5. März 2021, Marlon Rusch

 Ist «Hochkultur» tatsächlich 46-mal mehr wert als Rock, Pop und Jazz? Natürlich nicht. Also braucht es Veränderung. Eine Streitschrift.

Unter meinen Freunden gibt es viele Kulturschaffende. Dass sie nach etwas anderem streben als nach materiellem Wohlstand, versteht sich von selber. Sie beklagen sich in der Regel nicht und finden meist sinnvollere Ort, wo sie ihr weniges Geld parkieren wollen, als ein Vorsorgekonto. Manchmal halte ich sie für naiv, manchmal bewundere ich sie. So oder so bin ich unendlich dankbar, dass es sie gibt. Wir bekommen gerade einen Eindruck davon, wie trist das Leben wäre ohne Kultur.

Nun, wo der ganze Sektor abgeriegelt wurde und die Theater und Musikclubs verwaisen, zeigt sich auch in der Kultur ein Graben. Ich kenne Menschen, die eine feste Anstellung haben, etwa in einem der etablierten Häuser, in der «Hochkultur». Sie bekommen nach wie vor ihr Gehalt, Lohnband angenehmes Mittelfeld. Dann aber habe ich Bekannte, die ihren Lebensunterhalt als Söldner im Dienste der Musik verdienen, Abend für Abend auf den Popkultur-Bühnen der Nation spielen, für miese Gagen und harte Betten in Zweisternehotels. Und die jetzt, da sie nicht mehr spielen dürfen, fast nicht über die Runden kommen.

Diese Zweiklassengesellschaft hat strukturelle Gründe. Die AZ hat im März 2018 aufgezeigt, wie die Stadt Schaffhausen ihre Kulturgelder verteilt, und errechnet, dass das Museum zu Allerheiligen 46-mal so viel Geld bekommt wie die Kammgarn (siehe Ausgabe 10 2018, epaper.shaz.ch).

Die Zahl warf bei mir Fragen auf. Und jetzt, wo die Krise den Kulturbetrieb aus der Angel gehoben hat, wäre die Gelegenheit, nach Antworten zu suchen – und die Förderpraxis neu zu denken. 

Wenn man über die Erhöhung von Kultursubventionen diskutieren will, hört man immer das eine Totschlagargument: «politisch nicht machbar». Es ist klar, dass die Rechtsbürgerlichen mit aller Macht versuchen, subversive Elemente aus unserem Leben zu verbannen, und es ist auch klar, dass sie alle Kultur, die nicht in einer Mehrzweckhalle stattfindet, pauschal als unnötige Subkultur abstempeln. Doch um Realpolitik soll es in diesem Text nicht gehen. Lassen Sie mich grösser denken –  wann, wenn nicht in einer Jahrhundertkrise, hat man sonst die Möglichkeit dazu?

«Nischenkultur» ist längst Mainstream

Eigentlich ist die Zweiklassengesellschaft heillos veraltet. Die institutionalisierte «Hochkultur», die Stadttheater, die Opern und Orchester, entstanden aus einem bürgerlichen Selbstverständnis heraus. Ein Beethoven war Ende des 18. Jahrhunderts zwar noch von Mäzenen abhängig, bald aber wurden die kulturellen Institutionen zu anerkannten Aushängeschildern der Städte, sie waren sozusagen die Urform des Standortmarketings. Die Städte nahmen die Häuser in ihre regulären Budgets auf, stellten Intendanten an, die Kultur fand Eingang in die Mitte der Gesellschaft.

Dann, als sich nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich der Wohlstand in der westlichen Welt ausbreitete und die Jugendlichen konsumieren und sich verwirklichen wollten, entstand die Popkultur. 

Natürlich war sie, wie alles Neue, zuerst im Verruf. Doch sie war nicht aufzuhalten und kam schliesslich auch in Schaffhausen an. Die Jugend begann, sich Räume zu erkämpfen, ab Mitte der 80er-Jahre fasste sie Fuss in den ehemaligen Industriehallen der Kammgarn-Spinnerei. Es begann ein Aushandlungsprozess. 1985 sprach Stadtpräsident Felix Schwank aus einer Laune heraus 100 000 Franken für eine rudimentäre Infrastruktur; ohne Protokoll, ohne Aktennotiz, ohne Vertrag (die Kammgarn-Chronik ist nachzulesen in Ausgabe 42 2017, epaper.shaz.ch).

