Gender: Das Gehirn einer Frau läuft nicht nur, es rennt.
Es gibt Menschen, deren Tiefschlaf einem Totalausfall gleicht. Da könnte eine tosende Lawine auf sie zuschlittern und sie würden nicht mal die Augenbraue hochziehen, geschweige denn aufwachen. Schütteln, kneifen, rufen, kitzeln, küssen, schreien – nichts nützt. Unbeeindruckt dreht sich der Betroffene auf die Seite, das war’s. Bis morgen.
Andere hingegen reagieren auf jedes noch so leise Geräusch. Wenn irgendwo im Wald ein Blatt von einem Baum fällt, dann hören sie das. Eindunkeln, einkuscheln, sich ein warmes Getränk einflössen – nichts nützt, die Betroffene dreht sich auf die Seite, das war’s. Guten Morgen. Und herzlich willkommen bei mir zuhause.
Mein Lebensgefährte pflegt auf die Frage «Wie hast du geschlafen?» lapidar zu antworten «Wie ein Stein». Ich wiederum gehöre seit der Geburt unseres Kindes zur Spitz-Ohr-Fraktion. Ich höre, wenn im Treppenhaus unseres Hauses die Batterien eines Rauchmelders langsam zur Neige gehen (ein leise unablässig nervtötendes Pfeifen), wenn draussen auf der Terrasse Katzen streunen, und ich weiss, dass mein Kind erwacht, bevor es erwacht.
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03:12 Uhr: Wir liegen zu dritt im Bett. Der Mann regt sich nicht, das Kind hat den Schlaf wieder gefunden, mit meinem ist es jedoch vorbei. Schneller als jeder Computer fährt mein System innert Sekunden hoch und das Gehirn übernimmt. Die Gedanken schiessen durch den Kopf: Gestern hast du vergessen, dieses eine E-Mail zu beantworten. Du wolltest dich gegen die Grippe impfen lassen. Die Milch ist schon wieder aus. Die Handy-Rechnung muss noch bezahlt werden. Ruf deine Grosseltern an. Das Kind braucht dringend einen neuen Schneeanzug. Und Handschuhe. Und warme Stiefel. Übrigens, in der Maschine steckt seit gestern Abend Wäsche.
Meine innere Stimme klopft mir hämisch auf die Schulter – Dinge zu versäumen und nicht immer der Frau, Mutter, Tochter, Enkelin, Arbeitskollegin und Freundin zu entsprechen, die ich gerne wäre, kränkt mich. Und während ich mich selbst in die Schäm-dich-Ecke stelle, geht auf der Strasse die Beleuchtung an. Ich stehe auf und hole die Wäsche raus. Das Zeug, das mir durch den Kopf geistert, schiebe ich zum Stapel «unaufschiebbar», gelobe Besserung und kritzle mir schuldbewusst Erinnerungen auf den Arm.
Und dann kommt der verflixte Schnee.
Obwohl ich weiss, dass heutzutage das Wetter kein unerklärliches Phänomen mehr darstellt und man ohne weiteres in Erfahrung bringen könnte, wie der Tag meteorologisch verlaufen wird, erwischt es mich immer wieder kalt. Dieses Mal um den Gefrierpunkt. Der erste Schnee des Winters zaubert meinem Sohn ein breites Lächeln ins Gesicht und mir Sorgenfalten. Den Schneeanzug, den ich eigentlich längstens hätte kaufen wollen, habe ich natürlich noch nicht besorgt. Und die Handschuhe. Und die Stiefel. Wir müssen kreativ werden und ziehen alles an, was wärmend und ansatzweise wasserdicht ist, und täppeln so in die Kita. Etwas anderes geht kaum, denn mein Sohn könnte in diesem Aufzug glatt Werbung für eine bekannte Pneu-Marke machen – und ich für die nächste Staffel «Swiss Next Worst Mom».
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Auf dem Weg zur Arbeit brechen alle Dämme und ich greife zu einer Massnahme, die ich sonst nur selten anwende: Ich bitte meinen Partner um Hilfe. Schliesslich ist das Einkaufen von Kinderbekleidung keine geschlechterspezifische Aufgabe, darum soll er mal ran. Was er auch gleich tut. Die Resultate liefert er mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Links und Fotos von Jacken und Schuhen fluten unseren Chat, die Bestellungen sind schon aufgegeben. Ich bin baff und unendlich dankbar. Dass er mir die Besorgungen abgenommen hat, fühlt sich an wie der grösste Liebesbeweis ever. Die Laune wird schlagartig besser und ich seh den Silberstreifen am Horizont.
Am Abend, als ich das Michelin-Männchen vor der Kita in Empfang nehme, holt mich die Realität wieder ein. Die Betreuerin erzählt vom schönen Tag im Schnee, leider habe das Kind nasse Füsse bekommen und sei darum unzufrieden und mürrisch gewesen: «Diese Schuhe sind wahrscheinlich nicht so gut für Schnee geeignet», teilt sie mir mit. Ich pflichte ihr bei, plappere etwas von Wintereinbruch und denke, Heidi Klum kann sich die Sendung sparen. Ich bin die schlechteste Mutter, die es gibt.
