Die Traditionen rund um die Hirschkolonie sind nicht reaktionär genug: Da geht noch mehr. Eine Glosse.
Liebe Schaffhauserinnen und Schaffhauser, ich will euch eure Traditionen nicht madig machen. Im Gegenteil, ich mag alberne Traditionen. Und ich mag Schaffhausen. Als ich das erste Mal hier war und mir den Munot angesehen habe, dachte ich: Rosen, Reben und Rehe, in was für ein Disney-Filmset bin ich geraten?
Und es sind auch nicht irgendwelche Hirsche, nein, es sind die, die aussehen wie Bambi. Mit Puschelschwänzchen, weissen Punkten und schwarzen Rehaugen mit langen Wimpern. Süss.
Und dann höre ich, dass der neue Hirsch, der dort mit den ansonsten ausschliesslich weiblichen Hirschen lebt, Peter heisst. Benannt nach dem Stadtpräsidenten Peter Neukomm. Es sei «Tradition», den Hirsch jeweils nach dem amtierenden Stadtpräsidenten zu benennen, heisst es.
Bin ich doch aus Versehen auf dem Filmset von Downton Abbey gelandet? Denn solche reaktionären Traditionen hätte sich der englische Adel nicht besser ausdenken können. Das machen wir schon seit 500 Jahren so! Darf ich vorstellen, das hier ist Peter der II., direkter Nachfahre der Hofhirsche der Königsfamilie XY.
In Schaffhausen wird der Hirsch aber erst seit 1980 nach dem Stadtpräsidenten benannt. Damals gab es einen Wettbewerb für die Namensfindung und der Name Felix – nach Stadtpräsident Felix Schwank – gewann. Das bürgerte sich so ein, mit immer mehr Brimborium mit jedem neuen Hirschen, Taufe und so. Ganz grosse Sache. Seitdem gab es noch Max, Marcel und Thomas und jetzt eben Peter, den II. schon!
Bitte was? In England, wo es nie eine bürgerliche Revolution gab und man jahrhundertealte, beknackte Traditionen weiterführt, hätte ich das erwartet. Aber in den 80ern in der Schweiz, da gab es sogar schon das Frauenstimmrecht. Was ist, wenn der Stadtpräsident eine Frau ist? Heisst der Hirsch dann Petra?
Das hat man bei der Erfindung dieser «Tradition» 1980 nicht bedacht. Klar, eine Stadtpräsidentin, wo kämen wir hin. Stadtforstmeister Walter Vogelsanger sagte vor der Wahl 2008, dass er ratlos sei, was dann zu tun sei. Aber damals erübrigte sich das Problem, denn eine Frau stand nicht zur Wahl. Puh, Glück gehabt. Ein Leserbrief in den SN von damals schlug vor, dass in einem solchen Fall die «oberste Haremsdame» nach der Stadtpräsidentin benannt werden könnte. Was für eine Ehre.
Wie heissen eigentlich die «Haremsdamen», frage ich mich da. Es stellt sich raus und ich bitte um Entschuldigung für die Lautstärke: DIE HIRSCHKÜHE HABEN KEINE NAMEN. Die Hirschkühe, das sind also einfach Brutmaschinen. Ganz zuckersüss.
Habe ich schon erwähnt, dass männliche Hirsche ausserdem zu regelrechten Arschlöchern mutieren in der Brunftzeit? Ich erinnere mich an Besuche im Tierpark mit gar nicht mehr kinderfreundlichen Szenen, in denen der Platzhirsch unter lautem Röhren jede einzelne Hirschkuh auf der Wiese belästigte. Die Kühe suchten schnellstmöglich das Weite.
Aber es kommt noch schlimmer. Der Nachwuchs am Munot, die schnuckeligen kleinen Bambis, wird in andere Tierparks verfrachtet oder, und jetzt kommts, abgeknallt. Beziehungsweise ihre Mütter, je nachdem, wen die Kugel trifft. Ja, richtig gelesen. Einmal im Jahr stehen Jäger an der Brüstung und schiessen die überzähligen Tiere ab. Um Inzucht zu vermeiden. Macht ja auch Sinn. In Disney-Filmen stirbt auch immer die Mutter.
Obwohl mir langsam klar wird: Das hier ist nicht Disney und es ist auch nicht Downton Abbey. Nein, das hier sind die Hunger Games, in denen Unschuldige für die Unterhaltung der oberen Klassen ein knallhartes Spiel um ihr Überleben kämpfen müssen. Nur der Platzhirsch ist fein raus.
Wenn schon Tradition, dann aber bitte richtig. Um zu entscheiden, welche Tiere in diesem Jahr abgeknallt werden, sollten eine Art tierische Hunger Games inszeniert werden. Die Hirsche werden in ein Spiel verwickelt, bei dem nur Peter Neukomm die Regeln versteht. Sie treten in verschiedenen Herausforderungen gegeneinander an, bei denen ihnen selbst nicht klar sein darf, worum es eigentlich geht. Die Verliererin wird jeweils abgeknallt. Die SN berichten live.
Am Ende opfert sich eine Hirschkuh, weil sie heimlich in Peter verliebt ist, trotz seiner extrem übergriffigen Art. Dann hat wenigstens auch die Klatschpresse etwas zu berichten («Tragisches Ende einer grossen Liebe – Peter jetzt auf Tinder»).
Die erschossenen Tiere werden dann zubereitet und bei einem Festschmaus von ranghohen, natürlich nur männlichen Angehörigen der städtischen Elite auf dem Munot verspeist. 1996 sorgten sich die Leute noch, ob der alte Hirsch Max so enden würde. «Max wird nicht gemetzget», konntes die SN beruhigen. Die Platzhirsche gingen einfach in Rente. In diesen Genuss dürfen die Mütter und Kinder niemals kommen! Erst metzeln, dann metzgen. Aber Vorsicht, da ist Schrot im Fleisch.