Die Juso hat sich neu formiert. Aber braucht es neben den Jungen Grünen wirklich eine zweite linke Jungpartei?
Anfang Jahr auf Twitter: Finn Van Belle schreibt, nach der Lektüre von Remarques Buch Im Westen nichts Neues müsste jedem klar sein, dass Nationalismus und Militarismus menschenverachtende und gefährliche Konstrukte seien. Damit erntet er postwendend den Spott von SVP-Kantonsrat Pentti Aellig: «Finn ist Bruder Nr. 1 der Juso SH. Er hat ein Buch gelesen und festgestellt, dass der Kommunismus ein weniger menschenverachtendes Konstrukt ist.» Als Finn Van Belle zum Gegenschlag ausholt, beschwichtigt ein Dritter, es ist Gianluca Looser: «Finn. Das war dein Schaffhauser Ritterschlag.»
Die Episode könnte man als alltägliches Scharmützel abtun, wie es in der Politiker-Bubble Twitter zum guten Ton gehört. Doch das Geplänkel ist durchaus bemerkenswert: Finn Van Belle ist der neue Co-Präsident der Schaffhauser Juso, zarte 17 Jahre alt. Der Mann, der ihm väterliche Schützenhilfe gibt, Gianluca Looser, sitzt im Vorstand der Jungen Grünen. Er ist nur ein paar Wochen älter.
In Schaffhausen haben sich innert kürzester Zeit zwei politische Parteien formiert, wie man sie eher mit dem Abstand einer Dekade erwartet hätte. Man erinnere sich etwa an die Alternative Liste, die vor 15 Jahren eine ganze linke Generation abgeholt und die Juso für lange Zeit völlig verdrängt hatte.
Nun gut, von der neuen Juso gibt es bis jetzt mehr Worte als Taten, doch diese Worte klingen schonmal ziemlich engagiert.
Wenige Monate nachdem die Jungen Grünen, getragen von der Klimabewegung, erste Sitze in den lokalen Parlamenten eroberten, haben die Jungsozialistinnen vermeldet: «Pünktlich zum Start ins Jahr 2021 beginnt für die Juso Schaffhausen ein neues Kapitel.» Sie habe einen neuen, siebenköpfigen Vorstand präsentiert.
Und dieser hat gleich mal einen Nagel eingeschlagen. Am Parteitag der Schaffhauser SP im Januar haben die Juso-Delegierten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Als Nationalrat Fabian Molina per Online-Schaltung erklärte, warum das Freihandelsabkommen mit Indonesien eine gute Sache sei, bekam er es mit Finn Van Belle zu tun. Molina, 30-jährig, hatte mit 18 die Juso Illnau-Effretikon gegründet und engagiert sich bei der Gewerkschaft Unia genauso wie bei der GSoA, bei Greenpeace, Public Eye, Amnesty International und Solidar Suisse. Vor vier Jahren führte er den Abstimmungskampf zur Juso-Volksinitiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln!». Molina ist beileibe kein Cüpli-Sozialist. Doch als er das Freihandelsabkommen als Meilenstein bezeichnete, als «das fortschrittlichste Abkommen, das die Schweiz je ausgehandelt hat», als Vertrag, der eine nachhaltige Entwicklung im asiatischen Staat anstossen werde – da wurde Finn Van Belle laut. Ein Freihandelsabkommen, sagte er, sei der Inbegriff des Neoliberalismus, «das geht Hand in Hand mit Ausbeutung und Profit!», und man kann sich vorstellen, dass viele gesetztere Schaffhauser Sozialdemokraten hinter ihren Bildschirmen innerlich jubelten, dass da wieder eine Jungmannschaft zünftig Radau macht – mit schnurgeraden linken Parolen.
Wir wollen mehr erfahren über dieses neue Kapitel Schaffhauser Juso und laden den Vorstand zum Bier ein. Ein Montagabend, fünf von sieben haben Zeit, auf ein Vorgeplänkel ist ihnen nicht zumute.
Ist das Boot der Jungen Grünen voll?
