Rückständiges Weltbild

29. Mai 2021, AZ-Redaktion

Als sich Loris als transgender outet, geht sein religiöser ­Kantilehrer auf die Barrikaden. Das hat nun Konsequenzen.

Von Mascha Hübscher und Marlon Rusch

Ein Dienstagmorgen nach den Herbstferien, im Altbau der Kantonsschule wird Geografie unterrichtet. 

Eine Hand geht in die Höhe, worauf der Lehrer das Wort erteilt. Er sagt einen Mädchennamen. Für einen Moment bleibt es still in der Klasse. Der Schüler, den der Geografielehrer aufrufen will, ist ein junger Mann. Wir nennen ihn Loris. 

Loris zögert. Dann antwortet er.

Während den Herbstferien hatte sich der 16-jährige Schüler als Transgender geoutet und mitgeteilt, dass er ein Mann sei, dem man bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen habe. In einer Mail an alle Lehrpersonen kommunizierte er klar, wie er künftig genannt werden möchte: Loris.  

Zuerst hält er den falschen Namen in der Geografiestunde für ein Versehen. Vielleicht hat der Lehrer sein Mail nicht gesehen. Der Unterricht geht weiter. Doch nur ein paar Minuten später macht der Lehrer ein Beispiel mit einer fiktiven Person – und nennt sie exakt bei jenem Mädchennamen, den Loris früher trug.

Nun wird dem Schüler klar: Der Lehrer weiss durchaus Bescheid; das hier ist eine Provokation.

Als die Klasse den Lehrer in der Pause konfrontiert und darauf hinweist, dass ihr Mitschüler Loris heisst, verneint dieser. Er werde den Schüler weiterhin beim weiblichen Geburtsnamen nennen, für eine Namensänderung gebe es keine gesetzliche Grundlage. 

Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Ein zweites Mal herrscht erdrückende Stille im Klassenraum.

Der gottgemachte Klimawandel

Rückblende. Vor fünf Jahren erschien in der AZ ein Artikel mit dem Titel «Der Klimaskeptiker» (epaper.shaz.ch, Ausgabe 12, 2016). An der Kantonsschule Schaffhausen unterrichtete ein Geografielehrer, der den Schülerinnen und Schülern vermittelte, der Klimawandel sei nicht menschgemacht. Seine Überzeugungen speisten sich aus seinem christlichen Glauben. 

Bereits als ETH-Student hatte er seine Masterarbeit abgebrochen, weil die Voraussetzungen der Arbeit «seinem Glauben widersprochen» hätten. In einem Erfahrungsbericht bedauerte er später: «Solange Christen an den Universitäten nicht damit beginnen, sämtliche Disziplinen aus einer christlichen Weltanschauung zu durchleuchten […], dient alle unsere Forschung letztlich den atheistischen Zielen einer säkularen Wissenschaft.»

Als er diese Zeilen schrieb, war er bereits Lehrer an der Kanti Schaffhausen. Daneben arbeitete er als freier Mitarbeiter für Apologetik bei den Vereinigten Bibelgruppen. Die Apologetik verfolgt das Ziel, christliche Glaubenssätze wissenschaftlich zu beweisen und zu rechtfertigen. 

Auf Anfrage der AZ versprach die Schulleitung der Kanti damals, «das Problem ernst zu nehmen». Der Lehrer müsse seine Unterlagen zur Klimaerwärmung überarbeiten. Ausserdem würden Geografielehrer künftig gegenseitig hospitieren.

Die Sache schien erledigt. Bis Jahre später ein Schüler sagen sollte, er heisse jetzt Loris.

Hoher Kündigungsschutz

Hinter den Kulissen war die Sache damals noch nicht erledigt. Mehrere heutige und ehemalige Schülerinnen und Lehrpersonen haben der AZ erzählt, dass nach der Affäre um die Klimalüge und dem Artikel in der AZ von verschiedenen Seiten gefordert worden sei, dass der Geografielehrer entlassen werde. 

Doch selbst wenn die Schulleitung gewollt hätte: Einen Kantonsschullehrer zu entlassen, ist schwierig. Bei öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnissen gibt es viele Schutzmechanismen. Eine Kündigung wird in Form einer Verfügung ausgesprochen, gegen die rekurriert werden kann. Wenn es sein muss bis zum Bundesgericht. 

