Seit einem Jahr trägt ein früherer Physiklehrer die Verantwortung für die Schaffhauser Corona-Strategie. Wie hat sich Walter Vogelsanger geschlagen? Eine Einordnung.
Wenn sie wieder da ist, die grosse Freiheit, würde Walter Vogelsanger gerne mit seiner Männergruppe tschutten, danach in der Kneipe ein Bier trinken und einen Jass klopfen. Ganz normale, unspektakuläre Dinge. Das, was ein bodenständiger Mensch halt so macht, würde das Leben seinen gewohnten Lauf nehmen.
Dieser Tage sind selbst diese kleinen Dinge immer noch nicht möglich. Nicht für Vogelsanger, nicht für alle anderen. Stattdessen steht Vogelsanger seit einem Jahr an der Spitze eines Schaffhauser Krisenmanagements, das irgendwie versucht, die Corona-Pandemie soweit möglich zu kontrollieren. Er trägt die oberste Verantwortung, wiedergewählt vom Stimmvolk, mitten in der Pandemie.
Wie hat er diese Führungsaufgabe bis dato erfüllt? Gut? Schlecht? Ist es überhaupt angebracht, über die Leistung eines Einzelnen in dieser Krise zu urteilen? Und falls doch: Wie könnte man Vogelsangers Leistung messen?
Die Zahlen
Nähme man Zahlen als Massstab, könnte man zu Schluss kommen: Walter Vogelsanger ist einer der besten Gesundheitsdirektoren der Schweiz.
Seit Beginn der Pandemie bis zum 2. April zählt Schaffhausen laut Bundesamt für Gesundheit 4014 bestätigte Coronafälle. Im Vergleich nach der Grösse der Bevölkerung ist das der tiefste Wert der ganzen Schweiz. Zwischenzeitlich schreibt der Blick über Schaffhausen vom «Corona-Wunder am Rheinfall».
Im gleichen Zeitraum zählt Schaffhausen 66 Todesfälle im Zusammenhang mit einer Covid-Erkrankung. Nur in fünf Kantonen – auch hier gemessen an der Einwohnerzahl – starben weniger.
Beim Impfen liegt Schaffhausen ebenfalls weit vorne. Per 7. April hat Schaffhausen laut SRF 9,2 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Das ist der zweithöchste Anteil aller Kantone. Der schweizweite Schnitt liegt bei
7 Prozent.
Man kann diese Zahlen hinterfragen. Man kann sagen, wir hatten einfach Glück, weil wir nicht an Italien oder an Frankreich grenzen.
Die Lage in den Nachbarstaaten hatte vermutlich einen Einfluss. Aber die Zahlen sind dennoch so, wie sie sind. Und sie hängen womöglich auch damit zusammen: Laut der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich hatte kein Kanton vom 6. Dezember 2020 bis zum 17. Januar 2021 strengere Einschränkungen verfügt als Schaffhausen. Es gab höchstens ein paar Kantone, die phasenweise gleich rigoros waren. Und dass die Strenge der Massnahmen wohl einen Einfluss auf die Höhe der Fallzahlen hat, konstatierte die Hochschule bereits im Herbst anlässlich der zweiten Welle. Demnach sank die Reproduktionszahl in Kantonen mit restriktiveren Corona-Regimes stärker als in anderen Kantonen.
Lob vom liberalen Hardliner
Vor dem Dezember allerdings hatte Schaffhausen wie viele andere Kantone lange mit Massnahmen zugewartet, was dazu führte, dass sich ausgerechnet der liberale Hardliner Christian Heydecker Mitte November in einem Leserbrief voller Lob über den Schaffhauser Gesundheitsdirektor äusserte: «Da zeigt ein SP-Regierungsrat Rückgrat, widersteht den Verlockungen einer einfachen Lösung und setzt konsequent – das lässt das Herz eines jeden Liberalen vor Freude hüpfen – auf die Eigenverantwortung des Einzelnen. Statt die Schliessung von Restaurants, Läden und Museen anzuordnen oder private Treffen mit mehr als fünf Personen zu verbieten, appelliert SP-Gesundheitsdirektor Walter Vogelsanger an die Bevölkerung, appelliert an deren Eigenverantwortung. Recht so!»
Inzwischen wissen wir: Die Sache mit der Eigenverantwortung hat nicht wirklich funktioniert. Und die Schaffhauser Regierung zog die Schraube dann doch noch an.
