Der Dirigent

31. März 2021, Marlon Rusch

Niemand formte Schaffhausen wie Walther ­Bringolf. Vor 40 Jahren ist er verstorben. Porträt eines Getriebenen, ­eines ­Demagogen – einer Urgewalt.

Als Walther Bringolf 1965 seine Memoiren verfasste, einen 500-Seiten-Schinken mit dem Titel Mein Leben, überlegte er sich lange, wen er um ein kurzes Geleitwort bitten könnte. Schliesslich entschied er sich: für sich selbst. «Obwohl ich im vorliegenden Buch reichlich zu Wort komme, hoffe ich dennoch, dass man es mir nicht verübelt, wenn ich selbst einige Vorbemerkungen vorausschicke.» Die Entscheidung war folgerichtig. Seine Erfolge hatten ihm ein Leben lang gezeigt: Was er selber in die Hand nimmt, wird meist zu Gold. Und Mitsprache kann der Sache nur schaden.

Bei Lenin in Moskau
Walther Bringolf kommt von unten. Der Grossvater war ein fleissiger Arbeiter mit kargem Lohn, der seine letzten Jahre im Armenhaus auf der Steig verbrachte. Der Vater erwischte auf seinen Kontrollgängen als Nachtwächter in der chemischen Fabrik das Giftgas Phosgen, das seine Lunge verätzte und ihn zum Invaliden machte. Die Mutter rackerte als Putzerin, damit die Familie über die Runden kam.

1895 gebar sie Walther. Der wissbegierige und musisch begabte Bub schaffte es an die Kanti, doch er hielt es dort nur zwei Jahre aus, dann tauschte er die Schulbücher gegen eine Maurerkelle. Der Weg aber, da war er sich sicher, wies nach oben.

Bringolf ging ans Technikum, trat ins Militär ein – und schon wurde er ein erstes Mal berühmt. Als man ihm wegen seiner Herkunft den Rang eines Offiziers verweigerte, gründete er 1917 gekränkt den Soldatenverein Schaffhausen, um «gegen alle Auswüchse und Missstände im Heerwesen energisch aufzutreten und Protest zu erheben gegen jede Verkümmerung der Rechte der Soldaten durch unfähige Vorgesetzte». Bald darauf sprossen in der ganzen Schweiz Ableger, im Juni 1918 zählte der Schweizerische Soldatenverein 5000 Mitglieder und General Wille sah sich bemüssigt einzugreifen. Erstmals beschäftigte sich die Neue Zürcher Zeitung mit dem späteren Volkstribun, der die Armee unterwandern wolle und den Verein als Kaderschmiede nutzte, um sein Redner- und Führungstalent zu erproben, das ihn später zu einer Ikone der Schweizer Politik machen sollte.

Wenig später schaffte es Bringolf an die Universität. Er wollte Journalist werden, im Feuilleton der NZZ, schon damals sass er jede freie Minute in Museen, im Schauspielhaus und in der Tonhalle. Stattdessen landete er beim sozialdemokratischen Volksrecht, las bald Engels, Marx und Bakunin und tauchte ab in die Untiefen der Politik – er sollte nie mehr auftauchen.

1919 herrschte Klassenkampf, die Arbeiter waren im Elend und als Bringolf von den Schaffhauser Sozialdemokraten an einen Parteitag nach Basel entsandt wurde, überlegte die SP Schweiz bereits, der kommunistischen III. Internationalen beizutreten. Ein Jahr später sass Bringolf in einem Zug nach Russland. Diesmal schickte ihn die SPS als Gesandten an den ­2. Komintern-Kongress in Moskau. Bringolf lernte Lenin kennen, und es war um ihn geschehen.

Als sich die von der Teuerung gebeutelte Schaffhauser Arbeiterschaft radikalisierte und sich die Linke spaltete, steuerte Bringolf hart nach links, «es lebe die Kommunistische Partei!». Dort sollte er Karriere machen, nicht als theoretischer Vordenker, sondern als Praktiker, als Gefühlsmensch, als einer, der die Massen mobilisieren konnte. Aus dem Schaffhauser Buben sollte ein Demagoge werden.

