Unter vier Augen

24. Januar 2021, Marlon Rusch
Herr Barasa wird einvernommen. Links hinter ihm sein Verteidiger, Erwin Beyeler, auf der rechten Seite das Gericht. Zeichnung: Linda Graedel
Herr Barasa wird einvernommen. Links hinter ihm sein Verteidiger, Erwin Beyeler, auf der rechten Seite das Gericht. Zeichnung: Linda Graedel

Ein Mann soll seine eigene Tochter vergewaltigt haben. Doch die Beweislage ist dünn.

Es ist besser, dass zehn Schuldige davonkommen,
als dass ein Unschuldiger leidet.

(Sir William Blackstone, englischer Jurist, 1723–1780)

Gleich schlägt es 11 Uhr an diesem Donnerstagmorgen am Schaffhauser Kantonsgericht, als die Staatsanwältin zu ihrem Plädoyer ansetzt. Das Gericht hat seine Einvernahmen beendet; es hat Herrn Barasa befragt, der beschuldigt ist, seine Familie über Jahre hinweg misshandelt und vergewaltigt zu haben; es hat Frau Gerber befragt, die Mutter ebenjener Familie, die nun fordert, dass ihr Ex-Partner für viele Jahre ins Gefängnis muss.

Jetzt ist es an ihr, an der Staatsanwältin Jasmine Stössel, dem Gericht Beweise zu liefern für die «Unvorstellbarkeiten», die sich da im geschützten Rahmen einer Familie abgespielt haben sollen. Die Staatsanwältin spricht geschlagene zweieinhalb Stunden, ihr Plädoyer lässt kein noch so kleines Detail aus, das untermauern könnte, dass Frau Gerber und ihre Kinder die Wahrheit sagten, immer wieder kommt die Staatsanwältin auf die diversen «Glaubhaftigkeitskriterien» zu sprechen, die erfüllt seien, auf die hohe «Aussagequalität», auf die diversen «Realkennzeichen», auf die «detailreichen Schilderungen». Die Staatsanwältin leitet her, dass die Opfer, Frau Gerber und ihre drei Kinder, von der Polizei nach allen Regeln der Kunst befragt wurden, gemäss dem «Trichtermodell», Suggestivfragen ausgeschlossen.

Es ist ein beeindruckendes Feuerwerk, das die Staatsanwältin abbrennt, doch mit jedem neuen Argument, das sie ausführt, mit jedem neuen Detail fragt man sich ein wenig mehr: Ist das der Mut der Verzweiflung?

Denn so gut sie auch argumentiert, am Ende bleibt ihr vor allem eins: die Aussagen der angeblichen Opfer. Die Halme, an die sich die Staatsanwältin klammert, sind dünn.

Was an diesem Donnerstagmorgen am Schaffhauser Kantonsgericht verhandelt wird, ist der Prototyp eines mutmasslichen «Vier-Augen-Delikts». So nennt man Straftaten, bei denen es keine Zeugen und keine Sachbeweise gibt. Nur vier Augen waren dabei, als die Verbrechen geschehen sein sollen: diejenigen des Opfers und diejenigen des Täters.

Die Konstellation ergibt sich häufig bei sexuellen Übergriffen und bei häuslicher Gewalt – und sie stellt die Strafverfolgung immer wieder vor Probleme. Oft erstatten Opfer lange Zeit keine Anzeige, aus Angst, aus Scham, um die Kinder zu schützen, in der Hoffnung, die Gewalt höre irgendwann auf. Können sich die Opfer dann doch überwinden, sind vielfach bereits Jahre vergangen, die Beweislage ist dünn, Aussage steht gegen Aussagen. Und bleiben Zweifel am Geschehen, lässt sich der angeklagte Sachverhalt nicht «rechtsgenügend» erstellen, herrscht ein «Beweisnotstand» vor – dann kommt das Gericht in der Regel um einen Freispruch nicht umher. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.

Die Halme der Schaffhauser Staatsanwältin mögen dünn sein, doch ausweglos ist ihre Lage nicht. Denn einen Trumpf hat die Staatsanwältin im Ärmel: ein kleines Notizbuch.