Ganz zum Schluss sagt Alexander Hongler einen weisen Satz, doch man fragt sich, ob das nicht fast ein Spürchen zu abgeklärt klingt für eine wilde, dogmatische Jungpartei: «Die Utopie braucht man bis zum Schluss», sagt Hongler. «Auch wenn man sie nicht erreicht. Die Utopie ist der Grund, warum ich da bin. Die Sehnsucht wird nicht gestillt.»
Es war vor etwas mehr als einem Jahr, als Hongler erstmals zu einer Juso-Vollversammlung ging. Er wollte Politik machen, aber da seien nur sechs Leute gewesen, erinnert er sich. An einer Vollversammlung! Dann sei ein Jahr lang gar nichts passiert, die Luft sei draussen gewesen, und dann musste Shendrit Sadiku, der die Juso-Fahne zuletzt einsam hochgehalten hatte, auch noch ins Militär. Die Partei verschwand in der Versenkung. Als Sadiku ihn fragte, ob er übernehmen möchte, antwortete Hongler: «Wieso nicht?»
Auch Egzona Dernjani, mit 24 die Älteste im neuen Vorstand, wollte schon vor einigen Monaten bei der Juso mitmachen: «Ich kam voller Tatendrang, wollte Ideen einbringen, aber niemand hat mich abgeholt.» Das Jahr 2020 habe sie hässig gemacht und politisiert. Irgendwo musste das raus. Finn Van Belle ging es ähnlich. «Dass die Juso tot war, hat mich mega gestört», sagt er. Es brauchte wenig, sie davon zu überzeugen, das Steuer zu übernehmen.
Doch den neuen Juso-Vorstand gibt es nicht nur wegen des Vakuums, das die Jungpartei hinterlassen hatte.
Meret Kübler erzählt, wie sie eines Tages an eine Klimademo gehen wollte und irgendwann bemerkte, dass sie am «Strike WEF» gelandet war. Plötzlich war der thematische Fokus breiter und sie realisierte, dass Klimaschutz mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Oder wie sie heute sagt, ohne dass es doof klingt: «Den Kapitalismus zu bekämpfen, ist auch gut.» Egzona Dernjani wird noch konkreter: «Wir haben viel über den Klimastreik geredet. Jetzt müssen wir auch über Gleichstellung reden.»
Auch Alena Roth, die gerade fertig ist mit der Kanti und sich mit Finn Van Belle das neue Juso-Präsidium teilt, findet, man müsse die Umweltprobleme an der Wurzel anpacken. Im Herbst 2020 noch hat sie für die Jungen Grünen kandidiert, doch da seien die Rollen bereits fix verteilt, die Richtung sei vorgegeben, «alles ist schon mega eingespielt». Sie realisierte: Wenn sie mitentscheiden will bei der inhaltlichen und strategischen Ausrichtung ihrer Partei, muss sie das anderswo tun. Der Anruf von Finn Van Belle kam zur richtigen Zeit. Die Zeit, als man den Klimastreik automatisch mit den Jungen Grünen assoziierte, könnte schon bald vorbei sein.
Reicht es für mehr als 35 Prozent?
Wurden die Jungen Grünen bereits nach einem Jahr Opfer ihres eigenen Erfolgs? Oder ist eine Spaltung der linken Bewegung nichts als folgerichtig angesichts der derart flächendeckenden Politisierung der Jugend, die gerade stattfindet?
Von einer Spaltung könne keine Rede sein, sagen die fünf Jungsozialistinnen: Dass es zwei junge linke Kräfte gebe, das stärke sie.
Ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt: Mit dem Aufkommen und Erstarken der AL hat die Schaffhauser Linke weder zu- noch abgenommen. Sie blieb grossomodo bei ihren 35 Prozent.
