«Yakin ist alles»

23. März 2021, Jimmy Sauter
Murat Yakin: «Y bin dr Boss.»  Foto: Peter Pfister

FCS-Trainer Murat Yakin schafft sich gerade sein eigenes kleines Königreich – und verhilft dem Club damit zum sportlichen Erfolg.

Rang vier, zwei Punkte Rückstand auf den Barrage-Platz, noch neun offene Spiele. Trotz zuletzt zwei Pleiten hintereinander mischt der FC Schaffhausen im Aufstiegsrennen noch mit. Und selbst wenn der Club bis zum Saisonende noch alle Spiele verlieren sollte, würde er die aktuelle Spielzeit mit 41 Punkten besser abschneiden als die letzten beiden Saisons.

Der Aufwärtstrend hat Namen. Vorne traf der Uruguayer Rodrigo Pollero bereits zwölf Mal ins Schwarze. Kein Challenge-League-Spieler hat in der laufenden Saison mehr Tore erzielt.

Die Torvorlagen stammen häufig von Francisco Rodriguez. Acht Mal hat er bereits den entscheidenden Pass oder die perfekte Flanke geschlagen, damit ein Mitspieler einnetzen konnte. Niemand hat mehr Assists. 

Hinten halten Abwehrchef André Neitzke und Goalie David Da Costa den Kasten so gut wie möglich rein. 31 Gegentore hat der FCS in der laufenden Saison kassiert. Nur zwei Clubs haben weniger zugelassen. 

Alle vier Spieler sind im vergangenen Sommer neu zum FCS gestossen, drei von ihnen haben Super-League-Erfahrung. Vor allem aber sei das Wiedererstarken der Gelb-Schwarzen ein Verdienst von Trainer Murat Yakin. Das sagen ehemalige und aktuelle FCS-Spieler. Sie sind sich einig: Yakin gehört eigentlich nicht in die Challenge League. 

Yakins gutes Näschen 

Goalie Da Costa sagt: «Murat Yakin ist ein Trainer mit Champions-League-Format.» Und die Ex-FCS-Spieler Gianluca Frontino und Luca Tranquilli, die beide einst unter Yakin aufgelaufen sind, attestieren dem Trainer herausragende taktische Fähigkeiten. Das aktuelle Kader sei zwar dank Neuzugängen erfahrener geworden als vergangene Saison, im Vergleich mit anderen Challenge-League-Clubs dennoch «nicht überdurchschnittlich gut», meint Tranquilli. «Aber Yakin gelingt es, aus den Spielern noch ein paar Prozente zusätzlich herauszuholen.»

Tranquilli selber erlebte den Trainer Yakin gleich zweimal. In der Saison 2016/2017 – noch zu Fontana-Zeiten – hatte Yakin den FCS auf dem letzten Tabellenplatz übernommen und am Ende auf Rang vier geführt. «Mit Yakin haben wir Spielzüge trainiert, die nachher im Match sofort aufgegangen sind», erinnert sich Tranquilli. 

Nach der schlechten letzten Saison scheint es, als habe Yakin inzwischen auch die Spieler gefunden, die in sein System passen. Stürmer Pollero ist nicht gross aufgefallen, bevor er aus Chiasso zum FCS stiess. Im Tessin erzielte der 24-Jährige in der vergangenen Saison fünf Tore. Für einen Stürmer kein Spitzenwert. «Die Verpflichtung von Pollero hat gezeigt, dass Yakin ein gutes Näschen hat», meint Frontino, der heute die Challenge League als TV-Experte bei Teleclub analysiert. 

Polleros Marktwert ist laut transfermakt.ch
von 300 000 auf 450 000 Franken gestiegen, seit er im Trikot der Schaffhauser kickt. Damit ist er derzeit der monetär wertvollste Spieler im Kader des FCS. Möglich, dass der Uruguayer irgendwann weiterzieht. Zurzeit aber fühle er sich hier wohl, «solo pienso en Schaffhausen» (ich denke nur an Schaffhausen), sagt er auf Spanisch. Deutsch spricht Pollero nicht. Schaffhausen gefalle ihm sehr, es sei hier «muy tranquilo» (sehr ruhig), die Mannschaft habe ein «buen nivel» (gutes Niveau). Das Ziel sei «la segunda posición» (Platz 2) und damit die Chance, in die Super League aufzusteigen. 

Kritische Stimmen unerwünscht?

Vielleicht hat Yakin nach der Übergangssaison 2019/2020 inzwischen aber auch Spieler um sich geschart, die nicht aufmupfen. Denn: «Y bin dr Boss», sagte Yakin schon vor vier Jahren (siehe AZ vom 23. Februar 2017).