Die Kammgarn-Verhandlungen zeigen, wie ernst man die Popkultur damals nahm: nicht übermässig ernst. Seither aber hat sich der Stellenwert der «Nischenkultur» gewandelt. Die Kammgarn steht heute in der Mitte der Gesellschaft, das müssen auch rechtsbürgerliche Kreise anerkennen. Pop, Rock und Jazz werden nicht mehr von ein paar verlausten Hippies gehört. Über die Jahre ist die Nische zum Mainstream geworden.

Die öffentliche Hand anerkannte das im Jahr 2001. Damals heckten der Stadtrat Thomas Feurer, die städtische Kulturverantwortliche Elisabeth Dalucas und der kantonale Kulturverantwortliche Roland E. Hofer einen Plan aus, der der Popkultur endlich Luft verschaffte. Der Kern waren «Leistungsvereinbarungen». Der Begriff wurde zu einem Heilsversprechen. Fortan erhielten die wichtigsten Institutionen fixe Beiträge von der öffentlichen Hand, und im Kulturbrief wurde transparent ausgewiesen, wer wie viel Geld bekam. Es war eine Institutionalisierung der Popkultur, ein Paradigmenwechsel. Und Orte wie die Kammgarn oder das Schauwerk konnten anfangen, sich zu professionalisieren. Sie konnten anfangen, kleine Löhne zu bezahlen.

Seither aber ist nicht mehr viel passiert. Das Gefälle zwischen den etablierten Häusern der Hochkultur und der Popkultur besteht weiterhin. Die Höhe der Beiträge wird zwar immer wieder ein wenig angepasst, mal unter weniger Getöse, mal unter mehr (man erinnere sich etwa an den Streit im Parlament 2016, als das Haberhaus mehr Geld bekommen sollte). Doch auf dem Modell ruht sich die öffentliche Hand seither aus – schon 20 Jahre lang.

1996: «Juvenile Crime» suchte eine neue Bleibe …  Peter Pfister

Die Erwartungen sind gestiegen

Doch Stillstand heisst Rückschritt. Belässt man alles beim Alten, kommen Betriebe wie die Kammgarn oder das TapTab immer mehr unter Druck. Dadurch, dass sich diese Kulturorte aus der Nische gearbeitet und etabliert haben, haben sie bei der Bevölkerung Erwartungen geweckt. Das Programm soll abwechslungsreich sein, die Soundqualität gut, der Drink eiskalt. Ein Barchef, der vor 20 Jahren noch ohne schlechtes Gewissen besoffen in der Ecke liegen konnte, ist heute nicht mehr tragbar. 

Doch dass eine Professionalisierung auch etwas kostet, will die öffentliche Hand nicht wahrhaben.

Das TapTab kann nur funktionieren, weil zwei Dutzend ­Idealistinnen und Idealisten in Mikropensen den Laden schmeissen, Urgesteine wie René Albrecht oder Gabi Gmür seit vielen Jahren unzählige Arbeitsstunden hineinstecken, ohne dafür auch nur ansatzweise angemessen entlöhnt zu werden. 

Das ist nicht nur ausbeuterisch – das ist auch fahrlässig.

Das Stadttheater oder das Museum zu Allerheiligen wird von Menschen mit einem anständigen Lohn geführt. Für diesen Lohn kauft sich die öffentliche Hand Qualität. Die Direktorinnen und Direktoren mussten sich für ihre Stelle bewerben, sie wurden sorgfältig ausgewählt und haben ein fixes Pflichtenheft. Sie müssen sich messen lassen an Ergebnissen. 