Man darf gespannt sein, ob sich daran etwas ändert, wenn all die frisch politisierten Klimastreikenden an die Urnen drängen. Doch grosse Illusionen macht sich der neue Juso-Vorstand nicht. Ihr sei durchaus bewusst, dass sie in einer Bubble leben, in der sich alle für Politik interessierten, sagt etwa Meret Kübler. Sie sagt aber auch, in Schaffhausen gebe es unglaublich viel Potential für junge Leute. Finn Van Belle hingegen kokettiert: «Es ist halt auch ein Lifestyle, als Junger links zu sein. Das ist einfach cooler, als mit alten Männern am Stammtisch Bratwurst zu essen.»
Dafür, dass es um einen Lifestyle gehen soll, legt sich der neue Vorstand zünftig ins Zeug.
Als am SP-Parteitag eine Frau gesagt habe, sie sei unsicher, was sie vom Burka-Verbot halten solle, da, wow, da habe ihre Stimme zu zittern begonnen, sagt Egzona Dernjani. «Man erlässt doch kein Gesetz, das einer Frau vorschreibt, was sie anzuziehen hat! Das ist Pseudofeminismus!»
Einmal sagt Finn Van Belle: «Es gibt nicht richtig oder falsch.»
Egzona Dernjani hält dagegen: «Moment! Es gibt schon falsch.»
Das liest sich jetzt vielleicht verbissen, doch so – und das ist wohl der grosse Trumpf dieser Gruppe – kommt es im Gespräch nicht herüber. Die fünf geben sich ziemlich kompromisslos. Doch sie sind auch ziemlich smart.
Egzona Dernjani sagt, ihr Vater habe früher versucht, ihr den Übermut auszutreiben, um sie vor Illusionen zu bewahren. Er selber sei als Lehrer im Kosovo auf einmal kriminalisiert worden, als eine neue Amtssprache eingeführt worden sei und er sich geweigert habe, den Kindern ihre Muttersprache nicht mehr beizubringen. «Was ist er bitte für ein Held?! Doch flüchten musste er trotzdem.» Sie, die Tochter, hat in der Schweiz ganz andere Möglichkeiten. Und sie lässt keinen Zweifel dran, dass sie fest entschlossen ist, diese auch zu nutzen.
Die Tücken der Neutralität
Nach dem Gespräch muss man anerkennen: Das Narrativ sitzt. Fragt man, ob Fabian Molina nicht vielleicht Recht haben könnte mit dem Freihandelsabkommen, wird einem ein elaboriertes Argumentarium an den Kopf geworfen: inkonsistente Nachhaltigkeitslabels, Greenwashing, Almosenverteilung, getarnte Markterschliessung. «Und wenn die Economie Suisse dafür ist, muss man sowieso dreimal hinschauen!»
Der Vorstand erklärt, im Vorfeld von Abstimmungen würden die Themen von einzelnen Mitgliedern studiert und anschliessend möglichst neutral dem Plenum präsentiert. Das mit der Neutralität, das habe bisher aber noch nicht so wirklich geklappt. Gelächter.
Es wird allgemein ziemlich lustvoll diskutiert in dieser Runde. Die Ebenen wechseln schnell. Flugs ist man von «Ich würde gerne mal in einer Burka an die Kanti gehen, aber wäre das nicht eine ‹kulturelle Aneignung›?» über «Das Private ist politisch!» wieder bei Fabian Molina: «Wie konnte der nur so werden?!»
Stefan Lacher, bis vor kurzem Juso-Kantonsrat, seit Anfang Jahr politisiert er offiziell für die SP, ist erfreut über die Wachablösung. Und verspricht der neuen Juso einen Blanko-Check für parlamentarische Vorstösse. Falls sie ein Anliegen haben – er stehe bereit.
In vier Jahren dann will die neue Juso selber Sitze gewinnen in den Schaffhauser Parlamenten. Bis dahin heisst es: Basisarbeit. Derzeit gibt es neben dem 7-köpfigen Vorstand 11 weitere aktive Mitglieder.
Das reicht noch nicht ganz für die Zerschlagung des Kapitalismus. Das Potential aber, das ist definitiv da. «Wir kennen viele, die auf der gleichen Welle sind wie wir», sagt Egzona Dernjani kämpferisch. Jetzt muss man sie nur noch abholen.