Doktor Schweizerski

18. Mai 2021, Marlon Rusch
Dr. med. Hermann Peyer, gemalt von Richard Emil Amsler 1915.
Dr. med. Hermann Peyer, gemalt von Richard Emil Amsler 1915.

Ein Leben wie ein Drehbuch: Der Arzt Hermann Peyer wäre mit Diamanten fast sagenhaft reich geworden, verkehrte mit dem König von Montenegro und rettete tausende Leben. Schliesslich erlag er einem Pilz. Nun erscheint seine Biografie.

Seinem Tod begegnete Hermann Peyer wie dem Leben: Er ging beherzt in die Offensive.

1922 fasste er seine Krankheitsgeschichte in Reimform. Das kurze Stück trug den Titel: «Der Aktinomyces. Eine höchst schauervolle Ballade von einem Doktor und seiner Pilz-Kultur»:

Am 28. Mai fuhr zum Zeitvertreib,
Der Aktinomyces mir in den Leib.
Gleich fing im Blinddarm er an zu zwicken,
Man schnitt ihn heraus; man musste mich flicken.
Drauf lag ich 17 Tage am Marterpfahl
Im Zürcher Rot-Kreuz-Privat-Spital.
Dann hiess es, ich sei völlig geheilt;
Ich bin mit Freuden hinausgeeilt,
Und glaubte, ich sei aller Sorgen frei,
Und mein Leib wieder gesund wie im Anfang Mai.
Doch plötzlich so gegen Ende August,
Packt den Aktinomyces neue Lebenslust.

Heute, 100 Jahre später, hätte man den Schaffhauser Arzt vermutlich mit Antibiotika repariert. Damals aber, kurz nach Verfassen seiner Ballade, erlag er dem verhängnisvollen Strahlenpilz. Ein absurder Tod für einen Mann, der das verwegene Leben eines Abenteurers geführt hatte. Man wäre wohl weniger erstaunt gewesen, seinen Körper von osmanischen Artilleriegranaten zerfetzt in einem Schützengraben aufzufinden, oder von aufständischen Indigenen erschlagen in der namibischen Wüste.

Wollte man Peyers Leben auf die Leinwand bringen, das Format des Spielfilms wäre wohl eine Herausforderung; anbieten würde sich viel eher eine Serie.

Nun liegt etwas anderes vor, ein Buch: Südafrika, Namibia, Mürren, Montenegro. Der Schaffhauser Arzt Hermann Peyer (1873–1923), verfasst von einem entfernten Verwandten, Hans Berger-Peyer, einem promovierten Historiker in den fortschreitenden Siebzigern, der, zumindest der Publikation nach zu urteilen, erstaunlich agil geblieben ist.

Nun aber hinein in den sagenhaften Stoff.

Südafrika

Die Peyers sind eines der grossen Schaffhauser Patrizier-Geschlechter. Den jungen Hermann aber trieb das Fernweh immer wieder dorthin, wo er wirklich gebraucht wurde, wo er sich selbst bis zur totalen Erschöpfung aufreiben konnte, wo Tod und totaler Erfolg näher beisammen lagen als in der damals schon ordentlich getakteten Schweiz – an Orte, wo noch Helden geboren wurden.

Nach dem Medizin-Studium reiste er 1901 also nach Südafrika, mitten hinein in den Burenkrieg, um in Port Elizabeth bald eine eigene Praxis aufzubauen.

Als Leserschaft sind wir dank hunderten von ausführlichen Briefen, die der junge Arzt über die Jahre an seine Familie in Schaffhausen sandte, und die der Biografie als Primärquelle dienen, mittendrin. Wir erleben die 37-tägige Reise, wir erfahren, was der Bildungsbürger Peyer über die Konzentrationslager dachte, die bereits die Apartheid andeuteten (er war ziemlich anteilnahmslos), wir lernen die Lebensmittelpreise ebenso kennen wie die hygienischen Zustände, welche die Typhus-Salmonellen geradezu einluden, oder die noblen Gepflogenheiten in der britischen Oberschicht, in der er verkehrte.

Der Historiker Berger-Peyer begegnet dem Leben Hermann Peyers laut Vorwort mit dem «nüchternen Blick eines Wissenschafters und Historikers», gleichzeitig lasse er «Respekt und Liebe eines Verwandten» walten. Eine treffende Beschreibung.

Wie sich der Arzt zu den verschiedenen Volksgruppen äusserte, die er in seinen zehn Jahren in der Ferne antraf, mag einen aufs erste Lesen erschrecken: «Die Kaffern haben alle Fehler und alle guten Eigenschaften von kleinen Kindern. Sie sind faul und schmutzig, wenn sie aber unter Aufsicht arbeiten, gut zu gebrauchen. Sie stehlen wie die Raben, betrinken sich, wenn sie nur können.» Solche Sätze widerspiegeln aber nichts weiter als die vorherrschenden Konventionen der damaligen Zeit.

Ganz allgemein liegt mit diesem Buch zwar in erster Linie der Bericht eines unglaublich erzählenswerten Lebens vor, doch Autor Berger-Peyer ordnet auf den über 500 Seiten auch geschickt ein, webt um die Biografie des Grossvaters seiner Ehefrau eine eingängliche Sozialgeschichte von verschiedenen Flecken einer Welt, die im totalen Umbruch begriffen war.

