Hundekot, Schweinefleisch, Behördenstreit

18. Januar 2021, Mattias Greuter
Ana vor dem Polizeiposten in Diessenhofen: «Die Polizei hilft mir nicht.» Foto: Peter Pfister.
Ana vor dem Polizeiposten in Diessenhofen: «Die Polizei hilft mir nicht.» Foto: Peter Pfister.

Wie ein Gangster und der Kanton Thurgau einer jungen Frau das Leben schwer machen: Die Geschichte einer absurden Eskalation.

Ana hat das schlimmste Jahr ihres Lebens hinter sich. Sie wurde massiv bedroht, verleumdet und geriet in einen nervenaufreibenden Kleinkrieg mit Polizei und Strassenverkehrsamt, alles während der Schwangerschaft. Sie steht vor einem Schuldenberg und lebt weiterhin in Angst um sich und ihre Tochter, keine vier Monate alt. «Und die Polizei hilft mir nicht, sie schadet mir», sagt sie.

Alles beginnt im Januar 2020. Ana, die eigentlich anders heisst, will in einer Schaffhauser Bar von zweifelhaftem Ruf ihren Freund abholen und trifft auf den damaligen Geschäftsführer, nennen wir ihn Paul. Es kommt zu einem kurzen, heftigen Streit. Ana verlässt die Bar, hält den Streit für bedeutungslos. Doch bald gehen die Drohungen los.

«Ich chume mit minere Nüünmillimeter»

Sie erhält fast täglich Text- und Sprachnachrichten von Paul. Die aktenkundigen Beleidigungen und Drohungen sind happig: Paul bezeichnet sie als «Sau», als «billige Gratishure», als «kleine scheiss Fotze». Er kennt ihren Wohnort und sagt am 20. Januar am Telefon: «Ich chume mit minere Nüünmillimeter und dänn chömmer rede.»

Ana weiss inzwischen, dass sie schwanger ist. Als Paul von einer Schusswaffe spricht, wendet sie sich an die Schaffhauser Polizei. Diese ermutigt sie zu einer Anzeige. Auf dem Posten habe ihr ein Polizist gesagt, Paul habe auch andere Leute mit einer Schusswaffe bedroht. Man ermittle schon seit Längerem gegen ihn als mutmasslichen Kopf eines Drogenrings rund um die Bar, die er führt. Er müsse im August ohnehin eine Haftstrafe wegen früherer Vergehen antreten und die Polizei warte nur auf einen Anlass, ihn schon früher verhaften zu können.

Anas Anzeige ist dieser Anlass. Die Polizei rückt für eine Hausdurchsuchung aus, Ana bleibt währenddessen zu ihrer eigenen Sicherheit auf dem Posten. Die Polizei findet bei Paul grosse Mengen Bargeld und Drogen und verhaftet ihn.

Der Fall liegt inzwischen beim Kantonsgericht. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft liegt der AZ auszugsweise vor: Paul werden unter anderem mehrfache Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen, die Beschäftigung einer Ausländerin ohne Bewilligung, grobe Verletzungen der Verkehrsregeln und mehrfaches Fahren unter Drogeneinfluss. Dazu: Beschimpfung und Drohung, basierend auf Anas Anzeige, belegt durch Sprach- und Textnachrichten.

Paul sitzt derzeit in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, die Staatsanwaltschaft fordert eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren. Die Anzeige von Ana ist nur Spitze des Eisbergs. Dennoch ist Paul überzeugt: Sie ist schuld, dass er sitzt.

Bald kontaktiert sie ein Anwalt. Ana erzählt, er habe ihr ein Angebot gemacht: «Wenn du die Anzeige zurückziehst, kann ich dir Geld und eine Wohnung besorgen.» Ein Bestechungsversuch aus dem Gefängnis heraus. Der Anwalt sagt auch: «Paul hat man entweder als guten Freund – oder als Feind.» Ana lehnt ab. Heute sagt sie der AZ: «Er hat mich und mein ungeborenes Kind bedroht. Er war schon längst mein Feind.» Dieser wechselt auf eine neue Strategie: Drohung und Denunziation.