Trotz des Zuwartens im Herbst sind die Zahlen so, wie sie sind. Und wie gesagt: Man könnte daraus schliessen, dass Walter Vogelsanger einer der besten Gesundheitsdirektoren der Schweiz ist. Das aber scheinen die wenigsten zu tun.
Die Meinungen über Walter Vogelsanger in Leserbriefen, in Medienkreisen und in der Schaffhauser Politik sind mehrheitlich negativ. Einige forderten schon seinen Rücktritt. Und auf eine Umfrage der AZ bei allen 60 Kantonsratsmitgliedern will nicht eine Person dem Gesundheitsdirektor im Umgang mit der Corona-Pandemie eine gute Note ausstellen. Nicht einmal seine eigene Partei, die SP. Grossmehrheitlich hält man es für nicht opportun, Vogelsangers Krisenmanagement zu bewerten. Wenn man jemandem den Rücken stärken wollte, würde man anders reagieren.
Woran liegt es, dass kaum jemand lobende Worte über Vogelsanger äussert?
Hier wiederum sind sich viele einig: an der Art und Weise, wie der Gesundheitsdirektor auftritt und kommuniziert. Vielleicht hat er mit seinen Worten mehr Schaden angerichtet als mit seinen Entscheiden hinter den Kulissen. Jedenfalls: Ein Kommunikationsprofi ist Vogelsanger nicht, war er nie, ist er in der Krise nicht geworden. Er ist so, wie er früher war. Manche sagen: behäbig, farblos, ruhig. Oder positiver formuliert: unaufgeregt. Kommunikative Fehler aber, die sind nicht wegzudiskutieren.
Die Sache mit der Impfung
Der Super-GAU des vogelsangerschen Corona-Managements war seine eigene Impfung. Ende Januar machte die NZZ publik, dass sich der Schaffhauser Gesundheitsdirektor als einer von schweizweit nur zwei Regierungsräten impfen liess, obwohl er nicht zu einer Risikogruppe zählt. Gegenüber den SN sagte Vogelsanger kurze Zeit später, er würde mittlerweile anders entscheiden. Da waren die Meinungen vielerorts aber schon gemacht. «Sie waren nicht dran, Herr Vogelsanger! Unter Missbrauch Ihrer Stellung und Ihrer Macht haben Sie Tausenden von vorbelasteten oder alten Menschen schamlos den Vortritt genommen.» Das schrieb Kurt Fehr in einem Leserbrief in den SN. «Nur weil er in dieser Coronakrise das ‹Sagen› hat, meint Herr Vogelsanger scheinbar, dass er sich früher impfen lassen kann als andere. Was für ein Verhalten! Da gibt es nur eines, Herr Vogelsanger: sofortiger Rücktritt.» Diese Zeilen verfasste Andreas Henniger.
Darauf wiederum kamen Leserbriefe, die Vogelsanger in Schutz nahmen. «Nun geht unser Gesundheitsminister mit gutem Beispiel voran, sich impfen zu lassen, und es hagelt Kritik, dass es nicht mehr schön ist. Das Impfzentrum Charlottenfels war auch nicht recht! Zu wenig Masken, zu wenig Impfdosen und so weiter und so fort. Nie ist es recht! Warum reagieren wir so? Ist es das Unfassbare, das Ungewisse? Ich weiss es nicht, doch mit dieser ewigen Kritik wird nichts besser. Zählen wir doch mal das Positive auf: Wir dürfen noch raus, das Wichtigste einkaufen, spazieren, wandern, Freunde treffen, ja sogar in die Sportferien.» Das schrieb Heidi Scherer. Und Willi Stamm meinte: «Wer keine Fehler hat, der werfe den ersten Stein.»
Schon zwei Wochen zuvor hatte Vogelsanger bei einigen für Kopfschütteln gesorgt. «Ich habe Covid im Griff, nicht zuletzt dank dem sehr grossen täglichen Effort der Mitarbeitenden», sagte der Gesundheitsdirektor in den SN. Der Leser Markus Fuchs reagierte: «Wie kommt es, dass die ganze Welt Covid-19 nicht im Griff hat und Walter Vogelsanger behauptet für sich das Gegenteil. Es ist ein Affront gegenüber der gebeutelten Bevölkerung, dies auch nur im Ansatz zu behaupten. Für mich sind solche Aussagen ein Zeichen von Arroganz oder ist es vielleicht doch Unsicherheit.»
