E-ID-Gesetz: Für alle überraschend will Schaffhausen die digitale Identität für die Schweiz anbieten.
Doch noch ist nichts spruchreif. Regierungsrat Walter Vogelsanger rudert zurück.
Ausgerechnet der Kanton Schaffhausen hat die Debatte um das E-ID-Gesetz auf den Kopf gestellt. Dies ist die Geschichte eines ausgefuchsten Kampagnen-Schachzugs – bei dem Schaffhausen eher den Bauern als die Dame spielte.
Lange vor der eidgenössischen Abstimmung über das E-ID-Gesetz am 7. März 2021 waren die Argumente klar. Der Bundesrat und die Ja-Seite beteuerten, der Staat sei nicht imstande, einen digitalen Ausweis anzubieten, und es sei unbedenklich, diese Aufgabe an Private abzugeben. Für die Gegnerinnen und Gegner ist aber genau das das Problem der Vorlage, das Kernargument des Referendumskomitees lautet: «Der digitale Schweizer Pass gehört nicht in die Hände von privaten Unternehmen.»
Schaffhauser Überraschung in Bern
Das Abstimmungsbüchlein war im Druck, die Argumente bekannt. Doch dann sorgte der Kanton Schaffhausen für eine grosse Überraschung. Ein «Paukenschlag», schrieb die NZZ in einem Kommentar, habe «die Situation schon fast spektakulär geändert». Was war passiert?
Bühne für den Coup war das Medienzentrum des Bundeshauses: Am 14. Januar leitete Bundesrätin Karin Keller-Sutter den Auftakt zum Abstimmungskampf. Auf dem Podium sass auch der Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann, offiziell in seiner Funktion als Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbandes, der sich hinter das Gesetz stellt.
Er brachte seinen Heimatkanton ins Spiel: «Es ist allgemein bekannt und bestätigt, dass der Kanton Schaffhausen im ordentlichen Verfahren seine Lösung anerkennen lassen und somit als Anbieterin auftreten möchte.»
Nur: Das war überhaupt nicht «allgemein bekannt». Die Ankündigung war für die ganze Schweiz eine Neuigkeit – nur eine war nicht überrascht: Bundesrätin Karin Keller-Sutter.
Was bedeutet Germanns «Paukenschlag»? Falls das E-ID-Gesetz am 7. März angenommen wird, werden sich Anbieter bei der noch zu gründenden unabhängigen E-ID-Kommission des Bundes (EIDCOM) um eine Anerkennung ihres digitalen Ausweises bewerben können. Die Idee ist ein Markt, in dem verschiedene Anbieter um die Gunst von Kantonen, Firmen und Nutzerinnen buhlen. Bislang stand aber vor allem eine Bewerberin im Fokus: die Firma Swiss Sign, ein Konsortium aus Banken, Versicherungen, Swisscom, SBB und der Post. Diese Anbieterin meinen die Gegner, wenn sie vor der Privatisierung einer Staatsaufgabe warnen.
Das Gesetz sieht aber vor, dass auch Gemeinden und Kantone eine digitale Identität anbieten können. Nur hatte sich noch kein Kanton mit einer eigenen Lösung in Stellung gebracht – bis jetzt.

Die überraschende Neuigkeit, dass Schaffhausen seine Lösung für die ganze Schweiz auf den Markt bringen wolle, war erst unmittelbar vor der Pressekonferenz erstmals zu hören gewesen: In einem Hintergrundgespräch machte sie Titus Fleck vor einer Handvoll Journalisten publik. Fleck ist Projektleiter der Schaffhauser E-ID bei der KSD, dem Informatikunternehmen von Stadt und Kanton Schaffhausen. Er war Mitglied einer Arbeitsgruppe des Bundes, welche die technische und organisatorische Umsetzung des E-ID-Gesetzes vorbereitete.
Fleck wiederholt gegenüber der AZ: «Wir werden ein Gesuch um Anerkennung einreichen, sobald die EIDCOM operativ ist. Das dürfte gemäss Bundesamt für Justiz Ende 2022 der Fall sein.»
