Der Arbeitsamtschef schanzt seiner Frau seit Jahren Aufträge zu. Es geht um Millionen – und alle schauen weg. Warum bleibt nichts kleben an Vivian Biner?
Im Sommer 2018 holte sich Vivian Biner den Feind ins eigene Haus. Der Chef des Schaffhauser Arbeitsamts wusste, was er tat; aber er hatte keine Wahl.
Ein Jahr zuvor hatten zwei Inspektoren des Bundesamts für Wirtschaft (Seco) den Bereich Logistik Arbeitsmarktliche Massnahmen (LAM) des Schaffhauser Arbeitsamts untersucht. Und was sie sahen, gefiel ihnen nicht.
Die LAM-Stelle kauft Kurse für Arbeitsuchende ein, sie hat eine Finanzkompetenz von mehreren Millionen Franken. Doch bei der Vergabe der Kurse gab es diverse Unregelmässigkeiten. Millionenbeträge flossen unrechtmässig an Kursanbieter, es gab keine Strategie bei der Vergabe, keine Dokumentation, es gab Interessenkonflikte – und mittendrin im operativen Geschäft: der Amtsleiter selber. All dies schrieben die Seco-Inspektoren in ihren Bericht.
Als Folge musste Amtsleiter Vivian Biner im Sommer 2018 eine Fachspezialistin einstellen, wir wollen sie hier Frau Ammann nennen. Frau Ammann kam mit einem 50-Prozent-Pensum zum Schaffhauser Arbeitsamt, um das Beschaffungswesen unter die Lupe zu nehmen und professionelle Strukturen aufzubauen. Denn die Zustände, die das Seco schilderte, die rochen nach Korruption. Frau Ammann war also, obwohl sie formell vom Arbeitsamt eingestellt wurde, faktisch eine Gesandte von Bern.
Gleich vorweg: Frau Ammann blieb nur sieben Monate. Heute, zwei Jahre später, sagt sie gegenüber der AZ, man habe ihr zu verstehen gegeben, sie solle die Füsse still halten. Das Seco solle vertröstet werden, bis Amtsleiter Vivian Biner frühpensioniert werde. Sie sagt, man habe ihr relevante Unterlagen verweigert und ihr so die Arbeit verunmöglicht: «Es wurde mir schnell klar, dass ich nur pro forma angestellt wurde.» Nachdem sie ihre Stelle kündigte, war die Sache mit der Vergabestrategie erledigt. Für Frau Ammann kam kein Ersatz. Biner hat den Feind aus dem Haus gejagt.
Heute aber, zwei Jahre danach, droht neues Ungemach. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen Amtsleiter Vivian Biner aufgenommen. Der Verdacht: Ungetreue Amtsführung und Amtsmissbrauch. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Es scheint jedoch, dass auch diesmal nichts passieren wird. Dass alle froh wären, die Staatsanwaltschaft würde nichts Auffälliges finden: das Arbeitsamt, der Regierungsrat, das Seco, ja offenbar sogar die Staatsanwaltschaft. Sie hat den Parteien am 1. Dezember 2020 bereits angekündigt, das Verfahren einzustellen. Sie hat nur einen Zeugen befragt: Vivian Biner.
Was ist da los?
Die Vorwürfe halten seit Jahren an. Und Recherchen der AZ zeigen jetzt: Das Ausmass der Unregelmässigkeiten beim Schaffhauser Arbeitsamt ist viel grösser als bisher bekannt.
Diener zweier Herren
Will man die Umstände der ganzen Affäre um Vivian Biners Arbeitsamt und die Reaktionen der verschiedenen Involvierten verstehen, muss man zuerst wissen, woher das Geld kommt, um das es geht.
Das Arbeitsamt ist die grösste Abteilung des kantonalen Volkswirtschaftsdepartements. Dessen Vorsteher ist Regierungsrat Ernst Landolt, der Ende Jahr in den Ruhestand treten wird. Ein beträchtlicher Teil der Mittel aber, mit welchen das Arbeitsamt finanziert wird, stammt von der Arbeitslosenversicherung. Das Geld etwa, das Stellensuchende vom Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) erhalten, bezahlt nicht der Kanton, sondern der Bund. Auch der Bereich LAM, um den es bei den Vorwürfen gegen Vivian Biner geht, wird zum grössten Teil vom Bund finanziert.
Vivian Biner ist also gewissermassen Diener zweier Herren: der eine Herr ist der Kanton Schaffhausen, der ihn beschäftigt; der andere Herr ist das Bundesamt für Wirtschaft (Seco), das ihn füttert. Doch keiner der beiden Herren schaut nach dem Rechten.
