Nach einem Pockenfall im Januar 1962 impfte Schaffhausen in einem Monat mehr als 41 000 Leute. Eine Rekonstruktion.
In einem «Bumslokal» soll er sie sich zugezogen haben, hiess es zunächst. Karlheinz Wimmers, ein 26-jähriger Arbeiter aus Düsseldorf, der in Schaffhausen als Schriftsetzer bei Nohl-Druck beschäftigt war, hatte die Pocken. Über die Weihnachtsfeiertage Ende 1961 war er zu Besuch in seiner Heimatstadt gewesen. Dort grassierte damals das Virus und es ist möglich, dass er sich bei einer Tanzveranstaltung – einem «Dancing», wie man damals sagte – mit der Krankheit ansteckte. Wimmers brachte die lebensbedrohliche Erkrankung dann unwissentlich nach Schaffhausen.
Pockenviren sind in hohem Masse infektiös, dass heisst, sie übertragen sich sehr leicht auf andere Personen. Die Symptome sind ernst: Fieber, Schmerzen, eitrige Pusteln, Erblindung, Taubheit, Lähmungen, Hirnschäden, Lungenentzündung. Ungefähr 30 Prozent der Infizierten sterben. Dass sich im Kanton niemand sonst mit der gefährlichen Krankheit ansteckte, ist der raschen Reaktion der Behörden und der Impfbereitschaft der Bevölkerung zu verdanken. Und einem glücklichen Zufall.
Sixties Superspreader
In Düsseldorf hatte Wimmers eine Art Superspreader-Verhalten an den Tag gelegt: Shoppen in Düsseldorf, tanzen in Oberhausen, jede Menge Kontakt mit Familie und Freunden, ein Abstecher nach Bamberg – inklusive Halt an Raststätten –, mehrere Restaurantbesuche. Ein epidemiologischer Albtraum. Am 2. Januar fuhr er mit einem Arbeitskollegen und dessen Freundin mit dem Auto zurück nach Schaffhausen.
Von der Krankheit merkte Wimmers zu diesem Zeitpunkt noch keine Spur. Am 4. Januar, einem Donnerstag, stand er wieder in der Druckerei an seinem Arbeitsplatz. Fasste Maschinen an, machte Small Talk mit den Kollegen. Wie immer. Erst am Samstag, dem 6. Januar, als er morgens ein Bad nahm, bemerkte er rote Flecken überall an seinem Körper. Und dann ging alles ganz schnell.
Wimmers wandte sich zunächst an den Arzt Dr. Neidhart, der den Patienten sofort ins Kantonsspital einliefern und isolieren liess. Der Verdacht: Pocken. Am nächsten Morgen hatten sich am Körper des Kranken bereits Blasen gebildet. Bezirksarzt Dr. R. Fröhlich sah sich den Fall deshalb gründlich an und entnahm mit einer Spritze etwas Flüssigkeit aus den Blasen für die virologische Untersuchung am Hygiene-Institut der Universität Zürich. Auf das Ergebnis wartete er jedoch nicht. Noch nicht einmal zwei Stunden später hatte der Bezirksarzt den Fall bereits gemeldet. Am «Sonntag, den 7. Januar 1962, um 09:45 Uhr, erhielt die Sanitätsdirektion des Kantons Schaffhausen […] die Meldung, dass ein deutscher Fremdarbeiter […] in Verdacht stehe, an Pocken erkrankt zu sein», steht im anschliessend verfassten Polizeibericht. Am 10. Januar bestätigte dann das Eidgenössische Gesundheitsamt, dass es sich tatsächlich um Pocken handelte. Der erste Fall in Schaffhausen seit 1921.
Schnelle Massnahmen
Drei Tage bis zum Testergebnis, für Bezirksarzt Fröhlich war das zu lang. Gemeinsam mit der Sanitätsdirektion schnürte er noch am 7. Januar ein Massnahmenpaket, um eine mögliche Epidemie zu verhindern. Denn der Impfschutz in der Bevölkerung war ungenügend: Eine Massenimpfung ist aufgrund der mit dem Lebendimpfstoff verbundenen Komplikationen nicht vorgesehen. Ausser, es droht eine Epidemie.
«Um der mittelbaren Gefahr einer Pockenepidemie zuvorzukommen, wurden unverzüglich öffentliche, unentgeltliche Pockenschutzimpfungen im ganzen Kanton durchgeführt», steht im Verwaltungsbericht des Kantons von 1962. Unverzüglich, dass heisst noch am gleichen Tag.
