Über dem Nebel

3. Juni 2021, Marlon Rusch
Foto: Sabrina Niederer

Der Musiker Urs Vögeli ist verstorben. Unser Redaktor Marlon Rusch nimmt Abschied von seinem Freund.

Urs ist tot. Diesen Satz zu schreiben, macht mich ungeheuer traurig. Und es lässt mich ratlos zurück. Urs ist nicht mehr da – was soll das bedeuten?

Bis anhin wusste ich, an wen ich mich wenden konnte, wenn grosse Fragen wie diese auftauchten, auf die ich allein keine Antworten fand. Wenn ich mich in der Liebe verhedderte etwa und gerade keinen Ausweg sah, dann rief ich Urs an, auch an einem Dienstagabend um halb 11, und er sagte einfach: Komm. Ich stieg dann auf mein Fahrrad und Urs nahm zwei Tannzäpfle aus dem Kühlschrank und reichte mir eine Zigarette. Zwei Stunden später machte ich mich auf den Heimweg. Ein paar Gramm leichter oder zumindest mit neuen Erkenntnissen über die Kapriolen des Lebens.

*

Ich kenne Urs noch nicht sehr lange. Doch als ich ihn traf, fand ich nicht nur einen Freund, sondern auch eine tröstliche Gewissheit: Man kann sie noch neu kennenlernen in diesem Städtchen, Menschen, die einen in ihrer ganzen Tiefe interessieren; die widerständig sind, ohne Steine werfen zu müssen; die einen eigenen Weg suchen und auch nicht davor zurückschrecken, sich vor der eigenen Haustür danach umzusehen.

Vielleicht wurden wir Freunde, weil wir das gleiche Thema hatten: Wo sollen wir uns verorten auf der Achse zwischen dem kleinen Schaffhausen und der grossen Welt? Wo ist der Platz, wo wir nicht entwurzelt sind, aber auch die Nährstoffe bekommen, die der heimische Boden nicht hergibt?

Urs war ein Ausnahmegitarrist. Man braucht sich nur durch die musikalischen Erzeugnisse der vergangenen paar Jahre zu hören. Da war das Album «No Depression In Heaven» seiner Band Ghost Town, da war «Songs For The Low» seines Quartetts FlyOut, da war die Soloplatte «My Own Country», auf der er sieben verschieden gestimmte Gitarren spielt. Es gab Zeiten, da hätte es nur den einen oder anderen Flügelschlag gebraucht, und Urs Vögeli wäre mit Stars getourt und auf den ganz grossen Konzertbühnen gestanden. Schwer zu sagen, wieso es nicht geklappt hat. Noch schwerer zu sagen, wie man damit umgehen soll.

Urs suchte Alternativen. Und fand das Grosse im Kleinen. Er unterrichtete ausnehmend gern Gitarre. Er spielte Jazz-Konzer­t­reihen im TapTab, ein Unding eigentlich, aber die Leute kamen. Er programmierte das Schaffhauser Jazzfestival, die Werkschau der nationalen Szene.

Doch er haderte auch. Zum Jazz war er nicht zufällig über den Blues gekommen. Die drei besagten Albumcovers: allesamt schwarz-weiss. Um seine Depressionen machte er keinen Hehl, er verarbeitete die dunkle Seite in der Musik, er gab Interviews über die Krankheit, klärte auf. Als ich ihn im Februar 2019 für die AZ befragte, sagte Urs: «Ambivalenz zuzulassen als Gefühl, das ist mein nächster Entwicklungsschritt als Person.»

Wenn er privat zu mir sagte, ich sei nun mal heller als er, schwang vielleicht Wehmut mit. Doch manchmal war auch ich es, der die Dunkelheit für einen Augenblick insgeheim romantisierte – um mich sofort dafür zu schämen. Ich merkte, dass dieser elf Jahre ältere Mann wohl auch deshalb zu einer Art Mentor wurde, weil sein Leben nicht so gradlinig verlaufen war wie jenes von vielen anderen Menschen. Vielleicht, dachte ich, könnte ich von ihm lernen, mit Dingen einen Umgang zu finden, die ich sowieso nicht kontrollieren kann.