Von den Kommunisten zum Teufel gejagt
1921 trat der 26-Jährige eine Stelle als Redaktor der Schaffhauser Arbeiter-Zeitung an, die er mit seiner kämpferischen Art enorm prägen, die ihm aber auch zeitlebens als Vehikel dienen sollte. Bringolf und die AZ – es war die perfekte Symbiose. In der Schaffhauser Linken verschärfte sich der Richtungsstreit, und der junge Bringolf stieg in den Ring, versuchte, an Versammlungen die Spitzenredner zu verdrängen, etablierte sich als Demonstrationsführer, fuhr zwischendurch wie ein Wilder mit dem Velo die Streikposten ab.

1924 wurde er souverän in den Grossen Stadtrat gewählt, die politischen Gegner hatten «alle Kandidaten des bürgerlichen Blocks plus Walther Bringolf» empfohlen. Offenbar kaufte man dem ehrlichen, gradlinigien Endzwanziger ab, keine moskaugesteuerte Marionette zu sein, sondern ein Chrampfer für die Anliegen der einfachen Leute.

Es begann eine einzigartige Politkarriere. An deren Ende sass Bringolf 7 Jahre im Grossen Stadtrat, 48 Jahre im Grossen Rat, 36 Jahre lang amtete er als Stadtpräsident, 46 Jahre lang vertrat er den Kanton im Nationalrat.

In Bern brauchte der Aufstieg mehr Zeit. Der Heisssporn machte konsequente linke Politik, geisselte den kümmerlichen Sozialstaat. Unterlag er im Parlament, schlachtete er die Niederlage vor der Arbeiterschaft aus. In der Arbeiter-Zeitung schrieb er gegen die lebensgefährlichen Arbeitsverhältnisse an, seine «Sandlungen»-Vorstösse retteten hunderten Büezern das Leben. Diese merkten: Der Bringolf, der ist einer von uns.

Der Volkstribun Bringolf hält 1935 eine 1.-Mai-Rede auf dem heutigen Walther-Bringolf-Platz. Foto: Stadtarchiv Schaffhausen

Als sich die Kommunistische Internationale zusehends radikalisierte, wurde Bringolf in einen immer grösseren Spagat gezwungen. Er schwenkte in den Stalin-Kurs ein, um seine Mandate nicht zu verlieren, doch die Lebensrealität in Schaffhausen war nicht vereinbar mit den russischen Allmachtsfantasien. Die Parteibonzen in Moskau wussten, dass Bringolf die Schaffhauser Arbeiterbewegung im Alleingang dirigieren konnte, in keinem anderen Kanton war die KP zusammen mit der Arbeiter-Zeitung ein derart starkes Bollwerk gegen die «sozialfaschistischen» Sozialdemokraten. Also versuchten sie, Bringolf auf Linie zu bringen. Er wurde nach Moskau zitiert. Dort beugte er sich dem immensen Druck und versprach, in Schaffhausen reinen Tisch zu machen. Doch wieder zu Hause angekommen, hatte er keine Chance. Bald darauf wurde die Kommunistische Partei Opposition (KPO) gegründet, der sich schliesslich auch Bringolf anschloss. 1930 wurde er mit Schimpf und Schande aus der KP gejagt. Es wird sich zeigen: Er hatte im Kampf um sein politisches Überleben auf das richtige Pferd gesetzt.

Ein König im Stadtrat
1931 wurde Bringolf wider Erwarten erneut in den Nationalrat gewählt. 1935 brachte er es fertig, dass die Schaffhauser KPO geschlossen zurück in die SP wechselte. Dennoch sollte ihn seine kommunistische Vergangenheit, die er immer als «Umweg» beschönigte, fast 30 Jahre später einholen. Und ihm die bitterste Niederlage seines Lebens bescheren.