Als Ana aus einem kurzen Ferienaufenthalt zurückkommt, findet sie ein Paket vor ihrer Tür. Sie öffnet es vorsichtig und findet ranziges Schweinefleisch und Hundekot. «Sehr kleine Böppeli», wie Ana auffällt: Sie weiss, dass Pauls Freundin einen Chihuahua besitzt.

Ana will Anzeige erstatten, dieses Mal bei der Polizei ihres Wohnkantons Thurgau. Doch die Beamten wollen die Anzeige nicht entgegennehmen: Sie hätten gesagt, das Paket sei keine Drohung, sondern höchstens Unfug, erzählt Ana.

Stattdessen entsorgt die Thurgauer Polizei das unappetitliche Paket. Warum es nicht als Drohung oder zumindest als Einschüchterungsversuch von Paul verstanden wird, ist schleierhaft. Für Ana ist der Fall glasklar: Paul hat aus dem Gefängnis jemanden angewiesen, ihr das Paket zu schicken. Auch der Schaffhauser Polizist, mit dem sie weiterhin Kontakt hat, sehe das so.

Zudem beschuldigt Paul Ana bei einer polizeilichen Einvernahme am 9. März, von ihm Kokain bezogen und konsumiert zu haben. Eine Schikane auf Ansage: Ana hat der Polizei eine SMS aus dem Januar übergeben, in dem Paul bereits ankündigte, er werde sie belasten.

Paul zeigt Ana an, sie wird zu einer Befragung vorgeladen. Doch die Schaffhauser Polizei sagt, sie müsse sich keine Sorgen machen. Sie brauche auch keinen Anwalt. Ana vertraut der Polizei, lobt den zuständigen Polizisten ausdrücklich. Es sind andere Behörden, vor allem im Kanton Thurgau, die ihr bald das Leben schwer machen werden.
Ana soll ihre Unschuld beweisen.

Das Strassenverkehrsamt in Anas Heimatkanton erhält den Polizeirapport mit dem Verdacht, sie konsumiere Drogen – ein routinemässiger Vorgang gemäss Strassenverkehrsgesetz. Nach Auskunft des Strassenvehrkehrsamtes gegenüber der AZ hat dieses zu jenem Zeitpunkt keine Kenntnis davon, dass sich der Verdacht ausschliesslich auf die Aussage eines inhaftierten Dealers stützt, der glaubt, wegen ihr im Gefängnis zu sitzen. Ana sagt, sie habe das Strassenverkehrsamt sofort darüber informiert.

Im Mai erhält Ana ein Schreiben: Sie müsse mit einem verkehrsmedizinischen Gutachten nachweisen, dass sie keine Drogen nehme, sonst werde ihr der Führerausweis entzogen. Das bedeutet konkret: zum Arzt gehen, in einen Becher pinkeln, Haarproben abgeben, eine körperliche Untersuchung und ein ausführliches Gespräch über sich ergehen lassen. Kosten, im Voraus zu bezahlen: 1500 Franken, in jedem Fall zu Lasten der Beschuldigten – auch, wenn sie «sauber» ist und kein Drogenkonsum festgestellt wird. Das ist rechtlich korrekt: Das Strassenverkehrsgesetz hebelt die Unschuldsvermutung teilweise aus. Die Ämter sind sich bewusst, dass dies die Gefahr von haltlosen Denunziationen birgt. Das Thurgauer Strassenverkehrsamt schreibt der AZ: Deshalb werde, wie im vorliegenden Fall, bei Denunziationen «Feststellungen der Polizei und Einvernahmen der betroffenen Personen im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen abgestützt».

Ana hat keine 1500 Franken. Ihr Geschäft, der Betrieb einer Eventhalle, ist wegen der Pandemie auf Eis gelegt. Ausserdem sieht sie nicht ein, warum sie ihre Unschuld beweisen und erst noch dafür zahlen soll. Sie weigert sich.

In der Folge verfügt das Thurgauer Strassenverkehrsamt einen «vorsorglichen Entzug des Führerausweises». Er tritt sofort in Kraft und mindestens, bis Ana ein positives verkehrsmedizinisches Gutachten vorweist. Zur Begründung schreibt das Strassenverkehrsamt: «Gemäss einem Rapport der Schaffhauser Polizei vom 09. 03. 2020 steht [Ana] im Verdacht, Betäubungsmittel zu konsumieren.» Ihre Weigerung, auf eigene Kosten einen Drogentest zu machen, wird als belastendes Indiz verstanden.

