Ich dachte, der Schaffhauser Ausgang hätte mir nichts mehr zu geben.
Bis er stillgelegt wurde.
Ein Sonntagmittag früher: Ich wache auf und bin leicht neben der Spur. Einiges hallt da nach in meinem Kopf: Gesprächsausschnitte, Gesichter. Biere. Ich bleibe erst mal zwischen den Kissen liegen. Irgendwann ruft mich meine Kumpanin an, mit der ich unterwegs war. Oder ich sie.
War ich schlimm gestern? Wir rekapitulieren die vergangene Nacht, lachen mit krächzender Stimme. Ein bisschen reuig, aber nicht sehr.
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So war es, als wir jünger waren. So war es eigentlich bis eben kürzlich noch. Bis die Pandemie kam. Der Schaffhauser Ausgang halt. Bisschen peinlich, bisschen egal. Es gibt oft keine objektiven Kriterien, ob eine Nacht im Kaff gut wird, da man nicht aus einer Fülle von Angeboten wählen kann. Hat man an einem Abend das Reissen, läuft halt wahrscheinlich gerade nur diese eine Party. Man kann sich für sie entscheiden – oder man kann draussen vor der Clubtür rumhängen. Und oft läuft gar nichts. Ausser in den Gassen.
Das Schaffhauser Nachtleben ist im Grunde nicht viel mehr als ein Haufen von Leuten, die das Schicksal an denselben Ort geworfen hat. Wie in Sartres Kammerspiel huis clos, «geschlossene Gesellschaft»: Drei Menschen finden sich in einem zwischenweltlichen Raum eingeschlossen, verdammt dazu, sich gegenseitig zu begehren, zu ertragen, zu brauchen. «L’enfer c’est les autres», stellen sie fest. Die Hölle sind die andern, füreinander. – Das Schaffhauser Nachtleben sind die andern, füreinander.
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Ein heisses Pflaster sind die Schaffhauser Gassen aber nicht. Erst recht nicht, wenn man mal das erste Lebensdrittel überschritten hat. Und doch verbriet man (also ich) bis Anfang dieses Jahr noch massenweise Zeit in den Schaffhauser Bars und Clubs, auf Parkbänken und vor Dönerläden. Das Ganze mit beträchtlichem Energieaufwand, dabei war es oft nicht mal gut, man nahm es so hin. Man liess sich in Gespräche mit Fremden verwickeln. Lungerte rum und schaute mal, wer da noch so des Weges käme. Wartete auf nichts.
Und jetzt sieht man plötzlich all diese Zeit, die man in endlosen Nächten wahllos verpulvert hat. Diese Zeit liegt haufenweise vor einem. Man kann sie anderweitig investieren, gar kein Problem (Lesen, Kochen, Spörteln). Dadurch fühlt man sich vernünftiger und fitter. Aber gleichzeitig fällt das eigene Leben gerade etwas auseinander. Ich bin leicht orientierungslos: Habe ich zuvor wirklich so viel Zeit in der Nacht verstreichen lassen? Zeigt sich in der aktuellen Situation nur die blosse Sinnlosigkeit des (also meines) gewohnten Lebens?
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Ein Samstagabend heute: Wir sitzen auf reichlich Distanz bei einer Freundin zu Hause im Wohnzimmer. Freuen uns, dass wir uns endlich mal wieder sehen. So hätte ein Abend vor der Pandemie auch beginnen können. Nur trinken wir weniger als damals. Niemand benimmt sich peinlich. Und niemand hat etwas Neues erlebt, geschweige denn etwas Verrücktes.
Vielleicht habe ich aber auch einfach weniger Lust, zu erzählen. Die vielen Stunden alleine seit der Pandemie haben mich nicht nur langweiliger gemacht, sondern auch gesprächsfauler. Etwas asozialer. Jetzt ist dann auch mal wieder gut, denke ich nach zwei, drei Stunden. Gegen 23 Uhr deute ich die ersten Aufbruchsignale an. Ich möchte ins Bett.
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Am Sonntagmorgen dann: Fitness zu Hause. Nicht, weil das einem persönlichen Plan entspricht, sondern, weil ich zu viel Energie habe. Ich weiss, dass es Viele tun: Tanzen zu Hause vor dem Spiegel oder in der Küche. Öfter als früher. Das Tanzen fehlt.