«Er nahm sich einfach, was er wollte»
Herr Barasas Leben nahm eine Wende, als er vor zwanzig Jahren eine Schweizerin kennenlernte, die sein Heimatland im östlichen Afrika besuchte. Er muss ausgesehen haben wie der junge James Baldwin, knapp dreissigjährig, feingliedrig, der Haaransatz steigend, die Stimme leicht säuselnd und zart wie ein Engel. Er war in einem kleinen Dorf aufgewachsen, eines von zwölf Kindern, er hatte bereits selbst ein Kind von einer Frau, die früh dem Krebs erlegen war. Doch als um die Jahrtausendwende diese Schweizerin dastand, heiratete er und bald darauf bestieg er mit ihr ein Flugzeug.

Die Ehe hielt zwar nur vier Jahre, doch Herr Barasa blieb in der Schweiz und lernte wieder jemanden kennen, eine einfache Frau mit einem guten Herz: Frau Gerber. In diesem Text tragen die beiden einen falschen Namen.

Die Beziehung, die sie führten, war zwar nicht stabil, doch laut Frau Gerber lief es eigentlich ganz gut. Das begann sich jedoch zu ändern, als 2007 das erste Kind zur Welt kam. Sie stritten viel, er mietete sich eine Wohnung, in die er sich regelmässig zurückzog. Und auch körperlich lebten sich die beiden auseinander. Der Sex, so Barasa, habe sich verändert.

Die Frage, wegen der sich an diesem Donnerstagmorgen ein Dutzend Richterinnen, Parteienvertreter, Anwältinnen und Journalisten zusammengefunden haben, lautet: Wie hat sich der Sex verändert?

Die Anklageschrift liest sich wie der Klappentext eines Horrorthrillers. Herrn Barasa, der in einer grossväterlichen Cordhose steckt und die Fragen des Gerichts aufmerksam beantwortet, werden folgende Straftaten vorgeworfen: mehrfache Vergewaltigung, mehrfache Schändung, mehrfache sexuelle Nötigung, mehrfache sexuelle Handlungen mit einem Kind, mehrfache versuchte Schändung, mehrfacher Inzest, mehrfache schwere Körperverletzung, mehrfache Freiheitsberaubung und mehrfache Pornografie.

Die Staatsanwältin sagt, Barasa habe ein «Umfeld von Gewalt» geschaffen. Doch wo beginnt überhaupt «Gewalt»? Was ist das überhaupt, eine «Vergewaltigung»? So scheusslich sich die Vorwürfe anhören, so technisch sind oft die Fragen, mit denen sich die Justiz beim Vorwurf der häuslichen Gewalt auseinandersetzen muss.

Frau Gerber fällt es schwer, dem Gericht Red und Antwort zu stehen. Und wer will es ihr verübeln? Sie ist angehalten, ihr Sexleben vor fremden Menschen auszubreiten. Möglichst detailreich soll sie erzählen, wie Barasa sie zwischen 2009 bis 2011 immer wieder zum Analverkehr gezwungen habe. Sie erzählt mit brüchiger Stimme, den Tränen nah, wie sie sich jeweils gewehrt habe, wie er sie aber einfach festgehalten und weitergemacht habe. Immer wieder. «Er hat sich einfach genommen, was er wollte.» Um Verhütung habe er sich nicht gekümmert, Rücksicht darauf, dass sie mit einem zweiten Kind schwanger gewesen sei, habe er nicht genommen.

Das Gericht hätte gerne mehr gehört, mehr Details, ob sie geblutet habe etwa, ob die Vergewaltigungen immer gleich abgelaufen seien. Doch Frau Gerber kann keine Auskunft geben. Später wird die Staatsanwältin sagen, man müsse die «intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten» des Opfers berücksichtigen, Frau Gerber habe manchmal Mühe, sich zu erklären, die richtigen Worte zu finden.

Doch, so bitter und ungerecht es auch ist: Wer sich nicht gut artikulieren kann, erleidet dadurch tendenziell Nachteile. Das wird sich in diesem Fall noch an anderen Stellen zeigen.