Der Kern der Affäre Biner ist nicht neu. Erstmals publik wurden Unregelmässigkeiten bei der Vergabe von LAM-Kursen vor viereinhalb Jahren in der Schaffhauser AZ. Am 28. April 2016 konnte man lesen, wie Vivian Biner seine Ehefrau Andrea Biner bei der Vergabe von
öffentlichen Aufträgen bevorzugt (zu finden in unserem kostenlosen Onlinearchiv: epaper.shaz.ch).
Damals ging es um Kurse für die Integration von Jugendlichen in den Arbeitsmarkt. Andrea Biner führte solche Kurse im Mandat der Schule für berufliche und allgemeine Weiterbildung (SBAW) seit 2003 für das Arbeitsamt durch. Nachdem ihr Mann 2008 die Leitung des Arbeitsamtes übernommen hatte, ging es für die SBAW aufwärts. Das Feld der Anbieter von Integrationsprogrammen für Jugendliche wurde ausgedünnt. Zwei ähnliche Programme anderer Anbieter wurden 2014 vom Kanton zusammengespart oder aufgelöst. Der angebliche Grund: die Nachfrage habe abgenommen. Als einziges Programm verblieb Ready 4 Business von Andrea Biner, das in der Folge mehr Teilnehmerinnen bekam. Amtsleiter Vivian Biner räumte damals gegenüber der AZ ein, beim Entscheid, Ready 4 Business auf Kosten der Konkurrenzprogramme zu pushen, «federführend» gewesen zu sein.
Regierungsrat Ernst Landolt nahm seinen Amtsleiter Vivian Biner in Schutz: 2008, als Biner sein Amt antrat, habe man sich mit dem Seco zusammengesetzt und die Angelegenheit beraten. Man sei zum Schluss gekommen, dass es unproblematisch sei, dass Andrea Biner über ein Mandat Aufträge von Amtsleiter Vivian Biner bekomme. Schaffhausen sei ein kleiner Kanton, man kenne sich zwangsläufig und müsse «pragmatische Lösungen» suchen. Das Programm der SBAW sei genau das Programm gewesen, das man gesucht habe, es sei logisch gewesen, die Mittel dort zu bündeln.
Tatsächlich wird Vivian und Andrea Biner von allen Seiten grosses Engagement und tadellose Arbeit attestiert. Auch heute noch.
Doch auch heute noch scheint es beim Arbeitsamt gang und gäbe zu sein, bestehende Kursanbieter zu beschneiden – zu Gunsten der Kurse von Andrea Biner. Und das ist nur der Anfang.
1,4 Millionen zu viel verrechnet
2017, nachdem die beiden Seco-Inspektoren den LAM-Bereich des Schaffhauser Arbeitsamts untersucht hatten, berichtete das Schweizer Fernsehen SRF, drei ehemalige Kursanbieter, die auf Anordnung von Vivian Biner durch andere Kursanbieter aus dem Umfeld von Andrea Biner ersetzt worden seien, beklagten sich bei Regierungsrat Ernst Landolt über Vetternwirtschaft und Filz.
Erneut spielte Regierungsrat Landolt die Sache herunter. Die Firmen hätten es schlicht verpasst, ihre Kurse den veränderten Bedürfnissen anzupassen. «Die Nachfrage hat abgenommen» – es ist ein Narrativ, das man in der Affäre Biner immer wieder hört. Recherchen zeigen jetzt: das Argument hinkt. Doch dazu später mehr.
2017 erhielten die Medien vom Seco nur eine Zusammenfassung des Inspektionsberichts. Heute liegt der AZ der gesamte Seco-Bericht vor, der vom Bundesamt unter Verschluss gehalten wird. Der Bericht zeigt: das Ausmass der Seco-Kritik war weit grösser, als die Zusammenfassung den Anschein machte. Die wichtigsten Punkte:
• Für die Beschaffungen des LAM-Bereichs gab es beim Schaffhauser Arbeitsamt keine Strategie. Die Vergaben und die Abrechnungen wurden nicht ordentlich dokumentiert. Es gibt keinen Wettbewerb, obwohl «enge, historisch gewachsene Kontakte zwischen dem Arbeitsamt und den Anbietern» bestehen. «Speziell ist die Konstellation beim SBAW, wo bekanntlich die Ehefrau des Amtsleiters als Projektleiterin tätig ist.»
• Vivian Biner war gemäss Seco-Bericht nicht gewillt, eine Unbefangenheitserklärung zu unterschreiben, was ein normaler Vorgang ist für Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, die in Beschaffungen involviert sind. Biner argumentierte, er sei nicht Teil der LAM-Stelle und bei der Vergabe der Kurse nicht direkt beteiligt – ergo müsse er auch nicht unterschreiben. Das Seco fand diese Begründung «nicht stichhaltig».
