«Ich komme aus einer grausamen Welt»

17. März 2021, Marlon Rusch

Seine heroin­süchtige Mutter wurde erstochen, doch der Staat kümmerte sich wenig um den 18-jährigen Ken. Es begann ein Kampf ums Überleben.

Am Freitagmorgen, dem 30. April 2010, stand Ken auf und ging zur Wohnung seiner Mutter. Der 18-Jährige war kürzlich ausgezogen, nun sollte er ihr Geld bringen, das er gewechselt hatte. Sie erwartete eine Lieferung Heroin. Doch die Tür blieb zu. Auch als er am Mittag wieder klingelte, öffnete niemand, und als am Abend einer der Kunden seiner Mutter wartend vor der Tür stand und Ken sah, dass in der Küche Licht brannte, wurde ihm klar, dass etwas passiert sein musste. 

Er versuchte, über die Dachrinne auf den Balkon zu klettern, doch es klappte nicht. Also ging er an den Rhein zu seinen Freunden und bat einen von ihnen, mitzukommen. Der Freund machte die Räuberleiter und als Ken auf dem Balkon stand, sah er seine Mutter in einer Blutlache liegen. Später wird die Spurensicherung der Schaffhauser Polizei feststellen, dass ein Stück des Messers, mit dem jemand vier Mal auf sie eingestochen hatte, noch in ihrem Kopf steckte. 

Ken drehte seine Mutter um, doch es sei gewesen, wie wenn er einen Stein umgedreht hätte. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Im Spülbecken lag noch eine Folie, das Geld und der Stoff aber, den die Mutter in ihrer Wohnung gebunkert hatte, waren weg. Ken begann zu schreien, irgendwann kam die Polizei und führte ihn in Handschellen ab. 

Ein paar Tage später konnte man in Blick lesen, der 18-jährige Sohn der getöteten Frau sei tatverdächtig. Doch der Verdacht zerschlug sich schnell. 

Ken erzählt gefasst, detailreich. Er sagt: «Ich weiss, wer es getan hat.» Doch der Mann wurde freigesprochen. Der Junkie und Kunde seiner Mutter war zwar im Besitz ihres Handys, er war ­bewiesenermassen in der Tatnacht bei ihr in der Wohnung ­gewesen, doch die Tötung konnte man ihm nicht nachweisen. Der Mann wurde kurz darauf zwar zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er einen anderen Mann mit einem Aschenbecher fast totgeschlagen hatte, doch wegen guter Führung wurde er frühzeitig aus der Haft entlassen und verliess daraufhin die Schweiz.

Der mutterlose Sohn verliess den Polizeiposten am Sonntag, dem 2. Mai 2010, und ging zum Freund, bei dem er kurz zuvor eingezogen war. Drei Monate später brach er zusammen. Richtig zu sich kam er erst wieder in der geschlossenen Psychiatrie.

Ken erzählt sein Leben elf Jahre später in der Stube seiner Wohnung in einem Schaffhauser Familienquartier. Er hat sie liebevoll eingerichtet, die Stühle eigenhändig abgeschliffen, es riecht nach Kaffee und selbstgedrehten Zigaretten. Am Kühlschrank hängt die Visitenkarte des Pfändungsbeamten. Ein junger, dünner Mann, silberberingte Finger, tätowiert von den Schenkeln bis zum Hinterkopf. Träfe man ihn draussen mit den Hunden, die er hütet, um sich ein paar Franken zu verdienen, man wüsste nicht recht, wo man ihn verorten sollte: auf dem Laufsteg oder in der Bahnhofsunterführung. 

Seine Geschichte ist die Geschichte einer verzweifelten Kindheit, eines bemerkenswerten Behördenversagens – und eines steinigen Wegs hinein in die Mitte der Gesellschaft. 

Heroin in der CD-Hülle
Kens Kindheit begann behütet in einem Schaffhauser Dorf: ein grosses Haus, zwei Autos, ein eigener Spielplatz im Garten. Der Vater machte gute Geschäfte, war oft monatelang in seiner russischen Heimat, die Mutter war zuhause und begann irgendwann, Drogen zu nehmen. Als der Sohn 8 Jahre alt war, schlief sie manchmal auf dem Sofa ein und liess sich nicht mehr wecken. Der Bub rannte nackt durchs Dorf und schrie: «Meine Mutter ist tot!» Bald wussten die Nachbarn von ihrer Heroinsucht, der Vater blieb für immer längere Zeit weg und kam schliesslich gar nicht mehr zurück.

Die arbeitslose Mutter zog mit den beiden Kindern in eine kleine Wohnung in der Stadt, das Geld kam bald vom Sozialamt und sie flüchtete sich immer mehr in ihr Traumland. Bald gehörte es für den zehnjährigen Ken zum Alltag, der auf dem kalten Küchenboden liegenden Mutter die Spritze aus dem Arm zu ziehen und sie ins Bett zu bringen. Um die Rechnungen bezahlen zu können und dem Sohn auch mal ein Skilager zu finanzieren, begann sie, den Stoff auch zu verkaufen. Immer mehr Leute gingen zuhause ein und aus, in der Stube wurde Folie geraucht. Sie habe sich geschämt, erzählt Ken, habe ihre Sucht verstecken wollen, doch wie in der engen Wohnung?

