Miese Hygiene, viel Alkohol und gefährliche Pflegefehler: Was ehemalige Angestellte eines Pflegeheims in Hemmental erzählen, ist nichts für schwache Nerven.
Villa Wahnsinn, so nennen sie ihren ehemaligen Arbeitsort.
Vier ehemalige Pflegerinnen waren bereit, über gravierende Missstände im Pflege- und Altersheim Hand in Hand zu sprechen. Ihre Geschichten sind glaubwürdig, übereinstimmend und passen zu Dokumenten, die der AZ vorliegen. Sie handeln von gefährlichen Pflegefehlern, von Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, von manipulierten Abrechnungen, von schlechter Hygiene und Vernachlässigung.
Das Problem, darin sind sich alle einig, sind «der Chef» und «die Chefin»: der Geschäftsleiter und die Pflegedienstleiterin. Sie haben das Hand in Hand in Neunkirch aufgebaut und vor fünf Jahren nach Hemmental verlegt, in eine grosszügige Villa, die das Paar auch bewohnt.
Alle Schilderungen in diesem Text betreffen den Zeitraum der letzten drei Jahre. «Ich verstehe nicht, warum das Hand in Hand noch offen ist», sagt eine.
Die Hygiene
«Allein schon wegen der Hygiene würde das Heim geschlossen, wenn im richtigen Moment eine unangemeldete Kontrolle stattfinden würde», ist eine der Frauen überzeugt. Andere erzählen von mehreren Tage alten Urinflecken im Bad, von einer verschmutzten Oberfläche, auf der Medikamente gerichtet wurden, von Inkontinenzeinlagen, die einer Person trotz deutlicher Spuren wieder angezogen wurden. «Als ich meine Schicht antrat, fand ich auf einem Nachttisch gebrauchte Handschuhe, mit denen ein ansteckender Hautpilz behandelt worden war», erzählt eine der Frauen. Einen anderen, bettlägerigen Bewohner traf sie mehrmals verstuhlt in verschmierten Laken an, obwohl ihr bei der Übergabe gesagt wurde, er sei gerade frisch gemacht worden.
Auch Bett- und Hygienewäsche sei oftmals bei nur 30 Grad und zusammen mit Küchentüchern gewaschen worden, um Zeit zu sparen, erinnern sich mehrere der Frauen. Und: Mitten in der ersten Corona-Welle seien die Handschuhe ausgegangen. Kurz: «Es ist ekelhaft, wie dort gearbeitet wurde», fasst eine der ehemaligen Angestellten zusammen.
Sie erinnert sich, eine bettlägerige Bewohnerin sei nicht oft genug umgelagert worden, und eine wundgelegene Stelle sei entstanden. Dies ist laut Fachpersonen meist auf einen Pflegefehler zurückzuführen und kann zu einer lebensgefährlichen Blutvergiftung führen. Bei dieser Bewohnerin habe man bis auf den Knochen gesehen – doch die Chefin habe keinen Arzt gerufen, obwohl eine Pflegerin darauf gedrängt hatte.
Das Warten auf den Lohn
Übereinstimmend sagen alle vier Frauen, dass sie Arbeiten verrichten mussten, die vertraglich nicht vereinbart waren und für die sie nicht qualifiziert waren. Ungelernte Pflegehelferinnen mussten Medikamente bereitstellen und verabreichen, doch dies dürfen nur diplomierte Pflegefachkräfte tun. Die Chefin, oft die einzige Pflegefachkraft im Haus, habe die Medikamentenblätter ohne Kontrolle unterschrieben. Eine Pflegehelferin berichtet von Fehlern, die sie nur mit Glück rechtzeitig bemerkt habe: vertauschte Tabletten, falsche Dosierungen.
«Ich habe lange versucht, die Bedingungen für die Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern, sagt eine der ehemaligen Angestellten. Sie verliess das Heim nach einem heftigen Streit und wurde wegen einer durch Mobbing ausgelösten Depression krankgeschrieben. In der Folge musste sie gegen eine Kündigung in der dritten Woche der Arbeitsunfähigkeit und danach auch für geschuldete Lohnbestandteile kämpfen – mit Erfolg. In der AZ vom 19. November 2020 war die Geschichte einer anderen Pflegehelferin im Hand in Hand zu lesen, die vor Gericht den Lohn für unbezahlte Stunden Nachtarbeit erkämpfte.
Übereinstimmend sagen die ehemaligen Angestellten: Dass der Lohn rechtzeitig kam, war die Ausnahme.
Der Herr im Haus
Die ehemaligen Angestellten sind überzeugt, dass die Firma finanzielle Probleme habe: Es werde intensiv bei Hygiene- und Lebensmitteln gespart. Bewohner seien manchmal hungrig ins Bett geschickt worden, erzählen die Pflegerinnen. Eine der Pflegerinnen sagt, für die Betreuung und Aktivierung der Bewohner werde viel zu wenig unternommen: «Sie vegetieren vor sich hin.»