Dr. Fröhlich zog zunächst den vorhandenen Impfstoff aus den Apotheken ein und impfte das Spitalpersonal. Die zügig ermittelten Kontaktpersonen von Wimmers, also seine Arbeitskollegen, Freunde und Mitbewohner, erhielten ebenfalls den Impfstoff und wurden in eine 10-tägige häusliche Quarantäne geschickt. Dort behielt die Sanitätsdirektion ein genaues Auge auf sie: «Sie erhalten das Essen und werden regelmässig nach eventuellen Symptomen der Krankheit untersucht», schreibt die AZ am 13. Januar.
Noch am 7. Januar lieferte das Eidgenössische Serum- und Impf-Institut aus Bern auf eine Bestellung von Dr. Fröhlich weitere Dosen des Impfstoffs. Absprachen mit den nötigen Behörden, Erklärungen an die Presse, Aufstellung des Impfplanes für die Kantonsbevölkerung, all das passierte noch am Abend des gleichen Tages.
Impfung für alle
Am Montag, dem 8. Januar, eröffnete der Kanton dann öffentliche Impfstellen in der Bachturnhalle und im Hause zum Freudenfels am Platz, später auch in der Steigturnhalle. Über die lokalen Zeitungen und eine fahrende Lautsprecheranlage rief man die Schaffhauser Bevölkerung zur Impfung auf. «Am Montag mögen sich vor allem diejenigen zur Impfung einstellen, welche überhaupt noch nie gegen Pocken geimpft worden sind», schreibt zum Beispiel die AZ. Und die Schaffhauserinnen und Schaffhauser rissen sich darum: 3000 von ihnen erschienen gleich am ersten Tag – trotz Hinweisen der Sanitätsdirektion auf mögliche Impfreaktionen. In den folgenden Tagen wurden Angestellte und Belegschaften an ihrem Arbeitsplatz in Fabriken, Betrieben und Verwaltungen geimpft.

Dann gab es noch einen glücklichen Zufall. Für den 8. Januar hatten die Behörden bereits eine Impfaktion gegen Kinderlähmung in den Schaffhauser Schulen geplant und vorbereitet. Gutes Timing, denn statt gegen Kinderlähmung impfte man die Kinder kurzerhand gegen Pocken. Die Polio-Impfung wurde verschoben. Durch die kurzfristig eingerichteten Impfstellen und die umfunktionierte Impfung an den Schulen konnten bis zum 16. Januar 23 695 Personen geimpft werden. Bis am 9. Februar waren es 41 563, zwei Drittel der Kantonsbevölkerung. Die Kosten der Aktion beliefen sich auf knapp unter 19 000 Franken.
Herdenimmunität
Bereits Ende Januar gaben die Behörden deswegen Entwarnung. Es sei kein weiterer Pockenfall aufgetreten. Der Kanton lobte dabei den Einsatz der Bevölkerung. In der hohen Impfrate «liegt ein deutlicher Beweis für das wache Verantwortungsbewusstsein aller Schichten unserer Einwohner» steht im Verwaltungsbericht.
Das sahen auch die Schaffhauser Nachrichten so. «Ohne Zweifel haben die rasche Erkennung der Krankheit, die unverzüglich angeordneten sanitätspolizeilichen Massnahmen und die Impfbereitschaft der Bevölkerung das Risiko eines Pockenausbruches wesentlich verringert», schreibt die Zeitung am 29. Januar 1962. Auch Impfschäden seien laut des Artikels keine aufgetreten.
Aus dem Bericht des Kantons geht allerdings hervor, dass es «zahlreiche Komplikationen» gab, wenn auch keine wirklich ernsten. In mehreren Fällen sei es zu heftigen lokalen, aber «ansonsten adäquaten» Reaktionen gekommen, die einige Tage Bettruhe erforderten. Viele der Schulkinder sollen sich nach der Impfung schläfrig und benommen gefühlt haben. Bei Erwachsenen trat dagegen Juckreiz auf.
Die Impfaktion war trotz Juckreiz ein voller Erfolg. Niemand ausser dem Indexpatienten – oder Patient null – infizierte sich. Wimmers erholte sich vollständig von seiner Erkrankung. Ihm gehe es «ordentlich», er sei «in guter Verfassung», schrieb damals die lokale Presse.