Zuerst einmal aber hatte Bringolf Auftrieb. 1932 stellte er sich als Stadtpräsident zur Wahl. Es herrschte Wirtschaftskrise und eine Welle der Unzufriedenheit spülte den Sozialdemokraten an die Macht. Während 24 Jahren tagte der Stadtrat in unveränderter Besetzung, Bringolf beherrschte das Fünfergremium nach Belieben, obwohl seine Partei in der Minderheit war. Solange er an den Sitzungen rauchte, schloteten auch die anderen Stadträte; als er die Qualmerei nach dem frühen Tod seiner Frau aufgab, wurde das Rauchen ganz verboten.

Eine besondere Gabe Bringolfs war, dass er immer gute Mitarbeiter fand und behalten konnte, obwohl er mitunter ein grauenhafter Chef gewesen sein muss. Heute hätte er keine Chance: nicht teamfähig, nicht kommunikativ. Der Patriarch leistete viel, und von seinen Untergebenen erwartete er dasselbe. Etwa, dass sie sich rund um die Uhr zu seiner Verfügung halten. Manchmal rief er morgens um 8 Uhr im Zentralsekretariat der Partei an, nur um sich zu versichern, dass alle auf ihren Posten waren. Die spätere AZ-Redaktorin Lisbeth Vetter erinnerte sich, wie sie nach dem Feierabend jeweils vom greisen Bringolf in seine Villa auf der Breite zitiert worden war, um seine Memoiren zu tippen. Sowas war für ihn selbstverständlich und wurde natürlich nicht entlöhnt.

Bringolf mochte keine emanzipierten Frauen. Auch seine Gattin, die geliebte Margrit Wildberger, war zwar politisch versiert und tauschte sich mit ihm aus über das Tagesgeschehen, doch er erlaubte ihr nie, aus seinem Schatten zu treten. Nachdem sie verstorben war, verfinsterte er sich, war monatelang nicht arbeitsfähig. Er sollte sich persönlich nie ganz davon erholen.

Die ganze Stadt umgepflügt
Politisch aber machte er weiter und baute um Schaffhausen über die Jahre eine Aura, wie sie sonst nur viel grössere Städte hatten. Gerade sein Werk als Baumeister ist heute noch an jeder Ecke sichtbar.

In den Jahrzehnten, in denen er die Stadt dirigierte, verpasste er dieser ein neues Gesicht. Neue Schulhäuser entstanden, das Münster wurde restauriert, der Traditionalist Bringolf entwarf «Thesen zur Erhaltung, Pflege und Sanierung der Altstadt» und kam sich mit dem Baureferent in die Haare, der sich in seinen Kompetenzen beschnitten fühlte vom Alleinherrscher Bringolf. Das Rheinufer wurde umgepflügt, das Kraftwerk gedieh, eine Kläranlage entstand, ein Uferweg und eine Stadtumfahrung. Seine Gegner aus Natur- und Heimatschutzkreisen tat Bringolf als «Querulanten» ab. Er war, typisch für seine Zeit, vollends dem technischen Fortschritt und dem ökonomischen Wachstum verfallen. Als Klassenkämpfer und Industrieförderer zugleich wollte er den volkswirtschaftlichen Kuchen vergrössern und gerecht verteilen. «Wohlstand für alle», lautete seine Maxime. Für den Aufschwung war er zu jener Zeit der perfekte Mann.

Die Zahlen sind eindrücklich: Als Bringolf 1933 das Stadtpräsidium übernahm, zählte Schaffhausen 21 000 Einwohner, bei seinem Rücktritt 1968 waren es (inklusive den Eingemeindungen von Buchthalen und Herblingen) 38 000.

Die Aussenquartiere hatten sich in die Landschaft hineingefressen, und nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte Bringolf früh, dass Bauland fehlte für Firmenansiedlungen und wirtschaftliche Expansion, etwa bei der GF, die im Mühlental an ihre Grenzen stiess. Bringolf fasste den Plan, das Herblingertal zu erschliessen. Dafür musste das Dorf aber erst einmal eingemeindet werden, was schliesslich auch geschah. Erschlossen werden sollte es erst viele Jahre später, und über den Erfolg lässt sich streiten.

