Schicksalsgemeinschaft

25. Mai 2021, Nora Leutert
Pantlibewohnerinnen und -bewohner in ihren Gärten, 1926. Foto: 30 Jahre Aktiengesellschaft, 1926 / Stadtarchiv
Pantlibewohnerinnen und -bewohner in ihren Gärten, 1926. Foto: 30 Jahre Aktiengesellschaft, 1926 / Stadtarchiv

Wohnexperiment: An Pfingsten 1975 wurde das «Pantli» bei Nacht und Nebel niedergerissen.
Eine eigentümliche Welt ging verloren.

Frühmorgens fahren die Bagger auf. Die Wasser- und Stromzufuhr ist bereits gekappt. Die Bewohnerschaft wird aus den Betten geholt und darüber orientiert, dass ihre Häuser abgebrochen werden. Zügelwagen stehen bereit. Wer keinen Widerstand leistet, bekommt die Umzugskosten bezahlt. Einige Menschen sitzen fassungslos am Küchentisch, die Hinterseite ihres Hauses wird bereits abgerissen. Ein älterer Mann kauert wie ein Häufchen Elend in einer Ecke, während seine Möbel herausgetragen werden. Er ist unter dem Schock zusammengebrochen, so dokumentieren es Zeugen und Bilder. Der Betriebsarzt der Georg Fischer AG erscheint und verabreicht ihm Valium. Später wird das Unternehmen behaupten, er habe die Sache nach den Tabletten gelassen hingenommen.

Die GF lässt an diesem Morgen des 16. Mai 1975, dem Freitag vor Pfingsten, die Arbeitersiedlung Pantli in einer klandestinen Nacht-und-Nebel-Aktion schleifen und kommt so politischen Verhandlungen zuvor. Die Bilder von berstenden Balken und Schutt und Asche gehen durch die Schweiz. In Schaffhausen löst das Vorgehen breite Empörung aus. Die Gruppe Pro Pantli, welche die Gebäude retten wollte, hat bis zum Auffahren der Bagger noch auf Verhandlungen gehofft. Sie ist genarrt worden.

Am Ende des Tages ist eine aussergewöhnliche Siedlung untergegangen. Mit ihr endet die Ära eines sozialen Experiments. Eines, das Träume geweckt hatte – und die Hoffnung, man könnte es in eine alternative Form und in eine neue Zeit überführen.

Einzigartig und fremd

Das Pantli war ein Kind des frühen 20. Jahrhunderts, geboren aus dem industriellen Aufschwung der Kriegsjahre und der aufkommenden Wohnungsnot. Die Georg Fischer AG boomte und musste sich eine hohe Zahl an Arbeitskräften sichern. So entstand zwischen 1916 und 1918 die werkeigene Siedlung mit 26 Wohnungen im Wald zwischen Stetten und Schaffhausen.

Der wache Unternehmergeist verquickte die soziale Frage mit der langfristigen Bindung der GF-Arbeiter: Die Wohnkolonie war von Gärten, Wiesen und Weideland umgeben, welche von den Arbeiterfamilien zum Eigenbedarf bewirtschaftet werden mussten. So zahlte man den Leuten niedrige Löhne, liess sie dafür günstig wohnen und sich selbst versorgen: Vor und nach ihren Schichten krampften die Arbeiter im Stall, Feld und Wald, Zeit für anderes blieb daneben kaum.

Foto: Stadtarchiv
Foto: Stadtarchiv

Ein weitgehend autonomes, von der Welt abgeschlossenes Arbeiter-Dörfchen im Wald: Das klang fast schon nach einer Kolchose; das war, zumindest in Schaffhausen, einzigartig. Fremd auch. Die «Pantlianer» galten als verschworene Gemeinschaft, man wusste nicht viel von ihnen. Und vor allem gehörten sie zur ärmsten gesellschaftlichen Schicht. So lag um das Pantli immer der Zauber des Verruchten und Verrufenen. Das alternative Monatsmagazin Info, fasziniert von der Arbeitersiedlung, wurde rund um ihren geplanten Abbruch aktiv und ging dem Leben im Pantli in einer Reportagen-Serie nach. Ein GF-Arbeiter und Bewohner erster Stunde erzählte darin, wie notdürftig sie früher im Pantli lebten. Solange die Kleinsten nicht zur Schule gingen, hätten selbst die Buben Röckli getragen, weil man dafür weniger Stoff als für Hosen gebraucht habe. Chancen, ihrem Dunstkreis zu entkommen, hatten die Leute in den frühen Jahren kaum. Die Arbeiterkinder wurden in der Schule, die sie in ihrer Gemeinde Stetten besuchten, unten gehalten.

