Reagieren statt agieren

18. Dezember 2020, Jimmy Sauter
Als der Bund den Tarif vorgab, waren die Einschränkungen einheitlich und klar.
Als der Bund den Tarif vorgab, waren die Einschränkungen einheitlich und klar.

Jetzt schliessen auch die Schulen: Wie die Schaffhauser Politik der Ausbreitung des Coronavirus zugeschaut hat – bis zum allerletzten Moment. Eine kritische Bilanz.

Die Schaffhauser Coronastrategie erinnert an eine Salamitaktik. Scheibchenweise wird ein Stück unserer Freiheiten und Rechte abgeschnitten, bis am Ende dann doch alles weg ist. Übersetzt: Bis am Schluss sogar die Schulen wieder geschlossen werden.

Ende dieser Woche wird es erneut so weit sein. Am Freitag werden die Schaffhauser Schülerinnen und Schüler zum letzten Mal im Jahr 2020 ein Schulhaus betreten. Das gab der Regierungsrat diese Woche bekannt.

Damit ist auch klar: Schaffhausen ist nun praktisch wieder dort, wo man im Frühling einst war. Zum grossen Lockdown fehlt nicht mehr viel.

Wie konnte es dazu kommen? Ein Rückblick auf die Schaffhauser Coronazahlen zeigt: Entscheidend verschlafen hat die Politik die Eindämmung des Virus im Oktober. Doch beginnen wir zuerst im Frühling.

Schwache erste Welle

Im März ist vieles unbekannt. So wird Daniel «Mr. Corona» Koch zu Beginn der Pandemie gefragt, ob man die Post noch anfassen solle. «Ja, das kann man, das Virus wird nicht über die Post und Briefe verschickt», meint Koch, ohne mit der Wimper zu zucken, in einer der zahlreichen Sondersendungen des SRF.

Zusammen mit Bundesrat Berset gibt Koch den Tarif vor. Bisweilen fragwürdig (wir erinnern uns an die Maskendiskussion), aber die Einschränkungen sind aus heutiger Perspektive klar und schweizweit einheitlich. Corona ist Chefsache. Ausserdem zeigt man sich lange solidarisch. In Schaffhausen muckt niemand auf, als man die Massnahmen an den hohen Zahlen im Tessin und in der Westschweiz ausrichtet.

Die meisten Coronafälle der ersten Welle werden in Schaffhausen am 20. März registriert, vier Tage nach der Ausrufung der «ausserordentlichen Lage»: Es sind 13. «Die grosse Welle ist noch nicht bei uns angelangt», konstatiert Gesundheitsdirektor Walter Vogelsanger am 24. März an einer Pressekonferenz. Sie wird auch nicht mehr kommen. Zumindest nicht bis im Herbst.

Auch die Lage im Kantonsspital ist damals noch entspannter. Es gibt sogar genügend freie Kapazitäten, so dass zwei Patienten aus dem Elsass aufgenommen werden können.

Harte zweite Welle

Nach einer Sommerpause mit sehr tiefen Fallzahlen werden per Anfang Oktober die Regeln noch gelockert. Am 4. Oktober schauen sich 1047 Personen das Fussballspiel zwischen dem FC Schaffhausen und Stade Lausanne Ouchy im Stadion im Herblingertal an. Gleichzeitig allerdings verschärft sich die Lage wieder, die Fallzahlen steigen just in diesem Moment.

Einen unmissverständlichen Warnhinweis, dass die zweite Welle auch nach Schaffhausen kommen wird, gibt es am Donnerstag, 8. Oktober, mitten in den Herbstferien. In Schaffhausen werden zehn positive Fälle registriert, so viele wie seit dem 20. März nicht mehr. Allerdings: Noch am darauffolgenden Wochenende kann man in den Clubs feiern, was auch getan wird.

