol eine Rolle spielen. Die Notizen der Polizei zeigen: Mehr als einmal wird Becker von einer Streife nach Hause gefahren, nachdem er zu tief ins Glas geschaut hatte. Andere Male wird er verbal ausfällig, zum Beispiel auf dem Obergericht, wird weggewiesen, aber weigert sich, dem Folge zu leisten. Mehrmals muss eine Ambulanz gerufen werden oder er wird ins Spital eingeliefert. Klar ist: Er macht es den Behörden nicht einfach.

Es finden sich aber keine Hinweise darauf, dass Becker wirklich eine Gefahr darstellt. Unkooperativ und konfrontativ ist er ausschliesslich mit der Polizei und anderen Behörden, nicht mit Unbeteiligten oder Privatpersonen. Auf den Ämtern, da sei er eben teilweise wütend und laut geworden. Das gibt Becker selber zu.

Kein Bedrohungspotenzial

Das Perfide ist: Laut dem Reglement des Bedrohungsmanagements reicht schon viel weniger, um als Gefährder eingestuft zu werden. Wer wegen Drohungen und Gewalt in ein aktuelles Strafverfahren involviert ist, kann in die Datenbank aufgenommen werden.

Und dagegen kann ein Betroffener wie Becker wenig tun. In seinem Fall attestiert ihm sogar der Psychiater des Bedrohungsmanagements selber, dass er wahrscheinlich keine Gefahr darstellt. «Eher nein» sind die Worte, mit denen der Psychiater in einer E-Mail an die Sachbearbeiterin des Bedrohungsmanagements die Gefahr beschreibt, dass Beckers Verhalten in Gewalt zu eskalieren droht.

Aber auch das macht Becker wütend. Denn der Psychiater habe nie mit ihm gesprochen, um diese Einschätzung zu treffen, erzählt er. «Das ist doch nicht erlaubt», ist er sich sicher.

Gesetzlich geregelt ist Herr Beckers Situation jedenfalls nicht. Auch deswegen schickt er als Betroffener Briefe an den Polizeikommandanten und fragt nach jedem Detail, nach allen Daten, die möglicherweise über ihn gespeichert wurden. Und danach, was mit seiner DNA-Probe passiert ist.

Becker streitet nicht ab, dass es obsessiv wirkt, wie sehr er sich mit seinem eigenen Fall beschäftigt. Aber er will es nicht einfach so passieren lassen. Er wirkt wie ein Getriebener, der sich nicht anders zu helfen weiss. Denn wie soll er beweisen, dass er keine Bedrohung darstellt?

Laut dem Reglement kann Becker darauf hoffen, dass er aus der Datenbank gelöscht wird, wenn innerhalb von 10 Jahren kein «negatives In-Erscheinung-Treten» verzeichnet wird. Was das heisst, liegt aber allein in der Interpretation der Behörden.

*Name geändert