Ich öffne in meinem Schlafzimmer Youtube auf dem Laptop, suche nach irgendetwas Motivierendem, finde ein Dance-Workout mit Pamela Reif. Das ist kein Zufall, Pamela Reif ist die erfolgreichste deutsche Fitness-Influencerin, sie hat während der Coronakrise mehrere Millionen von Abonnentinnen dazugewonnen.
Als Nächstes klicke ich auf ein Video, welches ein anderer Fitness-Trainer über das Dance-Workout von Pamela Reif gemacht hat. Der Fitness-Trainer findet Pamela Reif hübsch, aber ihre Bewegungen lustig, und er fragt sich: Wenn das bereits bei Pamela Reif so aussieht, wie sieht es dann erst bei den Frauen aus, die das zu Hause nachmachen? Er stellt klar, dass man hierbei keine Muskeln trainiert, nicht mehr jedenfalls, als wenn man spazieren gehen würde.
Der Fitness-Trainer aus dem Video hat Vieles nicht verstanden. Zum Beispiel hat er nicht verstanden, dass Tanzen Spass macht. Dass es ein Ventil ist.
Nur ein Problem gibt es mit dem Video von Pamela Reif: Es kann mir das Tanzen draussen nicht ersetzen. Denn es passiert darin nichts Unvorhergesehenes. Nichts Spontanes.
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Man sah es im Sommer, nach dem ersten Lockdown, als man dachte, die Lage hätte sich beruhigt. An den vereinzelten Partys, an denen ich war, waren die Leute wie ausgehungert nach Nähe und Austausch. Nach Exzess. Hielt man sich Anfang des Abends noch zurück und auf Abstand zueinander, brachen in den Morgenstunden die Dämme. Die Leute tanzten ausgelassen, knutschten rum, waren blau oder sonst wie von Sinnen.
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Es verwundert nicht, dass uns die Politik die Nacht genommen hat. Dass man die Nachtzüge und -busse gestrichen hat. Es sind Massnahmen der Vernunft. Aber dass man die Beizen und Bars abends ohne Rücksicht auf Verluste schliesst? Die Wirtinnen über die Klinge springen lässt? Das zeigt, was die Politik als wertvoll betrachtet.
Es zeigt aber gleichzeitig auch, was die Nacht für einen Wert hat. Sie ist die Zeit der Regellosigkeit und der Verwegenheit. Die Stunde der Schwärmer und Träumer. Die Nacht trägt nach Friedrich Nietzsche das Dionysische, das Rauschhafte in sich. Und also sprach Zarathustra in seinem Nachtlied:
Nacht ist es: nun bricht wie ein Born aus mir mein Verlangen, – nach Rede verlangt mich.
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen.
Die Nacht ist Motor für kreative Prozesse. Auch die Kleinstadtnacht. Die Pandemie hat mir aus der Ferne ihre Qualitäten wieder bewusst gemacht. Die Nacht löst in Schaffhausen die Grenzen der Vernunft auf, reisst die bürgerlichen Wände ein. Man kommt mit fremden Menschen ins Gespräch, wie es hier bei Tag nie der Fall wäre. Und vor allem auch trifft man in der Nacht ferne Bekannte an, die man toll findet, aber im Alltag praktisch nie zu sehen kriegt. Ideen entstehen, Pläne werden geschmiedet. Auch wenn sie dann wieder vergessen werden.
Man erkennt in dem, was man sonst als kleinstädtisch einengend empfindet, wieder das Schöne: In Schaffhausen kann man abends alleine ausgehen, weil man sowieso immer jemanden kennt.
Sich treiben zu lassen, ist nicht sinnlos. Am Sonntag danach ist man vielleicht leicht neben der Spur: ein bisschen reuig vielleicht. Aber auch voll mit Eindrücken, die in einem hochsprudeln. Der Schaffhauser Ausgang ist eine Quelle der Inspiration, des Inputs. Das wird jetzt klar, wo sie versiegt ist. Gerade weil er immer das ist, was die Leute daraus machen. Er darf nicht für immer still bleiben.