Der Chef zeige potenziellen Klienten und ihren Angehörigen gerne den Garten, das grosse Wohnzimmer und das Schwimmbad. Doch in der Realität halten sich die Bewohnerinnen und Bewohner meist in ihren Zimmern auf. Das Essen erhalten sie im Wintergarten, in dem es im Sommer viel zu heiss und im Winter viel zu kalt sei: Manchmal in Jacken und Decken gehüllt. Das schöne Wohnzimmer sei meist für den Chef und die Chefin reserviert – genau wie das Schwimmbad.
Als eine der Pflegerinnen fragte, warum die Bewohnerinnen nicht auch mal in den Pool dürften, soll die Antwort des Chefs gelautet haben: «Sicher nicht, die sind ja alle inkontinent.»
Mehrmals habe der Chef sie angewiesen, erzählen zwei Pflegerinnen, auf die Notfallklingeln der Patienten nicht sofort zu reagieren, sondern sie etwas warten zu lassen.
Die Medikamente, der Alkohol
Gleichzeitig gebe es oft keine Nachtruhe für die Bewohnerinnen und Bewohner, denn der Chef und die Chefin hätten oft bis spät in die Nacht getrunken – davon berichten alle vier ehemaligen Angestellten.
Die Chefin sei manchmal alkoholisiert zum Dienst erschienen und habe auch während Dienst oder Pikett getrunken. Zeitenweise, sagt eine ehemalige Angestellte, sei sie «permanent besoffen» gewesen.
Mehrere ehemalige Angestellte berichten übereinstimmend: Die Chefin habe sich regelmässig an den Tabletten bedient, die Bewohnerinnen und Bewohnern verschrieben und von der Krankenkasse finanziert waren. «Manchmal haben ganze Packungen gefehlt», sagt eine Pflegerin. Zwei ehemalige Angestellte erzählen, sie hätten beobachtet, dass die Chefin auch dem Haushund Temesta verabreicht habe, ein in Altersheimen häufig eingesetztes Beruhigungsmittel.
Medikamente wie Temesta müssen in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt und stärkere Mittel, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, zusätzlich in einem Safe gesichert werden. Im Hand in Hand lagen laut den ehemaligen Angestellten Medikamente beider Kategorien meist frei zugänglich auf einer Kommode – obwohl ein ehemals suchtkranker Patient im Haus wohnte.
Die Dokumentationen
Die Angestellten hatten den Eindruck, es wäre sehr wichtig, die sechs Heimplätze zu füllen, möglichst mit Personen, bei denen ein hoher Pflegebedarf mit der Krankenkasse abgerechnet werden kann.
Alle vier ehemaligen Angestellten des Hand in Hand erzählen, Pflegedokumentationen für die Abrechnung mit der Krankenkasse seien manipuliert worden. Konkret: War bei einem Patienten die seiner Pflegestufe entsprechende Pflegezeit am Abend noch nicht ausgeschöpft, musste die Nachtschicht Pflegehandlungen erfinden. «Ich musste beispielsweise dokumentieren, ich hätte einem Bewohner beim Toilettengang geholfen, obwohl er das selbstständig kann und auch macht», sagt eine Pflegerin. Das Ziel sei eine hohe Einstufung der Bewohnerinnen und Bewohner, um möglichst viel Geld von den Krankenkassen zu erhalten.
Die schlimmste Zeit
Zwei der ehemaligen Angestellten beschreiben die Sterbephase einer Bewohnerin, die sie miterlebt haben, als die schlimmste Zeit im Hand in Hand. Es fällt ihnen schwer, darüber zu sprechen.
Die Bewohnerin war in eine der höchsten Pflegestufen eingeteilt und brachte der Firma viel Geld ein. Doch irgendwann wurde klar, dass sich ihr Zustand nicht mehr verbessern würde. «Der Chef und die Chefin kommunizierten klar, dass die Bewohnerin nicht sterben dürfe, weil sonst eine Menge Geld fehlen würde», sagt eine der Pflegerinnen.
Die beiden Pflegerinnen drängten darauf, einen Arzt zu rufen, doch die Chefin lehnte ab. Sie soll gesagt haben: Wenn der Arzt komme, verordne er Morphin, und die Bewohnerin sterbe früher. In einer solchen Situation, bestätigt eine Fachperson gegenüber der AZ, sei das Verordnen von Morphin üblich: Es löse den Tod nicht aus, könne ihn aber früher herbeiführen und das Leid mildern.
Die beiden Pflegerinnen sind sich ihres Eindrucks sicher: Die Bewohnerin hatte starke Schmerzen und wurde in der Sterbephase nicht adäquat begleitet. Sie glauben, es sei darum gegangen, den Wegfall der Krankenkassenbeiträge zu verzögern.
Die zwei Pflegerinnen erzählen, sie hätten sich kaum getraut, nach ihrer Schicht nach Hause zu gehen und die Bewohnerin der Chefin für die Nachtschicht zu überlassen, die sie in dieser Zeit mehrmals, auch im Dienst, als betrunken wahrgenommen haben.