Ekelte man sich vor der Banalität, war man bei Urs an der richtigen Adresse.

*

Nun wäre es verfehlt zu glauben, dass immer alles schwer gewesen wäre. Ich erlebte in den vergangenen Jahren wenige gelöstere Tage, als wenn ich mit Urs und unserem gemeinsamen Freund Raphael Winteler durch den Schwarzwald streifte, durch das tief verschneite Mühli­tal stapfte, an einem sonnigen Samstagnachmittag Dosen knackte unter der Schweizer Fahne auf dem Hügel bei Dörflingen und über die spiessigen Vorgärten und Carports spottete. Es waren Momente der Glückseligkeit. Und es war schön zu spüren, dass sie auch Urs Kraft gaben.

Er konnte sie gebrauchen. Im März schrieb ich einen Essay über die Schaffhauser Kulturförderung; darüber, wie wir es als Gesellschaft billigend in Kauf nehmen, dass freischaffende Künstlerinnen und Künstler ins Prekariat abrutschen; wie wir die Kultur, den Kit unseres Zusammenlebens, für gegeben erachten und die Selbstausbeutung ihrer Produzenten ausblenden.

Der Essay entstand nach nächtelangen Gesprächen mit Urs, den diese Fragen umtrieben. Er war kein naiver Künstler, der von Luft und Liebe lebte und sich damit zufrieden gab. Er war gelernter Kaufmann, sah die ökonomischen Zusammenhänge, studierte viel an seinem Geschäftsmodell herum und wusste zu kalkulieren. Ansonsten hätte er die professionelle Musik vielleicht schon vor Jahren an den Nagel gehängt. Im AZ-Interview sagte er vor zweieinhalb Jahren: «Mein grosses Ziel ist, nicht frustriert zu werden und gelassener damit umzugehen, je älter ich werde. Das gelingt mir gerade ganz gut.» Mitunter aber nahmen ihn diese Themen derart ein, dass er sie nicht mehr loswurde.

Seine dunklen Phasen beschrieb Urs wie einen Nebel, der hochkommt und ihm die Sicht raubt. Er konnte versuchen, den Nebel zurückzudrängen. Das erforderte unendlich viel Kraft, und doch klappte es nicht immer. In diesem Nebel galten andere Gesetze, die Ratio verschwand, absurde Existenzängste ergriffen Besitz von Körper und Geist.

*

Im April entschied er, in die Klinik einzutreten. Er wusste, dass er sich schützen musste. Bei meinen Besuchen erlebte ich einen Mann zwischen Zuversicht und Verzweiflung. Einmal unterschrieb Urs eine Nachricht mit «der geduldig Genesende», dann wiederum konnte man die Dunkelheit förmlich in ihm spüren.

Am Tag, an dem er sich das Leben nahm, wären wir verabredet gewesen. Am Vortag schmiedete er noch Pläne, er muss Aufhellungen gesehen haben. Dann kam der Nebel doch wieder hoch. Und nahm Urs mit. Er ­wurde nur 44 Jahre alt.

Am vergangenen Samstag wanderten ­Raphael und ich von Stein am Rhein nach Hemishofen. Den Ausflug hatten wir vor Monaten geplant – zu dritt. Vom Wolkensteiner­berg aus sieht man über die Schleife des Rheins. Und da steht eine Tafel, ein Gedicht des Heimatpoeten Jakob Brütsch:

Am Wolkeschtoo
tönd d Wolken aaschtoh.
Wänd si drüber dure choo,
mönd si öppis schpringe loo.
Hönd si dänn gnueg rängle ggloo,
isch ene iri Schwäri gnoo.
Guetwätterwölkli
liicht und läär
nämeds friili nid so schwäär,
hoch ziehned si über de Wolkeschtoo –
und lönd en schtoh.

Wäre Urs eine Wolke, welche wäre er wohl? Die dunkle mit Gewicht oder die leichte über dem Nebel? Ich bin fast sicher: Er wäre beide.


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