Ana teilt nochmals schriftlich mit, sie akzeptiere den Führerausweisentzug nicht, «weil die Anschuldigungen in keinster Weise zutreffen». Sie sei gerne zu einem Test bereit, aber nicht auf ihre Kosten: «Ich versichere Ihnen, dass ich nie Betäubungsmittel konsumiert habe und ausserdem schwanger bin und meinem Kind sicherlich nicht schaden werde.» Ausserdem weist sie darauf hin, dass Paul ein Motiv hat, sie zu denunzieren.

Die Verfügung zum Entzug des Führerausweises wird Ana am 23. Juli an einer Einvernahme von der Thurgauer Polizei eröffnet. Auch der Polizei sagt sie, sie akzeptiere das nicht. Die Polizei lässt sie gehen, ohne ihr den Ausweis abzunehmen, sie fährt nach Hause. Als Ana am nächsten Tag aus der Garage fährt, wartet die Polizei bereits auf sie.

Vier Polizisten stellen eine Schwangere

Zwei Polizisten fordern Ana auf, auszusteigen. Sie erzählt, ein Polizist habe sie am Arm gepackt und ihr den Führerschein aus der Hand gerissen. Weil Ana nicht kooperiert, bestellen die Polizisten Verstärkung. Vier Mann scheinen der Polizei nötig, um den Führerschein einzuziehen. Ana ist hochschwanger, gerade beginnt der achte Monat.

Die Mittdreissigerin, das soll nicht unterschlagen werden, ist nicht aufs Maul gefallen. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, wählt sie scharfe Worte und lässt keine Zweifel bestehen, was sie vom Gegenüber hält. An diesem Tag beschimpft sie einen Polizisten als «Dreckspolizei» und «Arschloch in Uniform». Man kann sich problemlos vorstellen, dass sie auch im Umgang mit dem Strassenverkehrsamt nicht sonderlich angenehm war. Aus Sicht der Thurgauer Behörden ist sie renitent. Sie erzählt, ein Polizist habe gesagt, sie sei viel emotionaler als andere Schwangere.

Kunststück: Ana wurde bedroht und lebte in Angst, das Stassenverkehrsamt warf ihr Drogenkonsum vor und die Polizei wollte ihre Anzeige wegen einer weiteren Drohung nicht entgegennehmen – alles während der Schwangerschaft. Heute sagt sie zur AZ: «Das ganze Jahr war nur Stress. Ich bin am Ende.» Heute, drei Monate nach der Geburt ihrer Tochter, wiegt Ana keine 50 Kilogramm.

Der Führerausweisentzug war nicht rechtens

Nachdem die Polizei ihr den Führerschein weggenommen hat, passiert erstmals in der langen und leidigen Geschichte etwas Gutes: Ein Nachbar vermittelt Ana einen Anwalt und stellt in Aussicht, einen Teil der Kosten zu übernehmen.

Nihat Tektas, Anwalt und FDP-Kantonsrat, erhebt Rekurs gegen den vorsorglichen Führerausweisentzug. Er zerpflückt die Argumentation des Strassenverkehrsamtes: Erstens gebe es keine echten Hinweise darauf, dass die nicht vorbestrafte und schwangere Ana Kokain konsumiere. Das einzige Indiz ist die Beschuldigung von Paul, der ihr aus dem Gefängnis heraus schaden will. Zweitens, Tektas zitiert juristische Kommentare und Bundesgerichtsentscheide, würde ein gelegentlicher Konsum auch nicht ausreichen, um eine Sucht anzunehmen, die den Entzug des Führerscheines legitimieren würde.

Das Strassenverkehrsamt hält entgegen, Ana bewege sich in einem «drogenaffinen» Umfeld», was Tektas als «absurd» und «nicht ansatzweise sustantiiert» bezeichnet.

