Epidemiebekämpfung anno 1349

8. Januar 2021, Doerte Letzmann
Giftsäckchen als Beweis: Juden werden gefoltert, damit sie die Brunnenvergiftung gestehen. Holzschnitt von 1475. Aus: Karl Heinz Burmeister, Medinat Bodase, Band 1.
Giftsäckchen als Beweis: Juden werden gefoltert, damit sie die Brunnenvergiftung gestehen. Holzschnitt von 1475. Aus: Karl Heinz Burmeister, Medinat Bodase, Band 1.

Antisemitismus Als im Mittel­alter in Schaffhausen die Pest ausbrach, vermuteten die ­Bürgerinnen eine ­jüdische Verschwörung. Als Massnahme gegen die Epidemie ­wurden die Juden verbrannt.

In den Jahren 1348 und 1349 grassierte eine hoch ansteckende, tödliche Krankheit in Schaffhausen. Die Symptome können in etwa so ausgesehen haben: Infizierte bekamen starkes Fieber und fühlten sich immer benommener. An einigen Stellen ihrer Körper wuchsen schmerzhafte, grosse, eitrige Beulen, die sich später schwarz-blau färbten. Kurz darauf starben sie.

Damals verstand niemand, warum. Heute wissen wir, diese Krankheit war die Pest, ausgelöst durch Yersinia Pestis, ein fieses kleines Bakterium. Ganz Europa war davon betroffen. Ab 1346 raffte die Epidemie «in einem vierjährigen Wüten etwa 25 Millionen Menschen hinweg», schreibt der Historiker Albert Steinegger. Wie viele Menschen zu der Zeit in Schaffhausen lebten, wie viele an der Krankheit starben, darüber ist kaum etwas bekannt. Bekannt ist aber, dass im Jahr 1349 alle Jüdinnen und Juden Schaffhausens ums Leben kamen. Sie starben nicht an der Pest selbst, sondern wurden von der Bürgerschaft verbrannt, und zwar als Massnahme zur Bekämpfung der Epidemie. Wie kam es dazu?

Juden in Schaffhausen

Historischen Quellen zufolge siedelten sich ab 1299 Juden in Schaffhausen an. Wie viele zur Zeit der Grossen Pest in der Stadt wohnten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Ebenso wenig, wer sie waren. Um 1330 gab es aber eine Gemeinde mit Synagoge, geleitet von Rabbiner Ahron ben Mose. In der Neustadt wohnten einige jüdische Familien, darunter Salomon und Rachel Ganser. Ein wohlhabender Jude namens Jakob bar Salomon wird in den Quellen erwähnt. Eberlin, Falk, Jakob bar Moshe, Liebkint Meister, Salman, David, Valche, diese Namen tauchen auf um diese Zeit.

Ihnen standen aber nicht die gleichen Rechte zu wie anderen Stadtbewohnern. Nicht nur mussten sie sich an strenge Bestimmungen halten wie das Tragen besonderer Kleidung. Sie zahlten auch besondere und teils abstruse Steuern – wie zwei Glasscheiben jährlich – und waren in ihrer Berufswahl eingeschränkt. Arzt war ein möglicher Beruf oder eben Geldleiher. Aber das machte sie unbeliebt. «So waren auch in Schaffhausen die verschuldeten Handwerker scharfe Judenhasser» schreibt der Historiker Walter Wolf. Der Chronist Hans Wilhelm Harder stimmt zu: «Die Juden waren verachtete und verhasste Leute und wurden gleichsam nur als Aushülfspersonen in Geldnöten geduldet.» «Von christlicher Liebe», sagt er, «verspürten sie selten einmal einen Hauch.»

Christlicher Antijudaismus

Der Judenhass der Schaffhauser Bevölkerung war zu dieser Zeit nicht aussergewöhnlich. In ganz Europa glaubten Christen, die Juden seien schuld am Tod von Jesus. Gottesmörder nannte man sie. Aus dieser Grundeinstellung erwuchsen allerlei merkwürdige Vorwürfe: Juden bräuchten das Blut von Christen für ihre Rituale, zum Beispiel, oder sie würden christliche Hostien stehlen, um sie zu zerschneiden oder für Rituale zu missbrauchen.