Es braucht stichhaltige Gründe, eine Lehrperson zu entlassen. Gut möglich, dass die Kantonsschule zum Schluss kam, die Zweifel am Klimawandel könnten von einem Gericht als «Meinung» ausgelegt werden. Ausserdem gilt in der Schweiz Religionsfreiheit. Eine heikle Angelegenheit. Vielleicht entschied sich die Kantonsschule deshalb für eine pragmatischere Lösung: sanfte Sanktionen.

Doch noch die Kündigung?

Nun aber, nach diesem Dienstagmorgen nach den Herbstferien sieht die Sache anders aus. Wie ein Mitschüler von Loris erzählt, seien viele empört gewesen über die offene Transphobie ihres Geografielehrers. Da er jedoch «bekannt» sei für seine problematischen Ansichten, seien sie nicht überrascht gewesen. Auch viele Lehrpersonen, bei denen die Klasse später im Unterricht sass, hätten kein Verständnis für ihren Kollegen gezeigt.

An der Kanti soll die Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler gewahrt werden.

Die Schulleitung der Kantonsschule äussert sich nicht zum konkreten Fall. Rektor Pasquale Comi schreibt, dass «personalrechtliche Massnahmen» nicht an die Öffentlichkeit gehören. Damit gibt er einen Hinweis darauf, dass die Gerüchte, welche von mehreren Schülerinnen in Gesprächen mit der AZ geäussert wurden, stimmen könnten: Dass das Anstellungsverhältnis des Geografielehrers auf das neue Schuljahr hin nun doch aufgelöst wurde.

Auch der Geografielehrer selber will keine Stellung nehmen und verweist auf ein «laufendes Verfahren». Ein Indiz darauf, dass er sich juristisch gegen die Kündigung zur Wehr setzt. 

Es ist gut möglich, dass die Leugnung des Klimawandels im Unterricht nicht reichte für eine Kündigung, die Diskriminierung eines Schülers jedoch schon. Es könnte auch sein, dass eine Kumulation von Vorfällen das Fass schliesslich zum Überlaufen gebracht hat.

Die Schule gibt sich Mühe

Es scheint jedenfalls, als hätte sich die Schulleitung entschieden, die Sache ernst zu nehmen. Rektor Comi schreibt auf Anfrage der AZ, die Lehrpersonen von Schülerinnen und Schülern, die einen Namenswechsel vorgenommen hätten, würden von der Schulleitung angewiesen, nur noch die neuen Namen zu verwenden.

Die Schulleitung habe sich im vergangenen Jahr vertieft mit Fragen zum Umgang mit trans Jugendlichen auseinandergesetzt, seit die Schülerschaft mit diesem Thema an sie herangetreten sei. Die Kanti habe daraufhin Expertisen bei verschiedenen Fachpersonen eingeholt, ausserdem hätten mehrere Prorektorinnen eine Weiterbildung zum Thema Trans besucht. 

Gemäss einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die sich über agender und transgender Themen austauschen, geht das Engagement der Schulleitung «in die richtige Richtung».  

Auch Loris sagt, die Schule habe gut gehandelt. In verschiedenen Lektionen hätten die Lehrpersonen ihm zudem die Möglichkeit geboten, seine Mitschülerinnen mit einem Referat über das Thema Trans aufzuklären. 

Nachdem seine Klasse direkt nach dem Vorfall im Herbst das Prorektorat informiert hatte, stand in der nächsten Woche ein anderer Geografielehrer in ihrem Zimmer.

Unterstützung beim Coming-out

Möchten sich trans Jugendliche in ihrer Schule outen und sich bei diesem Prozess begleiten lassen, können sie sich an das Transgender Network Switzerland (TGNS) wenden.

Louis Käser vom Vorstand begleitet trans Jugendliche seit fünf Jahren auf ihrem Weg und unterstützt Schulen bei Bedarf in der Aufklärung oder im Rahmen von Sexualkundewochen.

Er sagt, Fälle wie jener von Loris seien ungewöhnlich. Oft fürchteten sich Jugendliche davor, sich als trans zu outen. In der Regel stellten sich Schulen, Mitschülerinnen und Lehrpersonen aber als unterstützend heraus – insbesondere, wenn sie sich mit dem Thema befassten.

Auch formell könne das Outing ganz unproblematisch vonstatten gehen. Schulen und Universitäten sei es freigestellt, Namen und Geschlecht von Studentinnen und Schülern so in ihr System einzutragen, wie diese es wünschten. Schülerinnenausweise seien schliesslich keine rechtsgültigen Dokumente.

Wenn es an Schulen doch mal zu Problemen mit Lehrern komme, hätten diese oft einen religiösen oder rechtskonservativen Hintergrund. Die positiven Erfahrungen überwiegten jedoch.