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03:24 Uhr: Bei mir im Kopf geht das Licht wieder an. Das mit dem Schnee lässt mich nicht los. Das mit der schlechten Mutter auch nicht. Ich bleibe an den Fragen hängen: Warum habe ich das Gefühl, an alles denken zu müssen, und warum mein Partner nicht? Und warum ist er der Held des Tages, wenn er Kinderschuhe kauft, und ich die totale Katastrophe, wenn mir mal etwas entwischt?
Das Phänomen hat einen Namen: Die Mental Load-Falle. Mental Load oder auch geistige Belastung, ein Begriff, den Soziologinnen und Geschlechterforscher bereits seit Jahren verwenden, wird allmählich auch medial und gesellschaftspolitisch diskutiert. Und er prägt, ganz evidenzbasiert, den Alltag der meisten Eltern und all jener, die eine Betreuungsfunktion übernehmen: Die oft unsichtbare Denkarbeit, die für das reibungslose Funktionieren einer Familie notwendig ist. Also das Sich-Gedanken-Machen um Kleider, Mahlzeiten, Einkäufe, um das seelische Wohlergehen aller Familienmitglieder, um das schöne Zuhause, Termine, Hobbys, und so weiter und so fort. Das ganz persönliche Betriebsmanagement, das allgemein auch unter das Sich-Kümmern und Sich-Sorgen bekannt ist und in die soziale DNA jeder Frau gestanzt ist.
Emanzipation und Feminismus konnten im Kampf um die Gleichstellung zwar schon einiges bewegen, woran aber die Gesellschaft sich noch lange mühsam abarbeiten wird, sind die Rollenbilder. Dass Frauen, besonders Mütter, sich nicht nur um sich selbst, sondern um ihr Umfeld kümmern sollen, ist ein ungeschriebenes Gesetz mit ganz realen Auswirkungen. Die unbezahlte Care-Arbeit ist eine tragende Säule der Volkswirtschaft, die beim Einsturz eine tiefe Schneise der Verwüstung hinterlassen würde. Der Mental Load ist der Mörtel, der das System der Umsorgung zusammenhält. Denn ohne Denkarbeit und den inneren Ansporn, sich um andere zu kümmern, müssten wir als Gesellschaft plötzlich ziemlich viel Cash auf den Tisch legen, um all die Aufgaben zu entlöhnen, die momentan aus reiner intrinsischer Motivation so ganz nebenbei passieren.
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Ich sitze also in der Falle. Da wieder herauszufinden, ist verdammt schwer. Warum, schildert eindrücklich die Journalistin Teresa Bücker in einer ihrer Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung: Die innere Überfrau abzustreifen, sei ein schmerzhafter Prozess, der oft daran scheitert, dass Frauen sich über das Bild des Multitasking-Wunders definieren. Wer bin ich denn, wenn ich mich nicht mal um meine Familie kümmern kann? Das Resultat ist ein Wetteifern um Anerkennung und Bestätigung, die in Form von Valentinskarten und Muttertagsbsteleien, aber besonders durch Selbstbelohnung zum Ausdruck kommen. Den Haushalt im Griff zu haben, nach dem anstrengenden Arbeitstag trotzdem pünktlich einen feinen Znacht auf den Tisch zu bringen, das Haus zu dekorieren, die Kinder am Abend geduldig anzuhören, Sicherheit und Geborgenheit zu spenden – das alles ist pures Serotonin für die Frauenseele. Glücklich und erfüllt zu sein, weil man andere glücklich macht, ist eine wirklich fiese Masche, in der wir uns noch so gerne verstricken.
Darum tut mein Schnee-Malheur auch so sehr weh: Ich will doch, dass mein Kind zufrieden und glücklich durch den Tag kommt, ich finde, dass es einen Anspruch darauf hat. Und ich beanspruche die Verantwortung, dafür zu sorgen, für mich. Das nennt sich Maternal Gatekeeping und muss nicht in zwanghaftes Gluckenverhalten ausarten, sondern kann auch subtile emotionale Bande zwischen Mutter und Kind betreffen.
Davon etwas an den Partner abzugeben, ist eine Herausforderung. Väter, die bei der Geburt ihres Kindes eine längere Pause machen, sich Tragetücher umbinden und auf Spielplätzen rumalbern, werden als die Speerspitze einer neuen Männlichkeit gefeiert. Mütter, die sich nicht bis zur Erschöpfung verausgaben, wiederum werden missmutig beäugt. Und auch wenn man die geteilte Arbeit als Maxime für das eigene Familienleben gewählt hat, entsteht eine Lücke im Rollenverständnis. Solange die Bilder von Frauen und Männern und von ihrem Platz in der Gesellschaft noch so festgefahren sind, wird es kaum möglich sein, diese neu zu füllen.
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03:56 Uhr: Mein Gehirn rennt wieder. Zwischen den Gedankenkilometern, und dafür ist meine Insomnie auch gut, treffe ich eine Entscheidung. Perfekt sein zu wollen, damit ist jetzt Schluss. Zumindest versuche ich es. Und mein Kind wird schon keinen Schaden davontragen. Als Michelin-Männchen verkleidet übersteht man auch eine unsanfte Landung. Wenn das mal keine perfekte Fürsorge ist.