Schon als Lehrer unauffällig
«Im Bereich der Kommunikation gibt es bestimmt noch Luft nach oben.» Das sagt Kantilehrer Roman Staude, einst ein Arbeitskollege von Walter Vogelsanger. Vor seiner Wahl in den Regierungsrat im Jahr 2016 war Vogelsanger Physiklehrer an der Kantonsschule.
Eine ehemalige Schülerin sagt: «Vogelsanger war einer dieser Lehrer, die keinen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, weder im positiven noch im negativen Sinn.» Eine andere meint, er sei nicht besonders streng gewesen und habe vergleichsweise wenig abverlangt. Sein Unterricht sei humorvoll gewesen, seine Witze teilweise aber grenzwertig.
Den Kontakt zur Kanti hat Vogelsanger nach seinem Jobwechsel nicht abgebrochen. Zusammen mit anderen Kantilehrern und Bekannten verabredete man sich jeweils freitagabends zum Tschutten in einer Turnhalle. Später zog man auf ein Blondes und einen Jass in die Beiz. Diese Freitagabende seien etwas, das er sehr vermisse, sagt Vogelsanger im Gespräch mit der AZ.
Roman Staude sagt, man könne aufgrund seiner öffentlichen Auftritte durchaus den Eindruck erhalten, Walter Vogelsanger versuche die Probleme ein Stück weit wegzulächeln. Eigentlich sei er aber anders: «Er ist ein selbstkritischer Mensch. Er kam auch deshalb immer wieder zum Tschutten, weil er die Bodenhaftung nicht verlieren wollte. Er fragt aktiv, was wir von seinen Entscheiden halten, und er will, dass wir ehrlich sind. Das bekommt er dann auch zu hören.» Generell sei Vogelsanger eher ein Organisator als ein Kommunikator. Die bisweilen mangelhafte Kommunikation beschränke sich aber nicht ausschliesslich auf das Departement des Innern, auch aus anderen Departementen würde man sich oft eine proaktivere Kommunikation wünschen, findet Staude. «Die Information ist für den Bürger sehr wichtig, oft scheinen die Verantwortlichen diesem Bereich aber nicht die nötige Bedeutung beizumessen, oder es fehlt schlicht das Knowhow. Vielleicht würde es sich lohnen, seitens der Regierung in diesen Bereich zu investieren, auch personell.»
Ein Hauch von Selbstkritik
Ein kommunikativer Fehler erfolgte auch bei der Trennung von der früheren Kantonsärztin. Vogelsanger verschwieg den Abgang von Maha Züger, bis ihn Radio Munot wenige Tage vor den Regierungsratswahlen publik machte. Die Trennung von Züger war aus fachlicher Sicht vermutlich angebracht. Züger verbreitete via SN viel zu hohe Corona-Fallzahlen und schürte Zweifel, dass das Contact Tracing funktioniere, während gleichzeitig Zivilschützer, die just mit dieser Aufgabe betraut waren, vor Langeweile mit Däumchendrehen beschäftigt waren, weil die geschaffenen Kapazitäten beim Contact Tracing für die doppelte Anzahl Fälle ausgereicht hätten. Dennoch hätte dieser Personalentscheid proaktiv kommuniziert werden müssen. Ebenso wie Vogelsangers Impfung. Denn: Wer nicht aktiv kommuniziert, läuft Gefahr, den Eindruck zu erwecken, etwas zu verbergen und die Lage nicht im Griff zu haben. Vogelsanger und das gesamte Gesundheitsdepartement scheinen zumeist von der Pandemie, den Medien und den Forderungen aus der Bevölkerung getrieben zu werden.
Dabei zeigte Vogelsanger selber schon einmal, dass es auch anders geht, dass er Fehler eingestehen kann. Im Fall der überteuerten Kantonswebsite stand er im Herbst vor die Medien und entschuldigte sich. In Sachen Corona sieht Vogelsanger indes keinen Anlass, sich für etwas zu entschuldigen. Gleichzeitig gesteht er ein: Massentests, wie sie Graubünden schon vor Wochen eingeführt hatte, das hätte Schaffhausen auch machen können. Bevor man allerdings die Bündnerinnen und Bündner für ihr Testkonzept in den Himmel lobt: Graubünden war auch einer dieser Kantone, die sich vehement dafür aussprachen, Skigebiete ohne strenge Kapazitätsgrenzen offen zu halten. Dadurch lockte Graubünden Touristen aus England an, worauf wiederum zwei Hotels in St. Moritz unter Quarantäne gestellt und die örtlichen Schulen und Kindertagesstätten geschlossen werden mussten, weil sich die ansteckendere britische Mutation des Coronavirus ausgebreitet hatte.