Ein Geschenk für die Bundesrätin
Für alle, die das E-ID-Gesetz befürworten, ist diese Ankündigung ein riesiges Geschenk. Dem Kernargument der Gegner konnten sie nun etwas entgegensetzen. Hannes Germann sagte an der Pressekonferenz: «Ein wesentlicher Kritikpunkt an der Vorlage stellt dar, dass Private eine E-ID für staatliche Dienste anbieten können. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, wie das Beispiel Schaffhausen eben gerade zeigt.» Karin Keller-Sutter nahm den Ball dankbar und fast wörtlich auf: «Das Beispiel des Kantons Schaffhausen zeigt ja gerade, dass neben der Wirtschaft auch Gemeinwesen interessiert sind, als Anbieter aufzutreten.»
Die NZZ bilanzierte im erwähnten Kommentar: «Der Weg scheint also geebnet für einen gesunden Konkurrenzkampf der Systeme.» Mit der Schaffhauser Lösung komme «aller Voraussicht nach eine Lösung auf den Markt, die den Anforderungen der Gegner des E-ID-Gesetzes zu genügen vermag». Wer seine Daten nicht in privater Hand sehen wolle, werde eine staatliche Alternative haben.
Nur: Das stimmt nicht. Und zwar aus drei Gründen.
Erstens: Nur «eine Option»
Ob Schaffhausen wirklich eine E-ID für die ganze Schweiz auf den Markt bringt, ist keineswegs sicher. Titus Fleck und Hannes Germann haben sich weit aus dem Fenster gelehnt. Der für die KSD zuständige Regierungsrat Walter Vogelsanger rudert zurück. Er sagt gegenüber der AZ, der Regierungsrat habe noch nicht definitiv darüber entschieden, ob sich Schaffhausen um eine Anerkennung bewerben soll: «Wir haben noch keinen Beschluss dazu gefasst.» Dass Schaffhausen ins Rennen steige, sei bisher lediglich «eine Option», für die laut Vogelsanger noch ein Beschluss des Regierungsrates notwendig wäre.
Je nachdem, welche Kosten dies auslösen würde, müsste die Regierung auch das Parlament ins Boot holen. Titus Fleck gibt der AZ bekannt, was die Anerkennung durch die EIDCOM kosten soll: Einmalig 60 000 Franken und in der Folge alle drei Jahre 40 000 Franken für die Überprüfung und Rezertifizierung. Diese Kosten liegen zwar innerhalb der Finanzkompetenzen der Regierung, doch um als Anbieter konkurrenzfähig zu sein, dürften deutlich grössere Ausgaben notwendig sein: für technisches Personal, Kundendienst, Marketing, Rechenzentren, Hardware und Software – ganz zu schweigen von der Werbung, denn das Ganze soll ja ein Markt sein.
Marcel Montanari, der für die FDP in der Geschäftsprüfungskommission sitzt, sagt: Bei einem solchen Projekt müsse das Parlament zumindest informiert werden und je nach Investitionsgrösse auch zustimmen: «Eigentlich bräuchte es eine Vorlage.» Noch hat die Schaffhauser Bewerbung aber noch nicht einmal einen Beschluss der Regierung im Rücken.
Und: Wenn sich Schaffhausen tatsächlich bewirbt, ist eine Anerkennung nicht garantiert: Titus Fleck kennt zwar die technischen Details und ist guten Mutes. Trotzdem räumt er ein: «Wir gehen davon aus, dass unsere Lösung die technischen Anforderungen erfüllt, es gibt aber keine Gewissheit, weil wir die Verordnung zum E-ID-Gesetz noch nicht kennen.»
Ihm und Walter Vogelsanger schwebt vor, dass der Kanton Schaffhausen die digitale Identität nicht allein, sondern im Konkordat mit anderen Kantonen anbieten würde. Noch ist aber kein Kanton als Partner gewonnen.
Zweitens: David gegen Goliath
Der Marktführer Swiss Sign hat bereits einen Startvorsprung von rund 1,75 Millionen potenziellen Nutzerinnen und Nutzern – dank der Kundschaft ihrer Partner wie der Versicherungen Mobiliar und Axa Winterthur oder des Medienunternehmens Ringier. Die Republik berichtete gestern Mittwoch, wie Swiss Sign seit Jahren darauf hinarbeitet, «too big to fail» zu sein.