Fette Beute: das Haus zur Haselstaude (2. von rechts) wurde wohl einem Juden abgeknöpft. Aus: Zehender, Illustrierter Führer ­Schaffhausen, 1857.

Wurde einem Juden ein sogenannter Hostienfrevel vorgeworfen, hatte das brutale Folgen. «Die hierdurch aufgeregten Bürger liefen scharenweise zusammen, suchten den von dem Juden ihrem Gotte angetanen Schimpf zu rächen, ergriffen die beim Verbrechen ertappten Juden und schlachteten sie wie Ochsen mit dem Beile», schreibt der Franziskanermönch Johannes von Winterthur über einen Vorfall in Konstanz 1334. Auf diese Weise sollen 1342 auch Schaffhauser Juden hingerichtet worden sein, nachdem man sie beschuldigte, Hostien geschändet zu haben.

Mythos der Brunnenvergiftung

Als dann 1348/49 eine unbekannte Krankheit viele Menschen tötete, lag es aus christlicher Sicht nahe, die Juden zu verdächtigen. Nicht, weil sie andere angesteckt haben könnten. Sie hätten, so fasst Harder die Anschuldigung zusammen, «eine allgemeine Vergiftung der Brunnen» vorgenommen und damit die Krankheit unter den Christen verbreitet. Eine anti-christliche Verschwörung also. Letztendlich, so hiess es, wollten die Juden die gesamte Christenheit beseitigen. Juden seien «beseelt vom Drang nach Weltherrschaft», schlussfolgerte man damals, schreibt Wolf.

Der zeitgenössische, jüdische Dichter Baruch aus Zürich gibt den Vorwurf gegen seine Gemeinde so wieder: «Gift!, sie schreien, ist im Wasser, / das habt ihr ungläubige Hasser, / hineingeworfen uns zu verderben.» Der Beweis? Die Juden würden das stehende Brunnenwasser verschmähen, hiess es, und das beweise ihre Schuld. Von jüdischen Ärzten käme angeblich das Gift.

Das Gerücht hatte Folgen. In ganz Westeuropa wurden Jüdinnen und Juden deswegen verfolgt und gefoltert – um sie zu einem Geständnis zu zwingen. 1348 fanden auch in der Bodenseeregion «die ersten peinlichen Verhöre statt», die «mit der Verbrennung dieser Unglücklichen endeten», so Harder.

Verhört und verbrannt

Das war erst der Anfang. Zwischen November 1348 und September 1349 starben in der Bodenseeregion hunderte Juden im Feuer. Die Liste der Judenverbrennungen in diesen Jahren ist traurig, erschreckend und lang. Daraus nur einige Beispiele aus der Zusammenstellung des Historikers Christoph Stadler: «Ravensburg, 2. Januar 1349, Juden verbrannt (in der Burg); Basel, 17. Januar 1349, Juden verbrannt (ausser Zwangsgetaufte); Messkirch/Feldkirch, 21. Januar 1349, Giftvorwurf, Juden verbrannt; Überlingen, 11. Februar, Juden verbrannt; Konstanz, 3. März, 330 Juden verbrannt». Der Vorwurf gegen die Juden war hier, wie in ganz Europa, immer der gleiche: sie hätten die Brunnen und Flüsse vergiftet.

Juden seien die Urheber der Krankheit, so dachten auch die Schaffhauser Christen. Diese schreckliche Krankheit, dafür muss doch jemand verantwortlich sein. Am 21. Februar 1349 trieb deshalb die Schaffhauser Bürgerschaft die Juden der Stadt zusammen und verbrannte sie auf dem Scheiterhaufen. Der Rabbiner ben Mose, das wissen wir, kam dabei ums Leben. Die beiden Jakobs, Rachel, Salomon, vielleicht waren auch sie unter den Toten. Gab es Überlebende? Möglicherweise einige wenige.

Die Folgen der damaligen anti-jüdischen Gewaltwelle waren jedenfalls verheerend. In vielen Gemeinden wurde das jüdische Leben quasi ausgelöscht. Erst Jahrzehnte später sollte es sich wieder erholen. «Und das Gift, das unauffindbare, wurd’ / Zu einem Meer von Tränen», dichtete Baruch über das schreckliche Ende seiner Glaubensgenossinnen zu der Zeit.