Den Güterbahnhof wollte Bringolf schon seit den 20er-Jahren ausbauen, sein Weibeln beim Bundesrat wurde anfangs aber abgeschmettert. Erst als Bringolf in den 40er-Jahren in den Verwaltungsrat der SBB gewählt wurde, nahm das Projekt Gestalt an, doch es sollte noch einmal 20 Jahre dauern, bis gebaut wurde. Es war wohl vergebene Liebesmüh, heute ist der Güterbahnhof verwaist.

Bringolf erkannte früh die grossen Linien und war sich auch nie zu schade, dranzubleiben, sich mit seiner Autorität bei den verschiedensten Instanzen durchzusetzen und sich in die Detailplanung einzumischen. Er lag nicht immer richtig. Oft aber hatte er ein gutes Gespür. Das bewies er schon früh.

Der Kampf gegen die «braune Bestie»
Als der Faschismus aufkam, war Bringolf einer der ersten Schweizer, der die Nazis öffentlich anprangerte. 1932 inszenierte er sich in einer seiner berühmten 1.-Mai-Ansprachen als «Todfeind» der faschistischen Diktatur. Schaffhausen war bald ein Nest der Frontisten. Deren Führer Rolf Henne erreichte in einer Ständeratswahl 1933, mit katholisch-konservativer Unterstützung, 26,2 Prozent der Stimmen. Und je näher der Anschluss ans Reich rückte, desto ungemütlicher wurde es für Männer wie Bringolf am nördlichsten Zipfel der Schweiz. Doch der frisch gebackene Stapi wich kein Mü von seiner Position ab. Der Schrecken des Kommunismus hatte ihn zu einem überzeugten Gegner jeglicher Form des Totalitarismus gemacht. Stattdessen trug er fortan eine Pistole und sagte sich: «Wenn ich Abschied nehmen muss, dann müssen noch andere mit.»

Es war eine wilde Zeit, in der AZ-Redaktoren auf der Gasse auch mal Frontisten verdroschen und deutsche Nazi-Spitzel in eine Falle lockten. Bringolfs Arbeiter-Zeitung wurde schon 1938 verwarnt, als sie die Pressezensur missachtete und offen gegen die «braune Bestie» anschrieb. 1941 drohte gar ein Verbot der Zeitung.

Für Bringolf stand der Widerstand weit über der Schweizer Neutralität. Der jugendliche Militärkritiker war verschwunden. Als defätistische Strömungen die Armee demobilisieren wollten, warf sich Nationalrat Bringolf mit aller Kraft dagegen. Unter vielen Parteifreunden galt er, der sich vor sowjetischen Aggressoren fürchtete, als «Militarist». Zwischenzeitlich trat er gar für die Beschaffung der Atombombe ein, wenn damit die Neutralität der Schweiz gewahrt werden könne.

Sein Temperament, das er als Arbeiterführer entwickelt hatte, legte der Politiker Bringolf nicht ab, auch wenn er sich daneben als Stadtpräsident und Nationalrat staatsmännisch gab.

Es waren gute Jahre. Auf dem nationalen Parkett jagte er Nazi-Kollaborateure, durch sein Beziehungsnetz gelangte er an Informationen, die offenbar nicht einmal in Geheimdienstkreisen zirkulierten. Wie er sich vor dem Krieg um die Arbeiter und Arbeitslosen gekümmert und ihnen auch persönlich Banknoten zugesteckt hatte, machte er sich schon ab 1933 für die Flüchtlinge stark, er setzte sich persönlich für Einwanderungsgesuche und appellierte vergebens an den Bundesrat: «Die Schweiz als Zufluchtsort Vertriebener, das ist unsere edle Tradition!» Der Journalist Alfred Häsler schrieb in seinem Buch Das Boot ist voll über Walther Bringolf: «Unter den Politikern, die für eine humane Flüchtlingspolitik eintraten, stand sein Name ganz vorn.»

