Die Chance ergreifen

12. März 2021, Doerte Letzmann
Da kann nichts mehr schiefgehen: Der neue Kantonsarzt Martin Vaso am Defibrillator. Peter Pfister

Pizzakartons, Goldbarren und die dunklen Schatten der FIFA-Vergangenheit: Warum auf den neuen Kantonsarzt Martin Vaso kein eindeutiges Label passt.

Martin Vasos Äusseres drängt sich nicht in den Vordergrund. Für einen Spaziergang durch die Innenstadt zum Rhein trägt der neue Kantonsarzt einen grauen Anzug, ein weisses Hemd und schwarze, eckige Schuhe. Auf der Nase sitzt eine randlose, eckige Brille. Er sieht aus wie auf jedem Foto, das man von ihm im Internet findet. Kantig, kalkuliert, unnahbar.

Deswegen überrascht es, dass er als erstes das Du anbietet. «Ich bin Martin», sagt er.

Von einem ehemaligen Kadermann des Weltfussballverbandes kommt diese Geste der Freundlichkeit und Nähe unerwartet. Und nach einem Gespräch mit ihm wird klar: So einfach lässt der er sich nicht labeln.

Heiss begehrt

Vaso ist seit einem Monat Kantonsarzt in Schaffhausen, angestellt in einem 40-Prozent-Pensum. «Alles im Leben hat seine Zeit und jetzt war die Zeit, etwas Neues zu machen», so beurteilt Vaso seine Entscheidung, die Stelle anzutreten.

Er pendelt zweimal die Woche aus seinem Wohnort in den Grenzkanton, den er bisher nur von einem Klassenlager am Rheinfall während der Primarschulzeit kannte.

Kantonsarzt zu sein bedeutet, die Regierung in Fragen der öffentlichen Gesundheit zu beraten. Aber es bedeutet auch Teamarbeit, das ist dem neuen Amtsinhaber wichtig.

In Schaffhausen und darüber hinaus war Vasos Besetzung eine grosse Sache. Denn seine Stelle blieb monatelang unbesetzt, nachdem die bisherige Kantonsärztin, Maha Züger, im Juni 2020 entlassen wurde. Mitten in der Pandemie.

Einen Termin mit Vaso zu bekommen, war also nicht einfach. Von den Schaffhauser Nachrichten bis zum SRF wollten alle mit ihm sprechen. «Das habe ich nicht erwartet», sagt Vaso überrascht. 

Der 43-Jährige spricht leise, bedächtig. Seine Antworten sind überlegt, aber nicht einstudiert. Kantonsarzt zu werden, war nicht sein Plan. So wie nichts in seiner Karriere geplant war. Er habe einfach Chancen ergriffen, so fasst Vaso seine bisherige berufliche Laufbahn zusammen.

Seine erste Chance war das Jura-Studium. Rechtsfälle knacken, das war seine Sache. «Das ist wie ein Puzzle lösen, man muss die einzelnen Bausteine finden», sagt er über seine Leidenschaft für die Juristerei. Und: dass man eine Lösung finden kann, obwohl es so viele unterschiedliche Meinungen gibt.

Aber der Jurist, dieses Label haftet nicht. Denn Vaso ist nicht nur das. Seine Karriere ist zu vielfältig, um ihn in eine Schublade zu stecken.

Schliesslich ist er auch Arzt. Das mit dem Medizinstudium, das hat sich so ergeben, nachdem er den Numerus Clausus bestanden hatte. Eine Chance, die er ergreifen musste. In diesem Feld hat er Antworten auf philosophische Fragen gesucht, nach Leben und Tod, nach den ganz elementaren Dingen.

Steile Karriere

2014 promovierte er zum Thema der Ausdauerleistung beim Schwimmen. Ergebnis: Frauen sind in einigen Bereichen leistungsfähiger als Männer. «Das mag manche überraschen», meint Vaso.

Und dann kam die Chance bei der FIFA. Sechs Jahre arbeitete Vaso für den Weltfussballverband im Hauptquartier in Zürich. Am Ende sogar als Chief Human Resources Officer, als Kadermitarbeiter des Präsidenten Gianni Infantino.

Anfangs arbeitete er als Anti-Doping-Manager in der medizinischen Abteilung. Aber aus diesem Job spross dann eine beachtliche Karriere bei der umstrittenen Organisation.  

Über seinen ehemaligen Arbeitgeber sagt Vaso nicht viel. Spricht man jedoch mit Mitarbeitern, die unter Martin Vaso in der IT-Abteilung des Unternehmens gearbeitet haben, wirft das einen dunklen Schatten auf seine Zeit als oberster Personalchef dort.

Die dunkle Seite

Die AZ hat mit zwei ehemaligen Mitarbeitenden gesprochen, die sagen: Das Arbeitsklima bei der FIFA war toxisch und extrem hierarchisch. «Es ging nie darum, gute Arbeit zu leisten, sondern nur um Status und Politik», sagt die eine.