Recherchen zeigen: Biner hat das Seco angelogen. Der AZ liegen Outlook-Kalendereinträge vor, die beweisen, dass Vivian Biner regelmässig persönlich an den Gesprächen teilnahm, an denen Stellensuchende in Kurse eingeteilt wurden, obwohl dies nicht zu seinem Jobprofil als Amtsleiter gehörte. Biner teilte den Kursen seiner Ehefrau eigenhändig Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu. Die Fachspezialistin, Frau Ammann, die das Beschaffungswesen analysieren sollte, sagt gegenüber der AZ, Vivian Biner entscheide bei gewissen Kursen über praktisch jede einzelne Teilnehmerin selber. Der LAM-Leiter, der eigentlich mit dieser Aufgabe betraut wäre, habe nichts zu sagen.
Dass es in den zwölf Jahren Amtszeit von Vivian Biner eine ungewöhnlich hohe Fluktuation bei der Stelle des LAM-Leiters gab, hat auch Regierungsrat Ernst Landolt gegenüber der AZ eingeräumt.
• Aus dem Seco-Bericht geht auch hervor, dass die Finanzkontrolle von Kanton und Stadt Schaffhausen (Fiko) die Buchhaltung des LAM-Bereichs kontrolliert hat. Die sogenannte «Anrechenbarkeitsprüfung» der Fiko kam zum Ergebnis, dass mehrere Kursanbieter «nicht anrechenbare Kosten» verrechneten und vom Arbeitsamt ausbezahlt bekamen. Genannt werden Beträge von 10 000 bis 30 000 Franken.
Nur ein Kursanbieter tanzte aus der Reihe: die SBAW. Die Firma, für welche Andrea Biner im Mandat Kurse fürs Arbeitsamt durchführt, hat über Jahre viel zu hohe Kosten verrechnet: Zwischen 2013 und 2015 musste die Fiko 1,4 Millionen Franken von der SBAW zurückverlangen, fast eine halbe Million Franken pro Jahr. Bedenkt man, dass das Jahresbudget für Arbeitsmarktliche Massnahmen beim Arbeitsamt rund 7 Millionen Franken beträgt, sind das beachtliche Beträge: Über 5 Prozent der Gesamtausgaben flossen unrechtmässig an die SBAW.

Wie man die «Nachfrage» steuert
Die AZ hat mit mehreren ehemaligen hochrangigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeitsamtes gesprochen. Es ergibt sich das Bild eines Amtsleiters, der sehr engagiert und innovativ ist und der sich für die Stellensuchenden stark engagiert. Das Bild zeigt aber auch einen Mann, der sich als König eines kleinen Reiches sieht, der keine Widerrede duldet und sich schnell angegriffen fühlt. Er pflege einen rücksichtslosen Umgang mit seinen Mitarbeitenden, heisst es. Unliebsame Mitarbeitende tausche er aus, und zwar auf sehr subtile Weise. Die hohe Fluktuation bei den Mitarbeitenden habe stark mit Biners Führungsstil zu tun. Vieles würde er mündlich machen, damit er keine Spuren hinterlasse. Ausserdem habe seine Ehefrau Andrea Biner einen «prägenden Einfluss» auf den Amtsleiter.
Die grosse Frage ist: Hat Vivian Biner seine Frau – illegalerweise – bevorzugt?
Regierungsrat Ernst Landolt sagt stets: Nein. Und er hat ein gutes Argument. Die Vorwürfe gegen Biner stammen zum grössten Teil von ehemaligen Kursanbietern, die nicht mehr berücksichtigt wurden. Sie waren direkte Konkurrenten von Andrea Biner, und jetzt sind sie wütend, dass sie keine Aufträge mehr erhalten. Sie haben ein klares Motiv: Rache.
Die AZ hat mit einer Handvoll dieser ehemaligen Kursanbieter gesprochen. Tatsächlich sind sie teilweise wütend (teilweise auch gleichgültig), doch erzählen die meisten von ihnen sachlich, was ihnen passiert sei. Und obwohl sie sich untereinander in den meisten Fällen nicht kennen, erzählen sie allesamt von ähnlichen Erfahrungen: Man habe ihnen nicht schlüssig erklären können, warum man ihre Kurse nicht mehr wolle.
Wenn an den Vorwürfen nichts dran ist, warum häuft sich dann die Kritik dermassen?