Unsterblich machte sich Bringolf – natürlich – als Praktiker. Während des Krieges konnte er sich als Magistrat beweisen. Als tausende Stadtbewohner in den Aktivdienst einrücken mussten, baute Bringolf eine gut geschmierte Maschinerie für die Versorgung auf, er initiierte eine Lohnersatzordnung, organisierte die Lebensmittelversorgung, liess Luftschutzbunker errichten. Die Maschinerie war auf den deutschen Feind ausgerichtet, aber Bringolf konnte sie auch postwendend anwerfen, als am 1. April 1944 amerikanische Flugzeuge ihre Bomben über Schaffhausen abwarfen.

Zwei Stunden nach dem Geprassel fand unter Bringolfs Vorsitz ein erster Rapport statt, bereits waren 11 000 Meter Feuerwehrschlauch verlegt, um die 45 Grossbrände unter Kontrolle zu bringen. Als sich der Kommandant des Territorialkreises 6 einschalten wollte, meinte der Stadtpräsident: «Ich bedaure, Herr Oberst, aber es können nicht zwei befehlen.» Einige Stunden später meldete Bringolf Bundesrat Kobelt 27 Todesopfer. Am Tag darauf hatte er mit den lokalen Industriellen und Gewerbetreibenden vereinbart, dass weiterhin der volle Lohn bezahlt werde, auch wenn Vollbeschäftigung nicht möglich war. Die Stadt bot Vorschussleistungen an. Später korrespondierte Bringolf direkt mit dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.

Alles, nur nicht Bundesrat
Immer wieder wechselte er in Windeseile die Ebene: von lokal zu international – und zurück. Nach dem Krieg exponierte er sich als Antikommunist. Er wurde zum Parteipräsidenten der Schweizer SP gewählt, für viele Genossen war er eine Leitfigur, Bringolf dirigierte Parteitage auf patriarchale Art, Delegierten klemmte er das Wort ab, den Hinweis auf seine autoritäre Praxis verstand er als Kompliment. Er vernetzte sich international, pflegte einen engen Austausch mit Sozialistenführern wie dem italienischen Aussenminister Pietro Nenni, der späteren israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir oder dem künftigen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, denen er auf Augenhöhe begegnete. Sein Freund Willy Brandt schrieb viele Jahre später zu Bringolfs 85. Geburtstag: «An einem Tag wie diesem wandern die Gedanken fast unwillkürlich zurück zu den wichtigsten Ereignissen dieses Jahrhunderts, die Du miterlebt und mitgestaltet hast.» Doch ein finaler Trimph sollte ihm vergönnt bleiben.

In den 50er-Jahren schielte Bringolf auf einen Bundesratssitz. Doch es zeichnete sich ab, dass ihn das Bürgertum verhindern wollte, allem voran wegen seiner kommunistischen Vergangenheit und seinem unbequemen Charakter. Man munkelte auch, ein «Oberbundesrat» sei nicht erwünscht. Schliesslich portierte die SP 1959, als vier Bundesräte zurücktraten, dann doch Walther Bringolf. Am Wahltag aber wurde er zum Opfer politischer Ränkespiele. Die Sozialdemokraten sahen sich gezwungen, ihn fallenzulassen, und schwenkten um auf den inoffiziellen SP-Kandidaten Hans Peter Tschudi, der auch gewählt wurde. Nach seiner Nichtwahl tobte Bringolf. Bis zu seinem Tod kam er über die Niederlage nie ganz hinweg – und verbitterte zunehmend daran. Sein Biograf Walter Wolf schreibt, vielleicht hätte Bringolf eher nach Paris ins Palais de l’Elysée gehört als ins Bundeshaus. Das System, das Charles de Gaulle mit seiner 5. Republik auf sich zugeschnitten habe, hätte auch zu Walther Bringolf gepasst.