Raubgut

Wenn damals Juden getötet wurden, ging es vor allem auch um eins: die Beute. Quellen belegen, dass die Mörder von Schaffhausen ihre Schulden tilgten und den Besitz der Ermordeten unter sich aufteilten. Man «fing [die Juden] ein, überantwortete sie dem Feuertode, während man, wie an andern Orten auch, die Hand über ihre Habe schlug und einen schwarzen Strich durch ihre Forderungen an die Christgläubigen zog», schreibt Harder. Nicht nur waren die Christen ihre Schulden los, es «sorgte auch der Rath für die materiellen Interessen der Stadt und versilberte, was sich von dem angefallenen Gut versilbern liess», fügt er hinzu.

In Schaffhausen ist das Haus zur Haselstaude, heute Oberstadt 5, das einem Juden gehörte, Teil dieses Raubguts. Da die Stadt damals an Österreich verpfändet war, wurde der österreichische Kanzler sein neuer Besitzer. Die Schaffhauser waren empört, konnten aber immerhin den Rest der Beute für sich beanspruchen. Schuldig fühlten sie sich nicht. Von Agnes, der Königin von Ungarn, liessen sie sich am 3. August 1349 in einem Freibrief zusichern, dass sie für den Mord an den Juden nicht bestraft würden.

Und die Pest? Die wütete ungehindert weiter. Bis 1720 kam es immer wieder zu Ausbrüchen in Mitteleuropa. Aber nicht alle endeten in anti-jüdischer Gewalt.

Lockdown statt Judenmord

Im 17. Jahrhundert zum Beispiel wurde Schaffhausen mehrmals von der Pest heimgesucht. Bei einem Ausbruch 1629 allein starben 4200 Einwohnerinnen der Stadt, meist junge Menschen. Laut dem Heimatforscher Johann Melchior Schuler waren das drei Fünftel der Bevölkerung. Diesmal ging es den Juden aber nicht an den Kragen. Stattdessen begegneten die Behörden der Epidemie mit verschiedenen Massnahmen.

Zur Vorbeugung wurden etwa Schulen, Gaststätten und Märkte geschlossen, der Verkehr zwischen Städten wurde unterbunden, Festlichkeiten waren untersagt. 1611 verbot man «alles leichtfertige Schwören und Fluchen, wie auch das üppige Springen, Tanzen, Jauchzen», schreibt Steinegger. Reisende mussten in Quarantäne. Wer trotzdem reisen wollte, musste einen Gesundheitsschein vorweisen, der «gesunde Luft» am bisherigen Aufenthaltsort beurkundete.

Für gänzlich unschuldig in der Verbreitung von Epidemien hielt man die Juden aber auch dann nicht. «Bettler, Juden und andere Zweifelhafte wurden nicht hineingelassen, auch wenn ihre Gesundheitsscheine noch so einwandfrei waren», schreibt Steinegger über die Zutrittsbeschränkungen in die Stadt im Jahr 1713.

Dass man damals die Juden nicht für die Epidemie verantwortlich machte, hatte wohl auch einen naheliegenden Grund: In Schaffhausen gab es keine mehr. Wiederholte Gewaltwellen hatten das jüdische Leben in der Region dezimiert. Im gesamten 16. Jahrhundert lebte in Schaffhausen nur eine einzige jüdische Familie. Und im 17. Jahrhundert wurden Jüdinnen und Juden mehrmals aus der Stadt verbannt. Die Niederlassung in Schaffhausen ist für sie erst seit 1865 wieder möglich.

Gift, Blut und Geldgier
Heute bringt die Pandemie eine neue Welle von Verschwörungstheorien mit sich. Ihr Kern ist nicht neu, sondern Mythen und Legenden aus dem Mittelalter entlehnt. Oft reproduzieren sie klassische antisemitische Stereotype. In der dreiteiligen Serie «Gift, Blut und Geldgier» wenden wir uns der Geschichte antijüdischer Verschwörungstheorien in Schaffhausen zu. Dabei sehen wir uns den Vorwurf der Brunnenvergiftung (Teil 1), die Ritualmordlegende (Teil 2) und den Vorwurf der Geldgier (Teil 3) näher an, vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Dabei wird klar: Verschwörungstheoretiker, die sich als Opfer imaginieren, sind die eigentlichen Täter.