Einer, der einmal einen Hauch von Aufstand gewagt hatte, ist Gianluca Frontino. Es ging für den früheren Lokalmatador, der seinen Heimatverein in der Saison 2012/2013 mit 26 Toren zusammen mit Patrick Rossini zum Aufstieg in die Challenge League geschossen hatte, nicht gut aus. Unter Yakin verliess Frontino den FCS. Zum Abschied sagte er den Schaffhauser Nachrichten: «Wenn man das Gefühl hat, dass man im Verein nicht mehr erwünscht ist, muss man gehen.» 2019 meinte er in der Aargauer Zeitung auf die Frage, warum es zwischen ihm und Murat Yakin nicht geklappt habe: «Ich habe ihm anständig, aber deutlich meine Meinung gesagt. Leider können damit nicht alle Trainer umgehen. Murat war in Schaffhausen ein König, wer ihm widersprach, der sah alt aus.»

Heute sagt Frontino, das sei «eine alte Geschichte». Trotzdem: Yakins bisweilen offenbar wenig rücksichtsvoller Umgang mit verdienten Spielern, die entweder nicht in sein taktisches System passten oder intern aufgrund langjähriger Verdienste zu viel Macht besassen, kostete ihn 2014 den Trainerposten in Basel. Obwohl der frühere Nationalspieler mit dem FCB zwei Meistertitel und einen Cupsieg holte und 2013 bis in den Europa-League-Halbfinal vorstiess – was einem Schweizer Club zuvor 35 Jahre lang nicht gelungen war –, musste er Basel verlassen. Zu viele namhafte Spieler haben anscheinend hinter den Kulissen gegen den Trainer Yakin revoltiert. Unter anderem hatte Yakin seinerzeit Alex Frei, bis heute Rekordtorschütze der Nati, aussortiert. 

Yakin habe es nicht geschafft, die Spieler «menschlich zu sich ins Boot zu holen», er war «zu distanziert» und habe sich in «Machtkämpfe» mit einzelnen Spielern verbissen, konstatierte damals die Basler Tageswoche.

Alex Frei ist heute Trainer beim FC Wil. Er sagt, damals als FCB-Spieler sei er zwar nicht zufrieden gewesen, dass er von Murat Yakin auf dem linken Flügel eingesetzt wurde. «Auf dieser Position habe ich 20 Jahre lang nicht gespielt. Aber menschlich war Yakin überragend, wir haben uns immer top verstanden.» Diese beiden Seiten gelte es klar zu trennen, sagt Frei. Auch heute sei der Umgang zwischen ihm und Yakin noch «sehr herzlich». 

Dass Yakin nach seinen grossen Erfolgen nun ausgerechnet beim kleinen FC Schaffhausen sesshaft geworden ist, erklärt sich Frei damit, dass er beim FCS wohl ein Projekt verfolge, das er weitgehend selber steuern könne. «Murat Yakin hat eine klare Vorstellung davon, wie seine Mannschaft Fussball spielen soll und welcher Spieler auf welcher Position einzusetzen ist. Dass er nun zusammen mit Sportchef Bernt Haas, der dieselben Ideen mitträgt, grosse Freiheiten in der Kaderplanung besitzt und ihm niemand dreinredet, ist ein Vorteil.»

Ein Hauch von FC Sion

Das war früher auch schon anders. Als Yakin noch Trainer bei GC war, rumorte es auch dort gehörig. Und beim FCS traf es danach unter anderem Hélios Sessolo. Der frühere Schaffhauser Goalgetter (27 Tore und 22 Vorlagen in 89 Partien) kam unter Yakin kaum mehr zum Zug. Inzwischen spielt er beim Ligakonkurrenten Kriens. 

«Es ist kein Geheimnis, dass ihm Spieler nicht wirklich passen, die eine andere Meinung haben. Sie landen schnell auf der Ersatzbank», sagt Luca Tranquilli über Yakin.

Das erstaunt, wenn man ein im Fussballmagazin Zwölf erschienenes Interview liest, das Yakin 2008 gab, als er seine Trainerkarriere in Frauenfeld begann. Murat Yakin sagte damals unter anderem, er habe als Spieler bisweilen die vom Trainer vorgegebene Taktik bewusst ignoriert. Und: «Ich bin auch schon während eines Spiels zum Trainer gegangen und habe einen Wechsel vorgeschlagen. Als Spieler hat man teilweise mehr Gefühl für das Spiel auf dem Platz als der Trainer auf der Bank.»  