Bald gesellte sich auch die Tochter zu den Junkies, zehn Jahre älter als Ken. Er selber wurde angewiesen, den Männern, die klingelten, mit Heroin gefüllte CD-Hüllen runterzubringen und ein paar Noten entgegenzunehmen. In seinem Schulthek klaute er zusammen mit der Mutter Lebensmittel im Coop. Ab und an fand er in der Wohnung Abschiedsbriefe seiner Mutter, doch auch nachdem einmal ihr Lungenflügel kollabierte und die Sanitäter fragten, ob seine Mutter Drogen nehme, schritt niemand ein. 

«Was andere aus Filmen kennen, habe ich alles live gesehen. Ich könnte hier Heroin aufkochen, obwohl ich das noch nie selber genommen habe.» Ken erzählt mit leiser Stimme, doch schonungslos offen, auch gegenüber sich selber. Er sagt, er habe eigentlich nur einen grossen Wunsch: ein normales Leben. Immer wieder betont er, dass er viel Scheisse gebaut habe, dass er niemandem Vorwürfe mache. Doch ihm würden auch immer wieder Steine in den Weg gelegt. Und man fragt sich: Wo könnte dieser junge Mann heute stehen, wäre nicht jeder kleine Misstritt gnadenlos abgestraft worden? Was würde er heute tun, wäre er nicht wieder und wieder auf sich allein gestellt gewesen? Wer wäre Ken heute, wäre er über die Jahre nicht immer tiefer in den Schuldensumpf geraten?

Zigistummel sammeln mit den Junkies
Nach neun Schuljahren flog er von der Schule, eine Vorlehre als Maurer brach er ab, das kaputte Zuhause war Arbeit genug. Für seine Schwester sei der Tod der Mutter paradoxerweise eine Erlösung gewesen. Sie hatte zu dieser Zeit auf der Strasse gelebt, der ganze Körper zerstochen, ein Junkie wie aus einer BAG-Kampagne. Der Schicksalsschlag habe sie gerettet, sie sei so geschockt gewesen, dass sie heute clean sei, neue Zähne habe und in einer Wohngruppe lebe.

Für den verstörten 18-Jährigen bedeutete der Tod, dass er sich ein neues Leben aufbauen musste – ohne Fallnetz.

Die Opferhilfe gab ihm einmalig 15 000 Franken, doch das Sozialamt drückte ihm lediglich Essensgutscheine für die Migros in die Hand, bunt und riesengross, einlösen konnte er sie nur am Kundendienst. «Dabei habe ich mich sowieso schon unglaublich geschämt für meine Situation.» Er musste an Gerichtstermine, musste entscheiden, ob seine Mutter kremiert oder beerdigt werden soll, die Wohnung durfte nur 650 Franken kosten, nachdem er aus Angst Termine verstreichen liess, sei ihm ganz verboten worden, zum Zahnarzt zu gehen, bis die Backe immer mehr anschwoll. Das Sozialamt wollte, dass er Arbeit sucht, und steckte ihn in ein Arbeitsprogramm der Stiftung Impuls. Dort musste er Zigarettenstummel auflesen mit all den Drogensüchtigen, die schon seine Mutter kannten. Gegessen wurde in der Gassenküche, die Gespräche waren dieselben wie früher zuhause bei der Mutter. «Mich da reinzustecken, war das Dümmste, was man machen konnte. Ausser man wollte mich vorsätzlich zu einem Junkie machen.» Als er dann ins Case Management der Berufsbildung kam, hatte er Glück. Eine Frau setzte sich für ihn ein und setzte durch, dass er wegkam vom Arbeitsprogramm. Endlich hatte er etwas Ruhe. 

Bald nahm Ken ein paar gute Abzweigungen. Seine Freunde vermittelten ihm Jobs, schrieben mit ihm Bewerbungen, halfen ihm, eine Lehrstelle zu finden in einem Skateshop in Winterthur, bei dem er die nächsten acht Jahre arbeiten sollte. Statt Sozialgeld gab es Ergänzungsleistungen und eine kleine Halbwaisenrente. Es sah immer besser aus. Doch seine Schatten wurde er nicht so schnell los. 

Im «Königsfilm» an der Langstrasse
Die Angstzustände verstärkten sich. Manchmal stand er im Laden, sollte Kundinnen beraten, doch er brachte kein Wort über die Lippen, der Schweiss tropfte. Ein Selbstwertgefühl hat sich in der Kindheit nie entwickelt: «Ich komme aus einer grausamen Welt und musste zuerst lernen, dass ich nichts dafür kann.» Während seine Freunde mit den Eltern in die Ferien gingen oder zusammen ins Kino, blieb er meist zuhause. Als sie mit nagelneuen Handys spielten, stand er zuerst nur daneben. Irgendwann schloss er eben auch einen Vertrag ab, begann, sich schöne Kleider zu kaufen, Tattoos zu stechen. «In einer Konsumgesellschaft ist es nicht so einfach, nur zu überleben, statt zu leben», sagt er. Wenn die Rechnungen den Briefkasten geflutet hatten, stellte er den Mülleimer darunter. Dass das auf die Dauer nicht gutgehen konnte, war dem verwaisten Teenager egal.