Hat sie sich wirklich gewehrt?
Die ganze Zerrissenheit der Frau Gerber offenbart sich, als das Gericht sie fragt, warum sie erst bei ihrer Anzeige im Jahr 2017, sieben Jahre später, erstmals von den Vergewaltigungen erzählt habe.

Sie antwortet, sie sei emotional abhängig gewesen von ihrem Partner, sie habe das Gefühl gehabt, sie könne nicht ohne ihn leben. Als er sie vergewaltigt habe, sei sie wie ausgeschaltet gewesen. «Ich nahm mich selber nicht mehr wahr, konnte ihn nicht erreichen.» Die Kraft, sich zu wehren, sei weggewesen. Barasa habe sich nach den Vergewaltigungen jeweils bei ihr entschuldigt und gesagt, es sei einfach über ihn gekommen. Sie habe ihn nicht angezeigt, weil sie ihn habe schützen wollen. Einige der Übergriffe, so Frau Gerber, habe sie damals gar nicht als Vergewaltigung wahrgenommen.

Die Staatsanwältin argumentiert, Frau Gerber sei auch deshalb so glaubhaft, weil sie auf «überflüssigen Belastungseifer» verzichte, also keinen Hang dazu habe, wild mit Anschuldigungen um sich zu werfen – im Gegenteil.

Hört man die Frau erzählen, sieht man, wie sie leidet, kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich ihre Geschichte ausgedacht haben könnte. Doch wenn ein Opfer einer mutmasslichen Vergewaltigung aussagt, es sei «wie ausgeschaltet» gewesen, es habe den Peiniger «nicht erreichen» können, es habe «keine Kraft gehabt», sich zu wehren – könnte das nicht auch bedeuten, dass der Täter vielleicht gar nicht wusste, dass sein Gegenüber nicht mit ihm Sex haben wollte?

Für eine Verurteilung muss sich das Gericht absolut sicher sein, dass der Angeklagte schuldig ist. In dubio pro reo. Und Herr Barasa sagt klar und konsequent: Es gab keinen Analsex, es gab keinen Sex gegen ihren Willen.
Frau Gerber sprach angeblich bereits 2011 mit ihrem Psychiater über die sexuellen Übergriffe. Doch offenbar ging es in den Gesprächen eher darum, wie Frau Gerber ihre Wünsche in der Beziehung besser formulieren und besser Nein sagen könne.

Später, in der Urteilsbegründung, wird der vorsitzende Richter Andreas Textor sagen, es bleibe unklar, «ob der Unwille der Privatklägerin klar war für den Angeklagten».

Doch es gibt weitere Vorwürfe. Taten, die er Jahre später begangen haben soll, wegen denen Frau Gerber sich schliesslich überwunden habe, ihn doch anzuzeigen.

Am schlimmsten wiegt, dass Barasa seine eigene Tochter vergewaltigt haben soll, später, Ende 2016, er lebte längst getrennt von der Mutter in einer kleinen Wohnung. Über die KESB hatte er kurz zuvor versucht, sich das gemeinsame Sorgerecht zu erstreiten, doch er hatte keinen Erfolg. Frau Gerber sagt vor Gericht: «Er wollte das Recht haben, aber keine Pflichten übernehmen.» Alle zwei Wochen aber durfte er die Kinder sehen, die Tochter und die beiden Söhne, manchmal schlief eines von ihnen bei ihm.
Am Ende der Verhandlung wird es das Gericht als erwiesen betrachten, dass Barasa seine Kinder wiederholt körperlich misshandelt hat. Er hat sie mit einem Gürtel geschlagen, ihnen mit der Metallschnalle offene Wunden zugefügt. Er hat verbotene Pornografie konsumiert, mit schlimmen Gewaltszenen, mit Tieren, vor seinen Kindern hat er diese zumindest nicht aktiv verborgen.

Doch hat Herr Barasa seine eigene, neunjährige Tochter auch wiederholt vergewaltigt, wenn sie bei ihm übernachtet hat? Es wäre eine ungeheuerliche Tat.