Zwei der ehemaligen Kursanbieter sind Thomas Plieninger und Joachim Bögli, Geschäftsführer der Bögli ICT AG, die für das Arbeitsamt jahrelang Computerkurse ausgerichtet hatte, bevor die SBAW übernahm. Plieninger und Bögli haben die Strafanzeige gegen Vivian Biner eingereicht, eine mimutiös ausgearbeitete, 43-seitige Schrift mit diversen Beweisen und Namen von Zeugen, die zu befragen seien. Die Strafanzeige liegt der AZ vor. Die Vorwürfe sind durchaus plausibel. So wird etwa hergeleitet, dass die Kurse der SBAW markant teurer waren als die der Konkurrenz. Plieninger und Bögli zeigen auf, dass eine Mitarbeitende des RAV gleichzeitig bei der SBAW als Dozentin tätig war. Sie leiten her, wie die SBAW über die Jahre das Kursangebot ausbaute, während andere Anbieter abbauen mussten oder ihre Aufträge ganz verloren.
Plieninger hat selber protifitert
Thomas Plieninger von der Bögli ICT AG ist der grösste Kritiker von Arbeitsamts-Leiter Vivian Biner. Er hat Strafanzeige eingereicht, die zu den aktuellen Ermittlungen geführt hat. Ohne Zweifel ist er auf einer Mission: er will den Filz zwischen Herrn und Frau Biner entlarven.
Ironie der Geschichte: Thomas Plieninger hat von einer ähnlichen Konstellation selber jahrelang profitiert. Sein Vater, Walter Plieninger, war der Vorgänger von Vivian Biner als Leiter des Schaffhauser Arbeitsamtes. Sohn Plieninger hat jahrelang Computerkurse für Stellensuchende durchgeführt, die Vater Plieninger als Amtsleiter vergeben hat.
Plieninger Erklärt, er sei erst in die Firma Bögli eingestiegen, als diese bereits seit über vier Jahren Kurse fürs Arbeitsamt durchgeführt habe. Er sagt, das Preisniveau seiner Kurse sei stets sehr fair und im Vergleich zur SBAW sehr tief gewesen.
Die Staatsanwaltschaft findet Plieningers Argumentation offenbar weniger plausibel. Jedenfalls hat sie – ohne die von Plieninger vorgebrachten Zeugen zu befragen – angekündigt, das Verfahren einzustellen. Ernst Landolt sagt stets, gewisse Kurse seien nicht mehr durchgeführt worden, weil die Anbieter sich dem Wandel der Zeit nicht angepasst hätten. Die Nachfrage sei zurückgegangen.
Spricht man mit ehemaligen Arbeitsamts-Insidern, wird aber klar, dass die «Nachfrage» kein absoluter Begriff ist. Die Nachfrage, so der Tenor, sei von Vivian Biner gesteuert worden. Die einen beschreiben, wie er mit der subtilen Autorität seines Amtes die Kurse seiner Frau Andrea Biner intern besser positioniert habe als die Kurse der Konkurrenz. Frau Ammann aber, die sich das Beschaffungswesen genau angeschaut hat, sagt, Amtsleiter Biner habe den ausführenden Stellen Quoten gegeben, wie viele Stellensuchende sie in welchem Monat in welchen Kurs schicken dürfen. So habe er die «Nachfrage» explizit steuern können – und missliebigen Anbietern daraufhin kündigen.
«Alles richtig gemacht»
Regierungsrat Ernst Landolt sagt, zu «anonymen Vorwürfen» könne er keine Stellung beziehen, obwohl er natürlich genau weiss, wer die Fachspezialistin ist, die das Arbeitsamt damals eingestellt hat. Vivian Biner nimmt mit Verweis auf das laufende Strafverfahren ebenfalls keine Stellung. Seine Frau Andrea Biner lässt Gesprächsanfragen unbeantwortet.
Bleibt die Frage, was nun weiter passiert. Vor einer Woche erschien im SRF erneut ein Beitrag, in dem Plieninger und auch Frau Ammann Vorwürfe äusserten. Ernst Landolt liess sich dazu mit Hinweis auf das laufende Verfahren nicht vernehmen.
Stattdessen nahm er in den Schaffhauser Nachrichten, die selber nicht zum Fall recherchierten, am Tag darauf Stellung und sagte, die Vorwürfe seien haltlos und eine Diskreditierungskampagne gegen den Chef des Arbeitsamts. «Ich bin zu 100 Prozent überzeugt, dass wir alles richtig gemacht haben. Wir haben das bereits abklären lassen, als wir Vivian Biner damals einstellten.»
Für Landolt ist die Sache seit 2008 geklärt – was seither geschah, ist offenbar nicht mehr relevant. Verwundern kann das nicht, geht es ja um Gelder des Bundes, nicht um Gelder des Kantons. Das Seco hat angekündigt, den Überprüfungsrhythmus des Schaffhauser Arbeitsamtes von fünf auf drei Jahre zu verkürzen. Mehr wird es nicht tun.
Es scheint, als würde auch dieser Sturm an Vivian Biner vorbeiziehen.