Methodisch wagt das Buch einen Spagat: Es ist von der Form her Sachbuch, mit vielen Verweisen, vielen Quellen, vielen Namen – wissenschaftlichen Relativierung, wie sie eine tüchtige Storytellerin eliminieren würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Dennoch ist das Buch auch Abenteuergeschichte. Man hätte auch nur Zweiteres schreiben können, dann hätte man sich viele Seiten sparen können. Doch das kann man auch getrost Netflix überlassen…

Namibia

Peyer, der Südafrika wirtschaftlich abgebrannt verlassen hatte, spülte es weiter. Bald wurde der mittlerweile erfahrene Tropenmediziner von einer deutschen Gesellschaft, die eine Eisenbahnlinie durch das heutige Namibia verlegte, als Bahnarzt eingestellt. Und wieder geriet er mitten hinein in ein Kolonialisierungsprojekt mit tödlichen Nebenwirkungen für die indigene Bevölkerung. Die Frauen und Männer, für deren Gesundheit er zu sorgen hatte, waren zum Grossteil Zwangsarbeiter aus dem Viehhalter-Volk der Herero, die von den Deutschen brutal unterjocht und vernichtet wurden. Heute spricht man von einem Genozid.

Es grassierten Tuberkulose, Ruhr, Skorbut, Fleckfieber und Typhus, die Sterblichkeit war immens. Wieder äusserte sich Peyer hochgradig emotionslos als Befürworter der völlig überforderten deutschen Kolonialpolitik, jedoch impfte er auch fleissig und erhöhte etwa die Verpflegungsrationen der Arbeiter, um den Skorbut einzudämmen. Mit avantgardistischen Methoden verdiente sich der Schaffhauser Arzt immer wieder medizinische Meriten. Von seiner Arbeit lasen seine daheim gebliebenen Zeitgenossen immer wieder etwa in der NZZ.

Doch Peyer war nicht nur «Doctor», er war auch «Cowboy», baute eine Farm auf und spielte eine Hauptrolle in der erstmaligen Entdeckung von Diamanten, die ihm beinahe zu unermesslichem Reichtum verhalfen, ihn schliesslich aber in eine tiefe Depression und fast in den Suizid stürzten und schliesslich – fast gebrochen – in die Schweiz zurückkatapultierten.

Die Diamantfelder, die er mitentdeckte, erwiesen sich gemäss Peyer «als die reichsten der Welt». Noch heute werden in Namibia jährlich fast 2 Millionen Karat abgebaut, 98 Prozent davon gelten als «Schmuckdiamanten». Die Episode um Schürflizenzen, Gerichtsverfahren und zerbrochene Freundschaften wäre allein schon einen Spielfilm wert. Sein grösstes Abenteuer aber stand Hermann Peyer erst noch bevor.

Montenegro

Als der montenegrinische König Nikola I. gegen die Osmanen in den Krieg zog und der Erste Balkankrieg ausbrach, begleitet von der unkontrollierten Cholera, schrieb Peyer aus Berlin: «Nach den Berichten, die gestern von Montenegro kamen, scheint dort grosser Mangel an Ärzten zu sein. Da wäre jedenfalls mehr zu tun und zu lernen als hier.»

Mit unendlichem Eifer sammelte er Spenden und Material zusammen und hatte bald ein bewegliches Feldlazarett für 40 Patienten auf Pferdekarren zusammen, mit dem er vor das Haus der Königsfamilie zog.

Bald steckte er, der spätere Chef des montenegrinischen Militärsanitätswesens, im eisigen Sumpf einer Belagerung, marschierte über schneebedeckte Gebirge, schlug sich mit dem «orientalischen Phlegma» seiner Untergebenen herum, organisierte gegen alle Widerstände Material und flickte abertausende Verwundete zusammen.

Peyer, ganz der Schweizer, versuchte, ein ganzes Heer umzukrempeln und es von Schmutz und Schlendrian zu befreien, sodass es dem Personal dort auch besser gefalle «als ihr vorheriges faules, nutzloses Hiersein».

Es prallten Welten aufeinander, doch der Schaffhauser Arzt kam gut an, er wurde zum Vertrauten einer Grossfürstin, und als der Erste Weltkrieg ausbrach, bemühte sich der König persönlich darum, dass Peyer mit Leitungsfunktion in den Staatsdienst eintrat. Dieser schrieb bald in die Heimat: «Man erwartet von mir auch Reorganisation des Militärsanitätswesens und Organisation des Roten Kreuzes. Das sind alles Aufgaben, die mich sehr locken. Da ich nach König und General Vukotić wohl der populärste Mann im Lande bin, kann ich überall mit Unterstützung rechnen.»

Und so mischte «Doktor Schweizerski» ordentlich auf, bis ihn eine Krankheit in die Heimat zurückzwang, sodass er die Kapitulation Montenegros 1916 nicht mehr miterlebte.

Selbstredend, dass er sich auch in der Schweiz nicht zur Ruhe setzte. Und wer weiss, was noch alles gekommen wäre, hätte nicht die Aktinomyces angefangen, an Peyers Blinddarm zu zwicken.

«Südafrika, Namibia, Mürren, Montenegro» erschien im Chronos-Verlag und ist im Buchhandel erhältlich.