Ist Frau Gerber selber ein Spielball?
«Mama, ich will, dass Papa zur Polizei geht und dann für 188 Jahre ins Gefängnis muss.» Solche Sätze kann man in einem kleinen Notizbuch der Tochter lesen. Es ist das wichtigste Beweismittel von Staatsanwältin Stössel. Alle drei Kinder leiden unter erheblichen psychischen Problemen, posttraumatische Belastungsstörungen. Doch ob die tatsächlich allein von Misshandlung und Vergewaltigung herrühren, ist nicht so klar.

Vielleicht wurden die Kinder auch zu Spielbällen eines Machtkampfes.
Gemäss Herr Barasas Verteidiger, dem ehemaligen Bundesanwalt Erwin Beyeler, gibt es nämlich ganz andere Gründe für das Verfahren gegen seinen Mandanten als häusliche Gewalt. Man müsse die Anschuldigungen vielmehr im Zusammenhang mit den KESB-Verfahren betrachten.

Nun, nach dem stundenlangen Plädoyer der Staatsanwältin, nimmt die ganze Verhandlung plötzlich eine Wendung.

Frau Gerber habe sich 2017 mit einer Frau zusammengetan, die Druck auf sie ausübe, etwas gegen Barasa zu unternehmen. Die Rede sei von einer Liebesbeziehung zwischen den beiden Frauen. Ausserdem hätten Frau Gerbers Eltern schon vor vielen Jahren mit Entsetzen darauf reagiert, dass die Tochter sich in einen Afrikaner verliebt habe. Die psychisch labile Frau, so Rechtsanwalt Beyeler, sei selber zum Spielball geworden. Und die Kinder seien unter Druck gesetzt worden, den Vater zu belasten. Daher kämen ihre psychischen Probleme.

«Mama, ich will, dass Papa zur Polizei geht und dann für 188 Jahre ins Gefängnis muss.» Mit diesem Zitat aus dem Tagebuch der Tochter beginnt die Staatsanwältin ihr Plädoyer. Doch wieso richtet man einen Tagebucheintrag direkt an die Mutter? Schreibt ein neunjähriges Mädchen tatsächlich, ihr Vater habe es «belästigt»? Ist das die Wortwahl eines Kindes? Oder schrieb sie die Einträge vielleicht auf Anweisung der Mutter und deren neuer Freundin?

In den polizeilichen Einvernahmen waren die Kinder ungewöhnlich einsilbig, wollten sich teilweise gar nicht erst befragen lassen. Die Staatsanwältin sagt, die Tochter wolle die Vergewaltigungen vergessen; Verteidiger Beyeler sagt, das merkwürdige Verhalten der Tochter zeige, dass sie überfordert sei mit ihrer Aufgabe, den Vater fälschlicherweise zu belasten.

Das Gericht steht vor einer schwierigen Entscheidung. Die gynäkologische Untersuchung der Tochter zeigt keinerlei Anzeichen auf einen Geschlechtsverkehr. «Sachbeweise»? Fehlanzeige. Das Notizbuch? Zweifelhaft. Das Verhalten der Kinder? Verwirrend.

Herr Barasa, der von der Sozialhilfe lebt und dessen Gesuch um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung seit Jahren pendent ist, ist zweifellos ein schlechter, gewaltbereiter Vater. Aber ist er auch ein Kinderschänder?

Die Staatsanwältin hat sich entschieden, alle Vorwürfe zur Anklage zu bringen, auch jene, die schwer zu beweisen sind. Und sie fordert eine happige Strafe: dreizehneinhalb Jahre Gefängnis, danach ein Landesverweis von zehn Jahren. Sie geht all in.

Und scheitert. Richter Andreas Textor kommt zum Schluss, das Gericht könne nicht mit notwendiger Überzeugung sagen, dass sich alles so abgespielt habe, wie die Anklage behauptet: «Der Beschuldigte ist in Zweifel von den Vorwürfen freizusprechen.» In dubio pro reo. Barasa wird wegen Pornografie und mehrfacher einfacher Körperverletzung verurteilt.

Zusammen mit einer früheren Strafe, die 2014 zur Bewährung ausgesetzt wurde, ergibt sich ein Strafmass von 18 Monaten.
«Meine Aufgabe ist es, Zweifel zu wecken», sagte Verteidiger Erwin Beyeler zum Ende seines Plädoyers. Es ist ihm gelungen.