Doch Bringolf raffte sich auf. Als er 1962 Nationalratspräsident wurde, genoss er die repräsentativen Aufgaben. Er brannte für die Aussenpolitik, zeitweise präsidierte er die aussenpolitische Kommission, in den 50er-Jahren war er einer der ersten Schweizer, die sich stark machten für Entwicklungshilfe in der Dritten Welt, die mit der Entkolonialisierung nötig wurde.

Dass er immer wieder Erfolg hatte mit seinen Anliegen, verdankte er nicht zuletzt seinen legendären Reden. Kurze Tonaufnahmen lassen erahnen, wie es gewesen sein muss, wenn er zu einem Reigen ansetzte. Bringolf brüllte nicht wie Robert Grimm, er intonierte seine Sätze wie ein Schauspieler, fast immer sprach er frei, oft spontan, mit wenigen einfachen Worten malte er Bilder. Von der Nationalratstribüne aus redete er, als stehe er von einem Büezerheer, geriet ins Feuer. Als er einmal ermahnt wurde, sich zu zügeln, schliesslich gebe es eine Lautsprecheranlage, antwortete Bringolf: «Ich habe den Lautsprecher selbst mit mir; ich hätte auf die Anlage verzichten können.»

Nationalrat Bringolf (Mitte) 1966 an einem Fernsehgespräch mit der Philosophin Jeanne Hersch und dem Historiker und Welterklärer Jean Rudolf von Salis (2.v.r.). Bild: AZ-Archiv

Der innere Lautsprecher war eine Waffe an Volksversammlungen, der Schweiz bekannt wurde Bringolf aber vor allem als Kommentator der Weltchronik auf Radio Beromünster. Über 20 Jahre machte Bringolf freitagabends Streifzüge durch die internationale Politik. Meist beugte sich der Schnelldenker eine halbe Stunde über die Zeitungsausschnitte, die er im Lauf der Woche gesammelt hatte, und sprach dann eine halbe Stunde frei ins Mikrofon. Die Analysen hatten enormen Gehalt, geschickt stellte er Zusammenhänge her und salzte sie mit geistreichen Aphorismen. Für viele Schweizerinnen und Schweizer war Bringolf das Tor zur Welt. In einer Marktforschung kam 1966 heraus, dass er der mit grossem Abstand bekannteste Nationalrat war. Er galt auch als der fähigste Schweizer Politiker, Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen verwies er auf Platz zwei.

Ein Gigant kann nicht loslassen
Bringolf verstand es, seine Kontakte für seine Stadt zu nutzen. Das zeigte sich gerade in der Kultur. Er gilt als Vater des Bach-Fests, er ist verantwortlich für den Neubau des Stadttheaters. Den vielleicht grössten Coup aber landete er nach dem ­Zweiten Weltkrieg. Im Gespann mit Museumsdirektor Walter Guyan holte er Meisterwerke altdeutscher Malerei aus den Kellern und Salzbergwerken, in denen sie während des Krieges lagerten, nach Schaffhausen. Er machte das Allerheiligen zu einem schweizweit geachteten Haus.

Dabei nutzte er seine Kontakte, während viele den Deutschen skeptisch gegenüberstanden, packte der Praktiker Bringolf seine Chance. Als Konrad Adenauer Bringolf fragte, warum nicht Zürich eine Ausstellung mit kostbaren Gemälden aus Berliner Museen veranstalte, sondern ausgerechnet das kleine Schaffhausen, antwortete Bringolf: «Herr Bundeskanzler, ich bin der Stadtpräsident von Schaffhausen und nicht von Zürich.» 1968 kam der norwegische König Olav V. nach Schaffhausen, weil Bringolf die wohl bedeutendste Edvard-Munch-Ausstellung überhaupt eingefädelt hatte. Vielleicht kam er auch, weil Bringolf nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv darauf hinarbeitete, 71 ausgehungerte Norweger aus deutschen Konzentrationslagern aufzunehmen.