Die Beschwerde ans Amt
Die zwei Pflegerinnen, die die Sterbephase dieser Bewohnerin miterlebten, verliessen Hand in Hand kurz nachdem sie verstorben war. Beide verfassten ausführliche Meldungen an das Gesundheitsamt.
Die Dokumente liegen der AZ vor, sie enthalten die wichtigsten Missstände, die in diesem Artikel geschildert sind. Die AZ weiss zudem, dass weitere anonyme Meldungen beim Gesundheitsamt eingegangen sind.
Kurz: Die in diesem Artikel geschilderten Vorwürfe sind dem Kanton bekannt.
Das Gesundheitsamt antwortet auf Anfrage der AZ, Hinweise würden ernst genommen. Ob die Beschwerden Kontrollen bei Hand in Hand ausgelöst haben, sagt das Gesundheitsamt nicht: Es verweist auf seine Verschwiegenheitspflicht und antwortet nur generell, nicht spezifisch zu Hand in Hand: «Auf Beschwerden reagieren wir. Es ist wichtig, dass wir bei Missständen informiert werden. Wir können jedoch nur handeln, wenn Tatsachen beziehungsweise Beweise die Mängel belegen.»
Per Januar 2019, ein halbes Jahr nach den Beschwerden, nahm der Regierungsrat Hand in Hand auf die kantonale Pflegeheimliste auf. Das bedeutet, dass der Kanton dem Heim Patientinnen und Patienten zuweisen kann.
Auf die Frage, warum diese Zusammenarbeit trotz und so kurz nach den ausführlichen Beschwerden eingegangen wurde, schreibt das Gesundheitsamt: «Die Aufnahme auf die Heimliste und die Beschwerden stehen in keinem Zusammenhang.» Sondern: «Das Heim Hand in Hand deckt eine Lücke ab für nicht hochbetagte, pflegebedürftige Menschen – was durch die Vollbelegung bestätigt wird.»
«Die Unterstellungen sind haltlos»
Die AZ hat dem Geschäftsführer von Hand in Hand Fragen zu den Vorwürfen geschickt. Er schreibt, die Fragen würden «perfide Unterstellungen» beinhalten, die «haltlos» seien: «Wir weisen sie alle zurück.»
Er schreibt weiter: «Abgesehen davon sind die Unterstellungen haltlos. Wir werden regelmässig vom Gesundheitsamt kontrolliert. Insgesamt haben wir immer die Vorgaben bestens erfüllt. Und wenn es mal Verbesserungspotential gab, so haben wir die Anliegen immer sofort aufgenommen und umgesetzt. Wir pflegen in unserem Haus seit Jahren eine offene, transparente Kommunikations- und Fehlerkultur.» Meinungsverschiedenheiten würden «offen ausgetragen und berechtigte Defizite behoben. Doch auf indirekte Beschuldigungen und Gerüchte gehen wir nicht ein.»
Nur auf einen Punkt nimmt der Chef konkret Bezug: Er schreibt, die Medikamente würden schon lange nicht mehr im Haus selbst, durch eine Apotheke in der Region individuell für die Bewohnerinnen und Bewohner verpackt.
Sorge um die Bewohnerinnen
Die vier Pflegerinnen, die mit der AZ gesprochen haben, haben mit Gewerkschaft, Rechtsschutzversicherung und Anwälten für ihre Löhne gekämpft, Meldungen an das Arbeitsinspektorat, das Gesundheitsamt oder an beide Stellen gemacht – und mit diesem Kapitel abgeschlossen.
Sie haben sich dennoch entschieden, der AZ Auskunft zu geben, weil ihre Meldungen nichts bewirkt hätten. Sie sorgen sich um die Bewohnerinnen und Bewohner und befürchten, dass im Hand in Hand weiter alles läuft wie bisher. «Ich will nur, dass es den Bewohnerinnen und Bewohnern gut geht», sagt eine der Frauen, «das ist doch kein Zustand.» Was müsste passieren? Eine neue Leitung müsse her, sagen mehrere der Pflegerinnen. Eine andere wird noch deutlicher: «Jemand muss dieses Heim dichtmachen.»
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Gefährliche Pflege
Die Gewerkschaften sind längst auf Hand in Hand in Hemmental aufmerksam geworden: vor vier Jahren demonstrierten Unia und VPOD vor dem Heim und zeigten der Leitung eine symbolische rote Karte (AZ vom 18. Mai 2017).
Der selber in der Pflege tätige Gewerkschafter und SP-Kantonsrat Patrick Portmann war dabei und kennt die Beschwerden der ehemaligen Mitarbeiterinnen von Hand in Hand. «Ich bin erschüttert, dass so etwas in Schaffhausen möglich ist, und ich habe wirklich selbst schon viel gesehen und erlebt», sagt er: «Das ist für mich gefährliche Pflege. Wenn diese Missstände dem Amt gemeldet wurden und keine Sanktionen ergriffen wurden, muss vielleicht von bewusstem Wegschauen gesprochen werden», kritisiert Portmann.