Wieso macht man nicht dasselbe mit popkulturellen Betrieben? Wieso pumpt man in die Betriebe nicht mehr Geld und fordert im Gegenzug professionellere Strukturen ein? Die öffentliche Hand würde sich damit auch eine Qualitätskontrolle erkaufen. Man könnte Vorstellungsgespräche führen mit den Menschen, die das Programm machen wollen, man könnte ihnen Ziele vorgeben und evaluieren, ob die Ziele auch erreicht werden.

Es gibt in Schaffhausen viele Leute, die es toll fänden, wenn die Kammgarn mit konzeptioneller Arbeit ihr Profil als Konzertveranstalterin schärfen würde, statt im Jahresrhythmus dieselben Altstars zu buchen und sie mit Halligalli-Partys querzufinanzieren. Ich gehöre dazu. Doch es fällt schwer, sich zu beschweren, wenn man weiss, dass die Leute, die sich in der Kammgarn engagieren, dafür keine 30 Franken pro Stunde bekommen. 

Sollte jetzt trotz allem jemand einwerfen, eine Erhöhung der Subventionen sei «politisch nicht machbar», könnte man eine Rückfrage stellen: Wieso verteilt man nicht zumindest die bestehenden Mittel etwas fairer? 1 zu 46 – wer bitte kann das heute noch verantworten? 

Keine Strukturen – keine Gewissheit

Die Ungleichheit betrifft nicht nur die Betriebe. Nehmen wir Institutionen wie die Tanz-Gruppe Kumpane, das Schaffhauser Jazzfestival oder den Theater-Verein Schauwerk. Sie alle sind längst zu Aushängeschildern der Region geworden. Doch die Männer und Frauen, die die Institutionen erfanden, sich einen Platz im Kulturkuchen erarbeiteten und immer wieder gegen Widerstände ankämpfen mussten, stehen längst nicht auf soliden Beinen. Sie leisten Arbeit von unschätzbarem Wert, doch dass wir sie haben, ist reiner Zufall. Wenn sie eines Tages gehen wollen, sind sie weg. Schaut man sich die prägenden Figuren der Schaffhauser Kultur an, muss man feststellen: Es dürfte in den nächsten Jahren mehrere altersbedingte Abgänge geben. Ob jemand nachfolgt, steht in den Sternen. 

Gibt es keine festen Strukturen, riskiert man, dass ganze Bereiche wegbrechen, ersatzlos, dass langjährige Institutionen, an die wir uns längst gewöhnt haben, einfach eingehen. Die Leistungsvereinbarungen werden aufgelöst – that’s it. 

Kündigt die Museumsdirektorin oder der Theaterleiter seinen Job, wird neu ausgeschrieben. Doch sollte Urs Röllin kein Jazzfestival mehr veranstalten, wer soll da nachrücken und seinerseits sein ganzes Leben in die Sache reinstecken ohne vernünftige Sozialleistungen? Wird es noch professionellen Tanz geben in Schaffhausen, wenn Tina Beyeler irgendwann aufhören sollte mit Kumpane?

Gewisse Kreise dürften jetzt sagen: Na gut, dann geht halt mal ein Kindertheater ein. Dabei vergessen sie, welch unglaubliche Durchlauferhitzer Institutionen wie der Jugendclub Momoll sind. Gabriel Vetter und Lara Stoll, mittlerweile haben beide den Salzburger Stier gewonnen, lernten sich 2003 auf der Kleinen Bühne in Schaffhausen kennen. Dort entdeckten sie die Liebe für die Bühne. Heute sind wir stolz auf «unsere» Künstler. Aber aufgebaut werden sollen sie gefälligst von selbstausbeuterischen Idealisten.

Das Boot ist voll

Dabei wären rudimentäre Strukturen gar nicht so teuer. Ein guter Start wären anständig bezahlte Geschäftsstellen, mit anständigen Löhnen und echten Sozialleistungen, wie sie jeder andere Arbeitnehmer auch bekommt. 