Auch neun Kantone konnte die Gigantin bereits gewinnen: Das private Konsortium lockt Kantone mit attraktiven Preisen, wenn sie bis Mitte 2020 unterschreiben – mit Erfolg. Als der Kanton Bern der Swiss Sign den Zuschlag gab, wurde eine andere Firma als «unbedeutend» gar nicht in Betracht gezogen: Procivis, welche die Schaffhauser E-ID aufgebaut hat.
Wie will der Kanton Schaffhausen damit mithalten können? Auch Hannes Germann räumt ein: «Die Schaffhauser Lösung wird womöglich nicht der grosse Marktrenner werden.» Titus Fleck sagt: «Es muss wirtschaftlich sein, sonst machen wir es nicht.» Aber: «Als staatlicher Anbieter wären wir nicht profitorientiert – im Gegensatz etwa zu Swiss Sign.»

Drittens: Staatliches Feigenblatt
Eine von einem Kanton angebotene Konkurrenz zur gewinnorientierten Swiss Sign – das klingt gut. Doch das ist – um bei den Worten von Hannes Germann zu bleiben – nur die halbe Wahrheit.
Denn Unterlagen der erwähnten technischen Arbeitsgruppe des Kantons, welche die Republik mit dem Öffentlichkeitsgesetz losgeeist hat und die der AZ vorliegen, zeigen: Am Ende landen die Daten so oder so bei Privaten: bei Swiss Sign.
Der Grund dafür ist eine Anforderung des Gesetzes: Die verschiedenen E-ID-Anbieter müssen die sogenannte «Interoperabilität» gewährleisten, damit jedes System für jede Dienstleistung nutzbar ist. Das sorgt aber dafür, dass im Hintergrund ein permanenter Datenaustausch zwischen den E-ID-Anbietern läuft – der «Wettbewerb der Systeme», die scheinbare Entscheidung für einen staatlichen Anbieter, wird so zur Farce.
Ein kluger Schachzug
Fazit: Die Ankündigung aus Schaffhausen, im E-ID-Markt mitmischen zu wollen, scheint in erster Linie ein Marketing-Stunt zu sein. Für den Kanton brachte er viel Aufmerksamkeit und Lob an eine «innovative Regierung» (NZZ), für Bundesrätin Keller-Sutter eine wichtige Waffe im Kampf gegen das Privatisierungsargument.
Und das Ganze macht den Anschein, als wäre der Schachzug sorgfältig geplant worden. Hannes Germann bestreitet zwar, im Auftrag der Bundesrätin gehandelt zu haben. Er habe sich gefreut, «dass ich die innovative Leistung aus dem Kanton Schaffhausen auf nationaler Ebene hervorheben konnte. Die KSD ist ja sonst genug gebeutelt mit der Kritik an ihrer unbrauchbaren Webseite», sagt Hannes Germann mit einem Schmunzeln. Walter Vogelsanger hingegen bestätigt: Das Team von Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat den Kanton Schaffhausen angefragt, ob man die mögliche Bewerbung Schaffhausens als E-ID-Anbieter an der Pressekonferenz erwähnen dürfe.
Die Ironie der Episode: Wenn die Abstimmung knapp ausgeht, könnte Walter Vogelsanger den Befürwortern das entscheidende Argument geliefert haben. Und das, obwohl Vogelsanger keinen Hehl daraus macht, dass er von der Abstimmungsvorlage nicht begeistert ist: Als Sozialdemokrat ist er skeptisch, wenn privaten Konzernen die Herausgabe einer E-ID erlaubt wird. «Aber wenn das Gesetz angenommen wird, könnten wir uns mit einer E-ID in staatlicher Hand von den Privaten abheben», so Vogelsanger.
Auch Hannes Germann sagt: «Mir ist eine staatliche Lösung ehrlich gesagt auch lieber.» Im Parlament gehörte er deshalb anfänglich zu den Kritikern der Vorlage.
Zwei Schaffhauser Skeptiker der privaten E-ID haben also die Debatte nachhaltig verändert. Und während Walter Vogelsanger zurückrudert, sind die ersten Abstimmungscouverts längst eingetroffen.