Die Ausgrenzung schweisste die Kinder aus dem Pantli auch später noch zusammen. Oft waren sie wie Pech und Schwefel. Wenn du dich mit einem Pantlianer anlegst, musst du mit einem zweiten rechnen, das wussten die Buben in Herblingen, die sich im Wald Schlachten mit den Arbeiterkindern lieferten.

Enges Zusammenleben

Monika Nonella, geborene Röthlisberger, wuchs im Pantli auf, bis sie 16 Jahre alt war. Sie war immer stolz, Pantlianerin zu sein, und hat ihre Kindheit in den 60er- und 70er-Jahren geradezu paradiesisch in Erinnerung, obwohl immer Arbeit anstand, so erzählt sie am Telefon. «Wir machten alles gemeinsam, immer draussen in der Natur: Erbsen auf den Feldern verlesen, Bohnen fädeln, Holzen, Spiele erfinden. Bei Regen sassen und arbeiteten wir unter den Arkaden zwischen den Häusern. Selbst einen eigenen Konsum hatte es bei uns, da gab es immer wieder mal ein Zältli. Im Winter spritzten unsere Väter die Ringstrasse um die Siedlung und machten sie für uns zur Eisbahn.»

Monika Nonellas Vater war Maschinenschlosser-Meister und führte in der Maschinenfabrik eine Abteilung, die Werkzeug- und Webereimaschinen für viele europäische Länder produzierte. Er engagierte sich in der Schulbehörde in Stetten, und auch in der Siedlung nahm er eine wichtige Rolle ein. Wenn gewählt und abgestimmt wurde, kam einer aus Stetten mit der Urne ins Haus Röthlisberger. In der Stube wurde dann das Wahlbüro eröffnet, während die Männer einen Weissen tranken und die Kinder auf dem warmen «Chüstli» des Kachelofens steckten und dem Politisieren lauschten. Röthlisberger war zu jener Zeit so etwas wie der Sprecher des Pantlis: Wenns Streit gab, Regeln gemacht oder Entscheidungen getroffen werden mussten, kam man zu ihm. Auch das einzige Telefon in der Siedlung hing bei der Familie zu Hause an der Wand, der Vater liess einen Zähler installieren, so herrschte oft Betrieb im Gang der Wohnung, wenn zum Beispiel ein Arzt oder ein Taxi benötigt wurde.

Das Zusammenleben war eine soziale Herausforderung. Schon rein organisatorisch: Man war aufeinander angewiesen. Geräte wie Vorschlaghammer oder grosse Leiterwagen wurden unter der Bewohnerschaft geteilt. Wann können wir was machen und mit welchen Werkzeugen? Das sei in der Familie immer ein Thema gewesen, erinnert sich Daniel Meister bei einem Treffen mit der AZ an seine Kindheit im Pantli. «Für uns Kinder war das Zusammenleben toll, aber ich würde heute nicht mehr in so einer engen Gemeinschaft wohnen wollen.» Die Familie Meister war eine der letzten, die noch im Pantli blieben. Die GF vermietete die Wohnungen seit Ende 60er-Jahre nicht mehr neu und begann, die verbleibenden Familien auszusiedeln.

Daniel Meister sagt, er als damals 18-Jähriger und seine Geschwister seien schon froh gewesen, als sie 1973, zwei Jahre vor Abbruch, ausziehen konnten: in eine gute Wohnung, die GF der Familie vermittelt hatte. Zuvor hatten sie nur einen einzigen Wasseranschluss in der Wohnung, Kaltwasser in der Küche, Pantli-Standard halt. Damit seien sie als Teenager nicht mehr besonders glücklich gewesen. Auch sei das nur noch von wenigen Leuten bewohnte Gelände in den letzten Jahren zusehends verwahrlost. Bis es 1975 dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Machtdemonstration