Im Oktober entscheidet die Rekurskommission: Ana erhält Recht. Der vorsorgliche Entzug ihres Führerausweises war nicht gerechtfertigt. Die Kommission sieht nicht genügend Hinweise auf die Richtigkeit der Anschuldigung von Paul. Ausserdem gebe es keine glaubwürdigen Aussagen weiterer Personen oder andere Hinweise auf den Konsum von Kokain. Der vorsorgliche Entzug des Führerausweises wird aufgehoben, das Strassenverkehrsamt muss Ana eine Parteientschädigung von 1000 Franken zahlen. Mit anderen Worten: Das Amt wird zurückgepfiffen.

Nachwehen und neue Drohungen

Ende gut, alles gut?

Ganz und gar nicht. Erstens decken die 1000 Franken nur einen kleinen Teil der Anwaltskosten, auch Anas Nachbar wird nicht den ganzen Rest bezahlen.

Zweitens erhält Ana ihren Führerausweis nicht zurück. Wie erwähnt fuhr sie am 23. Juli zur Polizei und tags darauf aus der Garage, wo eine Streife auf sie wartete. Ana wird bestraft für das Fahren ohne Berechtigung, die Nichtabgabe des Ausweises und für die Beschimpfung eines Polizisten. Geldstrafe, Gebühren, Polizeikosten etc. summieren sich auf 5043 Franken und 5 Rappen. Ana weiss nicht, wie sie das bezahlen soll. Und: Das Strassenverkehrsamt entzieht ihr den Führerausweis für 18 Monate.

Ana will sich dagegen wehren. Anwalt Nihat Tektas kritisiert die Schärfe der Massnahme: Die Mindestdauer des Entzugs sei in diesem Fall 12 Monate, aber das Strassenverkehrsamt «bestrafe» Ana «drakonisch» für ihre mangelnde Kooperation, indem es den Entzug deutlich länger dauern lässt. «Das wirkt, als würde die Behörde sich rächen», sagt Tektas. Das Strassenverkehrsamt habe seinen Ermessensspielraum komplett zu Ungunsten von Ana genutzt und in keiner Weise auf ihre Situation Rücksicht genommen. Ebenfalls unbeeindruckt scheint das Strassenverkehrsamt von der Tatsache, dass es den ersten, den vorsorglichen Ausweisentzug zu Unrecht verfügt hat.

Die junge Mutter ist wütend und sieht weiterhin nicht ein, warum sie bestraft wird. Aus ihrer Sicht hat sie dem Staat geholfen, einen gefährlichen Dealer dingfest zu machen. Nur weil er sich an ihr rächen wollte, verlor sie den Führerausweis, und nur deshalb wird sie dafür bestraft, trotzdem gefahren zu sein.

Aus Sicht der Behörden hingegen verhielt sie sich verdächtig und unkooperativ. Dass sie nicht bereit war, ihre Unschuld zu beweisen, war wohl ein Fehler. Dass sie nach dem Ausweisentzug Auto fuhr, eindeutig. Und einen Polizisten zu beleidigen, ist in den allermeisten Fällen unklug. Dennoch: Die Thurgauer Behörden haben eindeutig nicht zu einer Deeskalation beigetragen.

Ana ist mit den Nerven am Ende, aber ungebrochen. Ihre Tochter gebe ihr die Kraft, weiterzumachen, sagt sie. Die Resilienz der jungen Mutter ist erstaunlich.

Paul sitzt im Gefängnis. Wenn er verurteilt wird, noch lange. Aber er lässt Ana nicht in Ruhe. Die Drohungen gehen weiter, obwohl sie zweimal umgezogen ist. «Und was ist, wenn er rauskommt?», fragt sie. Kürzlich hat jemand mehrmals den Kinderwagen vor ihrer Wohnung verdreckt und ramponiert; Räder und Bremsen wurden beschädigt, die Liegefläche zerschnitten. Ana hat keine Anzeige erstattet, nachdem die Thurgauer Polizei bereits das Drohpaket nicht ernst genommen hatte. «Mit denen bin ich fertig», sagt sie. In ihren trotzigen Mut mischt sich aber auch Verzweiflung: «Zu wem gehst du, wenn dir die Polizei nicht hilft?»