Für die obersten Verantwortlichen findet sie keine lobenden Worte. Über Vaso äussert sie sich nicht konkret. Aber belohnt wurde nicht gute Arbeit, sondern die Fähigkeit, sich gut darzustellen, sagt sie. 

Wurde man bei Problemen von der Personalabteilung unterstützt? Fehlanzeige. Es seien selbst solche Manager noch weiter befördert worden, über die bei der Personalabteilung schon Beschwerden der Angestellten vorlagen.  Man musste nur das Spiel beherrschen. Und es war nicht Fussball.

Vaso ist erstaunt über die Kritik, schweigt sich über die konkreten Vorwürfe jedoch aus. Welche Rolle er in dieser giftigen Umgebung gespielt hat, lässt sich nur vermuten. Als oberster Verantwortlicher der Abteilung hätte er sie zumindest bemerken müssen. 

Und man könnte argumentieren, dass er als Chief Human Resources Officer gerade dafür zuständig gewesen sein müsste, eine gute Arbeitsumgebung für die Angestellten zu schaffen.

Im Management, da ist die schlechte Arbeitsatmosphäre vielleicht an ihm vorbei gegangen. Aber in der Belegschaft, das belegen Dokumente, die der AZ vorliegen, da war sie voll zu spüren.

Angesichts Vasos steiler Karriere bei der FIFA liegt  jedenfalls der Schluss nahe: Er hat das politische Spiel gut gespielt.

Das Label des arroganten, Status-besessenen Managers haftet trotzdem nicht an Vaso. Denn er weiss, wie es ist, schlecht bezahlte Jobs zu machen, um sich selbst zu finanzieren. Auf einer Bank am Rhein sitzend zählt er die Tätigkeiten auf, mit denen er sich über Wasser hielt, früher, während des Studiums. Coupons schnipseln zum Beispiel. Eintönig, nicht glamourös.

Kein Materialist

Am prägendsten war die Geschichte mit den Goldbarren. Vaso erzählt, wie er als junger Mann, gerade frisch nach der Matura, in einer Bank gearbeitet hat. Und zwar unten im Tresor, stundenlang ohne Tageslicht, zwischen all dem Gold.

Das war nicht sein Ding. Und mehr noch: Ab da wusste er, das Materielle, die Statussymbole, die sind nicht so wichtig.

Für ihn war es daher leicht, die internationale Welt der FIFA gegen eine Stelle als Arzt in einer psychiatrischen Klinik in Zürich einzutauschen. «Das ist kein Widerspruch», sagt Vaso. Es sind unterschiedliche Welten. Denn ihn interessieren die «Tiefen der menschlichen Psyche». Aber eben auch, Menschen zu helfen. «Das Schöne ist, wenn man sieht, dass die Arbeit Erfolg gebracht hat», sagt er.

Der gläserne Kantonsarzt

Welches Label trägt Vaso als Kantonsarzt? Fragt man den Tausendsassa nach der Philosophie, mit der er sein Amt führen will, dann stellt er Transparenz und Bürgernähe in Aussicht. In etwa das Gegenteil der FIFA also.

Bei seinen Ausführungen leuchtet sein Gesicht vor Begeisterung. Er habe mal den Präsidenten eines Inselstaates kennengelernt. Dessen Telefonnummer sei öffentlich zugänglich gewesen. Bürgerinnen und Bürger konnten ihn einfach anrufen und er nahm persönlich ab.

Diesen Anspruch hat Vaso auch an sich selbst als Kantonsarzt. «Ich will ein nahbarer Kantonsarzt sein. Transparenz und guter Service sind mir wichtig», bekräftigt er. Auch, wenn er in der Praxis nicht direkt telefonisch erreichbar sein kann.

Ein Stündchen am Rhein mit Vaso macht vor allem eines deutlich: Er lässt sich nicht einfach mit Labeln bekleben. Der Mann, der nach aussen wie ein Geschäftsmann wirkt, ist wie ein facettenreiches Chamäleon. Der graue Anzug bedeutet eher, dass er in viele Umgebungen passt.

Perfekter Behälter

An diesem sonnigen Nachmittag am Ufer des Rheins, als die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres für einen Moment die Pandemie vergessen lassen, zeigt Martin Vaso auch seine unerwarteten Seiten. 

«Sind das Abfalleimer für Pizzakartons?», fragt er und deutet auf die grossen, vierzackigen Metallbehälter, die wie Mistgabeln in der Mitte des Platzes aus dem Boden spriessen. «Das ist genial», sagt er. Die habe er in Zürich noch nicht gesehen.

Spätestens jetzt ist klar: Dem neuen Kantonsarzt geht es nicht um Äusserlichkeiten, sondern um die inneren Werte. Von Rechtsfällen, vom menschlichen Körper, von der Psyche und manchmal eben auch von Abfalleimern.