Während Vogelsanger einräumt, in Sachen Tests hätte Schaffhausen anders handeln können, weist er gleichzeitig auf die grosse Erwartungshaltung in der Bevölkerung hin und sagt: «Ich habe mir Tests privat gekauft. Das hätte sich jeder überlegen können.» Und er fragt: «Wieso muss das der Staat machen?» Selbstverständlich müsse der Staat einen Grundstock an Tests zur Verfügung stellen, aber jeder Bürger habe doch auch einen eigenen Willen.
Heydecker würde ihm vielleicht beipflichten. Viele andere wohl kaum. Aber eben: Ein Kommunikationsprofi ist Vogelsanger nicht geworden, wird er wohl auch nie mehr werden.
Gleichzeitig weicht Vogelsanger immer wieder aus und scheint sich sehr wohl zu überlegen, was er sagt. Auf die Frage, ob er zu irgendeinem Zeitpunkt andere Entscheide gefällt hätte, wenn er alleine das Sagen gehabt hätte und nicht der Gesamtregierungsrat mit seiner bürgerlichen Mehrheit den Kurs vorgegeben hätte, sagt er zwar nun zum ersten Mal: «Ich wurde auch schon überstimmt.» Details, wann und worüber, verrät er aber nicht. Es sei ihm wichtig, dass die Regierung geschlossenen auftrete. Auch in der Krise müssten Entscheide parteipolitisch breit abgestützt sein, sagt er.
Zoff innerhalb der Regierung in die Öffentlichkeit zu tragen, das hat Vogelsanger vermeiden können. Im Gegensatz beispielsweise zu Zürich, wo die Streitereien zwischen einzelnen Regierungsratsmitgliedern phasenweise via Medien ausgetragen wurden. Über die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli bilanzierte die NZZ, sie sei «erst überfordert, dann im Regierungsrat isoliert» gewesen. Nun kommt unser südlicher Nachbarkanton auch beim Impfen kaum voran. Gerade mal 5,7 Prozent der Bevölkerung sind derzeit vollständig geimpft. Das Beispiel zeigt: Man kann es definitiv schlechter machen als Schaffhausen.
Vogelsanger wiederum ist aber auch nicht der Typ, der mit dem Finger auf die Fehler von anderen zeigt. Selbst, wenn er sich damit besser darstellen könnte. «Es liegt nicht an mir, grosse Kritik am Bund zu äussern», sagt er beispielsweise auf die Frage, ob Bern bei der Beschaffung des Impfstoffs versagt habe. Schaffhausen jedenfalls hätte noch deutlich mehr impfen können, die Kapazitäten sind gross genug, wie schon beim Contact Tracing.
Eine Suppe in der Hagenhütte
Derweil bleibt Vogelsanger im Gespräch mit der AZ auch immer ein Stück weit unnahbar. Einen Besuch in Beggingen, bei sich zuhause, lehnt er ab. Von sechs Uhr früh bis 20 Uhr abends sei er ohnehin nicht dort.
Vogelsanger ist nicht der Typ, der jedem sofort sein Heim zeigt und sein Herz ausschüttet, wie das ein Christian Amsler teilweise tat. Er tritt auch nicht forsch und intensiv auf wie einst Rosmarie Widmer Gysel.
Ein Hauch von Privatleben offenbart er dann aber doch. Vogelsanger erzählt, wie er zusammen mit seinen Kindern, die mittlerweile ausgezogen sind, vor dem Laptop Spiele via Internet gespielt habe. Darunter ein Detektiv-Spiel, dessen Name ihm entfallen ist. Über Politik und Corona habe man in der Familie aber nicht gross diskutiert, sagt er.
Er erzählt auch, dass er einen Ordner mit «Wutmails» erstellt habe, in dem er Rückmeldungen aus der Bevölkerung abgelegt habe. Und dass er früher sonntags gerne in die Hagenhütte auf dem Randen gewandert sei, um dort eine Suppe zu essen und ein Glas Wein zu trinken. Was man halt so macht, normalerweise. Alles gänzlich unspektakulär.