Würde Yakin das heute immer noch sagen? Oder ist er mittlerweile zu lange Trainer, um sich noch daran erinnern zu können? Und was ist dran an den Aussagen von Frontino und Tranquilli?

Gerne hätte die AZ diese Fragen an Murat Yakin gestellt. Ein Interview lehnt er aber ab, wie er über den Verein ausrichten lässt. Kritischen Fragen, sogar in erfolgreichen Zeiten, will Yakin offenbar aus dem Weg gehen. Auch das sagt etwas aus. Es ähnelt ein bisschen dem FC Sion, wo Tätschmeister Christian Constatin seit drei Jahren die Lokalzeitung Le Nouvelliste boykottiert.

«Er hat immer ein offenes Ohr»

Es gibt aber auch viele andere Stimmen. Goalie David Da Costa, der schon vor zehn Jahren in Thun unter Trainer Yakin spielte, sagt: «Murat Yakin schätzt es, wenn ein Spieler mitdenkt. Und er hat immer ein offenes Ohr.»

Danilo Del Toro, gebürtiger Schaffhauser und inzwischen in der fünften Saison beim FCS (nur Paulinho ist noch länger dabei), sagt: «Der Trainer hat einen klaren Plan und ein grosses taktisches Wissen. Wer gewillt ist, von ihm zu lernen, ist am richtigen Ort. Wenn jemand nicht mitzieht, kann Murat Yakin aber auch durchgreifen.» 

Und Giorgio Contini, früher Yakins Assistent und heute Trainer bei Lausanne, sagte einmal, Yakin sei «fach- und sozialkompetent» und lege grossen Wert auf den Teamgeist. «Bei ihm spielen nicht zwingend die stärksten Fussballer, sondern jene, die am besten zusammenpassen.» Und: «Er ist überhaupt kein Diktator. Er geht auf andere Meinungen ein und ist ein totaler Teamplayer.»

Vom «Trainer plus» zum Mitbesitzer

Was auch immer zutrifft: Mit dem FCS scheint Yakin genau jenen Verein gefunden zu haben, bei dem er seine Ideen durchsetzen kann – ohne Widersprüche von Präsidenten, Sportchefs oder Spielern. Dafür nahm er auch eigenes Geld in die Hand. 

FCS-Legende Hans Thoma, 2017 unter Yakin Videoanalyst, erzählte der Aargauer Zeitung einmal folgende Anekdote: «Ich brauchte einen neuen Beamer und hatte einen für 666 Franken im Auge. Der Club wollte aber nur 400 Franken ausgeben. Yakin sagte, ich solle ihn holen, er bezahle den Rest. Am nächsten Tag gab er mir das Geld.»

Nachdem Murat Yakin Mitte 2019 mit einer Finanzspritze mitgeholfen hatte, den FCS vor dem Lizenzentzug und dem Zwangsabstieg zu retten, sagte Präsident Roland Klein vergangene Woche in den SN: «Es ist für die Zukunft angedacht, dass er als Mitbesitzer einsteigt.» Man müsse Yakin «einen Mehrwert bieten».

Es wäre eine aussergewöhnliche Konstellation. Ob ein Trainer gleichzeitig schon einmal Mitbesitzer eines Clubs war, kann oder will nicht einmal die Liga beantworten. Solange Yakin allerdings FCS-Mitbesitzer wäre, dürfte er laut Swiss Football League (SFL) wohl kaum einen anderen Club in den höchsten beiden Ligen der Schweiz trainieren. Niemand darf laut Statuten «gleichzeitig direkt oder indirekt an der Leitung, der Verwaltung oder den sportlichen Aktivitäten von mehr als einem Club der SFL in irgendwelcher Art und Weise beteiligt sein», schreibt die Liga.

Das scheint Yakin nicht zu kümmern. Denn offenbar schafft er sich beim FCS gerade sein eigenes kleines Königreich. Der Regent, so viel ist klar, ist er. «Yakin ist alles», sagt Luca Tranquilli. «Die Bezeichnung ‹Trainer plus› ist eine Untertreibung.»

Aus sportlicher Sicht hat Yakins Regentschaft dem Verein bisher nicht geschadet. Im Gegenteil. Vielleicht ist es genau das, was der FCS braucht. Und im Gegensatz zu Christian Constantin hat Yakin Ahnung von Fussball.

Sollte der Plan Yakin allerdings scheitern, ist ebenfalls sonnenklar, wer dafür die Verantwortung trägt: dr Boss. 

Unter Yakin eine Tormaschine: FCS-Stürmer Rodrigo Pollero (Nummer 9).