Bringolf glänzte. Und mit ihm seine Stadt. Doch was tut einer wie er, ein Mann mit einem derart grenzenlosen Selbstbewusstsein, wenn er älter wird und der Glanz langsam zu verblassen droht?

Bringolf klammerte. Und gerade jüngere Leute, die seine früheren Verdienste nicht erlebt hatten, müssen einen geschrumpften, aber abgehobenen Greis erlebt haben. Nachdem er 1968 als Stadtpräsident zurückgetreten war, beharrte er darauf, bis zum Lebensende gratis in der Villa Lindenberg auf der Breite zu wohnen. Er konnte nie mit Geld umgehen, weder als Stadtpräsident noch privat. Nun war er abgebrannt und niemand traute sich, seinem Wunsch zu widersprechen. Dennoch liess er sich nur im Mercedes chauffieren, soll gar auf eine bestimmte Farbe gepocht haben: «Bringolf-Grün».

Auch nach seinem Rücktritt brachte man ihn fast nicht aus dem Stadthaus, er bestand darauf, seine Sekretärin behalten zu dürfen. Als er nach 46 Jahren aus dem Nationalrat demissionierte, tat er dies kurz vor Ende der Legislatur. 1971 traten gleich 49 Nationalräte zurück. Doch Bringolf dachte nicht daran, mit ihnen zusammen abzudanken. Als sein Freund, der spätere SP-Präsident Helmut Hubacher, ihn darauf ansprach, meinte der Alte: «Vergiss bitte nicht, ich heisse Bringolf.»

Mit den Studentenaufständen von 68 konnte er nichts anfangen. Bernhard Ott, der damalige Jungsozialist, spätere Chefredaktor und heutige Verleger der AZ, erzählte als junger Mann seinem Tagebuch, wie er den «Grand Old Man» davon überzeugen wollte, dass auch Randgruppen zu Wort kommen sollten in der Zeitung. Bringolf antwortete: «Quatsch, die sollen ihren Chabis für sich behalten!» Ott schrieb: «Unsere Welt ist bereits fern für ihn und sehr fremd. Wenn er mit uns spricht, hat man eher das Gefühl, er rede zu seiner Nachwelt.»

Obwohl sein Zenit längst überschritten war, verharrte Bringolf bis zu seinem Tod im März 1981 an der Spitze der Unionsdruckerei, die die AZ herausgab. Die Öffnung der Zeitung vom Kampfblatt der Partei zum unabhängigen Medium wurde dadurch unnötig verzögert. Doch niemand hatte den Mut, ihm nahezulegen, seinen Stuhl als Verwaltungsratspräsident zu räumen.

Die Jüngeren konnten das nicht verstehen, die Älteren wussten, was sie ihm zu verdanken hatten.

Von der Liebe zu Schaffhausen
Er hatte Schaffhausen und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern ein Leben lang seine uneingeschränkte Liebe geschenkt. Auch als er längst ein schweizweit bekannter Kommentator war, ein Politsuperstar, im Ausland bestens vernetzt, sah er sich in erster Linie als Botschafter seiner Stadt. Er war Lokalpatriot, ohne ein Provinzler zu sein.

Unter Bringolf, schrieb Biograf Wolf, lebte Schaffhausen «über seinen Verhältnissen». Er brachte Grandezza in die Provinz, liess das Städtli strahlen. Und vielleicht war er mit seinem Weg vom Kommunisten zum hoch anerkannten Industrieförderer und Fast-Bundesrat auch der Beweis, dass das durchlässige Schweizer System funktionierte.

Am vergangenen Mittwoch jährte sich der Todestag von Walther Bringolf zum vierzigsten Mal. Dass man 2020 den Platz in der Schaffhauser Altstadt, auf dem er seine feurigsten Reden gehalten hatte, nach ihm benannte, hätte er wohl mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Überrascht hätte es ihn kaum.