Eines Tages habe sich eine Anwältin bei ihm gemeldet, die ein Dutzend Jahre zuvor nach einem Autounfall seine Mutter vertreten hatte. Sie schaffte es, nachträglich 30 000 Franken aus dem Unfall herauszuholen – und gab Ken das Geld. Es reichte gerade, um die Schulden abzubezahlen und die Lohnpfändung aufzuheben. Der Vater besitzt nach wie vor ein Haus in Bülach, wo auch ein Ferrari steht. «Doch er hat nie getan, was andere Väter tun, wenn ihr Sohn mal etwas Dummes anstellt: ihm zünftig auf die Finger klopfen – und dann die Rechnung bezahlen.»

Ein Substitut für den mangelnden Selbstwert fand Ken im Kokain. Irgendwann begann er auch zu verkaufen, um die Schulden zu zahlen. Plötzlich war viel Geld da und er geriet in den «Königsfilm», dachte, er sei der Grösste, warf an der Zürcher Langstrasse mit Scheinen um sich. Bis er eines Tages in den Spiegel schaute und sah: Wenn ich so weitermache, ende ich wie meine Mutter. Geblieben von der Drogenzeit ist eine lädierte Nase, eine horrende Zahnarztrechnung und ein Schuldenberg im mittleren fünfstelligen Bereich. Dazwischen liegen naive Krankenkassenentscheide, ein buddhistischer Psychiater, die ihn auf eine «innere Reise» schicken wollten, Medikamente, die ihre Wirkung verfehlten, Depressionen. Schliesslich folgte eine fristlose Kündigung im Skateladen. Dabei habe er dort jahrelang gute Arbeit geleistet, die Zwischenzeugnisse würden es beweisen. Er habe sich aber irgendwann mit der Chefin verkracht. Das Gericht gab ihm zwar Recht, doch das half wenig. Das ­Temesta, das ihm der Arzt gab, um herunterzukommen, wirkte nicht. Er nahm zwei davon, doch schlafen konnte er trotzdem nicht. Da wusste er, dass er sich nochmals in die Klinik einliefern lassen muss.

Das Stigma lässt sich nicht wegwaschen
Man kann kaum glauben, dass der nette Mann mit der Katze auf dem Schoss derselbe ist, von dem er da gerade erzählt. Und vielleicht wäre er es auch nicht, hätte er nicht vor 17 Jahren zu seiner grossen Liebe gefunden, dem Skaten; hätte er nicht treue Freunde und verständnisvolle Partnerinnen gehabt, die ihm gezeigt haben, wie man einen Haushalt führt, wie die Gesellschaft funktioniert. Kürzlich ass er erstmals an Weihnachten Fondue bourguinonne, bei der Mutter seiner Freundin, es habe sogar Champagner gegeben. Mit dem eigenen Vater verstehe er sich heute viel besser als früher. Doch das Stigma wird er so schnell nicht los. «Viele Leute sagen: ‹Der hat ja mega schöne Kleider› und sehen nicht, dass ich die habe, weil ich acht Jahre in einem Kleiderladen gearbeitet habe. Wieso soll ich abgefuckt aussehen? Um meiner abgefuckten Geschichte zu entsprechen? Ich will mich ja davon distanzieren!»

Der Schuldenberg ist noch immer riesig, es gibt Probleme mit dem RAV, derzeit ist er arbeitslos. Der Schuldenberater, bei dem er sich angemeldet hat, fordert viel. Doch Ken sagt, er wisse, dass er noch viel lernen müsse, Buchhaltungszeugs und so. Einiges habe er aber bereits gelernt. Etwa dass Junkies keine bösen Menschen sind, sondern in der Regel einfach eine ganze Menge Probleme haben.

Heute bekommt er manchmal ein kostenloses Mittagessen in einem Café in der Stadt, wenn er dafür den Hund der Besitzerin ausführt. Er würde gern im Tierheim arbeiten, vielleicht Tierpfleger werden, doch die Ausbildung sei teuer. Seine Freundin zahle ihm nun die Autoprüfung, damit er sich beruflich neu orientieren könne. Er sagt, er versuche, das Beste aus seiner Situation zu machen. Von der Mitte der Gesellschaft ist er jedenfalls noch ein gutes Stück entfernt.

Ehemalige Schulfreundinnen von Ken haben eine Spendenaktion gestartet, damit er seine Schulden abzahlen kann, die ihn heute noch schwer belasten. Wer Ken unterstützen möchte, kann das hier ohne grossen Aufwand tun.