Wieso gibt es nicht ein kleines Vermittlungsbüro für die Sparte Populärkultur, das auf dem Schirm hat, wer was macht in der Region, und Menschen vernetzt? Man könnte zusammen über Kultur nachdenken. Wieso lässt man das riesige Potential – auch punkto Standortmarketing – einfach ungenutzt? Ohne dem städtischen Kulturbeauftragten irgendwelche Kompetenzen und Engagement absprechen zu wollen: Jens Lampater führt das Stadttheater, er ist der Geschäftsführer des Internationalen Bachfests – schlägt sein Herz wirklich für einen verlotterten Punkkeller? Hat er wirklich genügend Zeit, sich in andere Kulturbereiche hineinzudenken?

Hinzu kommt: Die bestehenden Institutionen konnten sich bisher behaupten, weil sie einst eine Leistungsvereinbarung mit Stadt und Kanton eingehen konnten. Doch der Kreis der Begünstigten dehnt sich nicht aus. Neue Projekte haben es enorm schwer, in diesen Kreis aufzusteigen. Die Branche bleibt stehen. Das Boot ist voll.

All die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler können zwar Projektbeiträge von ein paar Tausend Franken beantragen. Doch damit kommen sie nie und nimmer über die Runden. Will eine Tänzerin ein Projekt realisieren, muss sie einen Grossteil des Geldes in die Raummiete stecken. Das Geld fliesst also im Endeffekt in Institutionen, die bereits gefördert werden. Und jetzt, in der Pandemie, in der die Freischaffenden keine Projekte umsetzen können, rutschen sie ins Prekariat. 

Die Krise zeigt: Unser System hat keinen Umgang gefunden mit freien Künstlerinnen. Sie sollen Formulare ausfüllen, um staatliche Hilfsgelder zu beantragen. Doch die Formulare sind ausgerichtet auf Menschen mit Festanstellung. Hatte eine Künstlerin 2019 eine kreative Phase und lebte vom Ersparten, kann sie keine Einnahmen vorweisen – und bekommt jetzt keine Coronahilfe. Rücklagen haben freie Künstler in der Regel keine. Denn die Gagen, die die Institutionen zahlen können, sind tief. Während eine klassische Sängerin für einen Auftritt im St. Johann ein paar Tausend Franken bekommt, erhält ein Jazzmusiker für ein Konzert im TapTab ein paar Hundert. Vielleicht haben beide Musik studiert, vielleicht haben beide 10 000 Stunden in ihre Kunst gesteckt. Wieso also die Unterschiede?

Ich kann es Ihnen sagen: wegen dem Verhältnis 1 zu 46. Steckt man Geld in eine Institution, fördert man nicht nur die Institution, sondern eine ganze Szene. Das Geld wird weiterverteilt, es fliesst in die Löhne, in die Gagen. Besser kann man die Wirtschaft nicht ankurbeln.

Das Modell aber, das heute vorherrscht, nennt sich «Gig-Economy». Das Transportunternehmen Uber wird derzeit harsch kritisiert, weil die selbstständigen Fahrerinnen mies verdienen und sozial nicht abgesichert sind. In der Kultur nehmen wir denselben Mechanismus einfach so hin.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will nicht dafür plädieren, dass jeder, der ein paar Saiten zupfen kann, staatliche Unterstützung bekommt. Laienkultur soll es weiterhin geben, auch unbezahlt. 

Aber die Grenze, die wir als Gesellschaft derzeit ziehen ­zwischen ambitionslosem Hobby und förderungswürdigem Kunstschaffen, verläuft an einem völlig falschen Ort.  

Die IG Kultur in Basel
Im Kanton Basel-Stadt beschäftigt man sich mit ähnlichen Problemen. 97 Prozent der Fördergelder im Bereich Musik fliessen in die Klassik. Elektronika, Metal, Jazz, Hip-Hop, Rock und Pop müssen sich mit 3 Prozent begnügen. 
Das spiegle in keiner Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit und das heutige Hörverhalten wider, sagt Fabian Gisler, Mitgründer der IG Musik Basel, die im Sommer 2020 die «Volksinitiative für eine zeitgemässe Musikförderung» lanciert hat. Diese fordert mehr Geld für alle Musikstile, und vor allem für freischaffende Musikerinnen.