Dass über dem Pantli an jenem Freitagmorgen des 16. Mai 1975 Staub aufsteigt, verbreitet sich wie ein Lauffeuer in Schaffhausen. Einer ruft den andern an. Auch die Presse ist bereits informiert. Am Ort des Geschehens warten die GF-Verantwortlichen, welche den Coup generalstabsmässig geplant haben. An vorderster Stelle Vize-Direktor Henri Wegmann, der Mann mit der getönten Brille, der für die GF-Liegenschaften zuständig war. Ein Journalist von SRF fragt ihn nach den Gründen für die überstürzte Abbruchaktion. Wegmann antwortet, man habe berechtigte Anhaltspunkte gehabt, dass einer von der POCH als Wachposten aufgestellt worden sei und beim Aufkreuzen der Baumaschinen sofort eine Hausbesetzung in Gang gesetzt hätte.

Der SRF-Journalist fragt: Was hätte Ihnen das geschadet, wenn die POCH hier besetzt hätte?

Wegmann: Wir wollten unter allen Umständen eine Besetzung dieser Altüberbauung vermeiden.

SRF-Journalist: Können Sie mir die Gründe nennen?

Wegmann: Die Gründe sehen sie in Kaiseraugst … Wir wollten das verhindern, es hätte eine ungute Auseinandersetzung gegeben.

SRF-Journalist: Aber Sie hätten ja eigentlich nichts verloren dadurch.

Wegmann: Aber auch nichts gewonnen.

Die Angst vor einem Widerstand nach dem Beispiel von Kaiseraugst – das Gelände des geplanten AKW wurde zur selben Zeit besetzt – mochte real gewesen sein. Die Anhaltspunkte waren es weniger. Der spätere POCH-Kantonsrat Ulrich Wickli, der die Vereinigung «Pro Pantli» präsidierte, stellt damals wie heute klar: Es war nie eine Besetzung geplant. So wird es auch von anderen Zeitzeugen bestätigt. Die Gruppe Pro Pantli hatte sich kurz vor dem Abbruch formiert. Sie hatte gehofft, die Siedlung genossenschaftlich übernehmen zu können, und setzte auf Verhandlungen mit der GF. Sogar einen gemeinsamen Termin hatte man bereits, vermittelt durch Stadtrat Jörg Aellig – die GF kam diesem aber überraschend zuvor. Die Verträge der wenigen verbleibenden Mieter wären Ende Mai 1975 ausgelaufen – vielleicht fürchtete die Konzernleitung die freien Tage über Pfingsten, in denen die Jungen bekanntlich gerne festeten und sie selbst reaktionsunfähig gewesen wären.

Wie viel die Politik über den Coup im Vorhinein wusste, ist nicht bekannt. Die betroffene Firma jedenfalls reagierte mit einer militärischen Übung auf die emanzipatorische Bewegung der jungen 68er, die nach neuen Wohn- und Lebensformen suchte. Im Pantli hatten die jungen Leute ein Ideal gesehen: einen autonomen Ort, um ihre Ideen zu verwirklichen. Nun war er untergegangen. Der wohnbaugenossenschaftliche Gedanken aber erstickte nicht in Schaffhausen und kommt in letzter Zeit gerade zu einem neuen Aufschwung.

Gedanke aktueller denn je

Das Thema Wohnbaugenossenschaft ist heute in Schaffhausen aktuell wie nie: Günstiger Wohnraum ist knapp, an guten Ideen hingegen mangelt es nicht. In den vergangenen Jahren sind mehrere Wohnbaugenossenschaften entstanden (eine umfassende Analyse finden Sie in der AZ vom 6. Februar 2020), und im Grossen Stadtrat ist gerade die Wohnrauminitiative der AL in der Pipeline, welche fordert, dass gemeinnützige Wohnbauträger einen Anteil von mindestens zehn Prozent aller Wohnungen in der Stadt halten. Projekte wie das der Legeno auf dem Wagenareal zeugen davon, dass auch heute wieder, wie in den 70er-Jahren, nach unkonventionellen Wohnformen gesucht wird, wo etwa auf ein privates Auto verzichtet, dafür Elektro-Autos und -Velos geteilt werden können. Vielleicht wird irgendwo wieder ein neues «Pantli» entstehen, zumindest im Geiste.

Mehr über diese Recherche im Hintergrundgespräch mit der Autorin:

Nora Leutert im Gespräch mit Patrizia Bechler über ihre Recherche zum Ende der Arbeitersiedlung «Pantli», AZ vom 20. Mai 2021

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