Die steigenden Zahlen bleiben auf der Führungsebene aber nicht unbemerkt. Am Montag, 12. Oktober, wird reagiert. Der Kanton gibt bekannt: «Aufgrund der zunehmenden Covid-19-Infektionen in den letzten sieben Tagen ist damit zu rechnen, dass die Fallzahlen in den kommenden Tagen weiterhin ansteigen. Um sicherzustellen, dass das Contact Tracing trotz dieser Zunahme an Fällen aufrechterhalten bleibt, wird das bestehende Contact-Tracing-Team ab heute von zusätzlich zehn Zivilschutzdienstleistenden unterstützt.» Einen Tag später beschliesst der Regierungsrat eine Maskenpflicht in Läden. Sie gilt ab dem 16. Oktober.

Strengere Massnahmen schiebt die Regierung Mitte Oktober allerdings auf. Es ist – aus heutiger Sicht – vielleicht die folgenreichste Fehleinschätzung der ganzen Coronakrise.

Das Coronavirus in Schaffhausen: Entwicklung des Massnahmen-Regimes und der Fallzahlen

Am Freitag, 16. Oktober, werden in Schaffhausen 17 positive Fälle registriert. So viele wie noch nie. Genau an diesem Wochenende enden die Ferien. Die Schulglocken klingeln wieder, viele berufstätige Erwachsene kehren an ihren Arbeitsplatz zurück – und die Zahlen steigen. Alle paar Tage kommt es zu einem neuen Rekordwert. So auch am 20. Oktober, als die Zahl der Neuansteckungen auf 30 steigt. An gleichen Tag verschickt die Regierung eine Mitteilung: «Vorerst keine weitergehenden Massnahmen». Die Regierung verweist darauf, dass «Schaffhausen aktuell den tiefsten Wert aller Kantone» aufweist. Das Problem: Man vergleicht sich ausschliesslich mit schlechten Beispielen. So wird die eigene Lage schöner dargestellt, als sie eigentlich ist.

Drei Tage später zählt Schaffhausen schon 46 Coronafälle an einem einzigen Tag.

Unruhe in den Schulen

Mit dem rasanten Anstieg der Fallzahlen kommt Unruhe und Verwirrung auf, unter anderem in den Schulen. Die Gemeinde Thayngen, die aufgrund von zwei Coronafällen an einer Schule für die gesamte Oberstufe Fernunterricht anordnet, wird vom Kanton zurückgepfiffen. Die Schülerinnen und Schüler werden wieder ins Schulhaus geschickt. Kompetenzüberschreitung, heisst es. Gegenüber den Schaffhauser Nachrichten zeigt sich der Thaynger Gemeindepräsident Philippe Brühlmann konsterniert: «Wir gehen davon aus, dass der Kanton klare Richtlinien herausgeben wird, was wir als Schule in einem solchen Fall zu tun haben.»

Derweil steigen die Zahlen weiter an. Am 29. Oktober – neun Tage, nachdem die Regierung nichts beschlossen hatte – registriert Schaffhausen 54 Fälle. Nochmals ein neuer Rekord.

Wir halten fest: Seit dem ersten Warnhinweis am 8. Oktober bis zum 29. Oktober vergehen drei Wochen, in denen die Fallzahlen rasant zunehmen. Erst gegen Anfang November flacht die Kurve deutlich ab. Die Massnahmen wurden in dieser Zeit zwar verschärft, vermutlich aber zu spät und nicht stark genug. Zehn Kantone haben zu diesem Zeitpunkt strengere Regeln. Und in der Zwischenzeit hat längst der Bund wieder eingegriffen.

Die Parteien bleiben stumm

Aber nicht nur die Regierung bleibt Ende Oktober zögerlich, auch allen Schaffhauser Parteien scheint angesichts der Ausbreitung des Coronavirus nicht wirklich ein Rezept einzufallen. Alle kommen sie nach den Herbstferien wieder zusammen, im Kantonsrat, im Stadtparlament. Nicht eine Politikerin, nicht ein Politiker reicht einen Vorstoss ein, in dem strengere Massnahmen gefordert werden. Am 26. Oktober beispielsweise diskutiert der Kantonsrat über Solaranlagen, Jobsharing und Subventionen für die externe Kinderbetreuung.

Am 27. Oktober sagt Walter Vogelsanger in den SN: «Ich glaube, der Bund wird handeln.» Es ist das Eingeständnis, dass der föderalistische Weg gescheitert ist.

Der Bundesrat reagiert. Schon am 19. Oktober verordnet er eine Maskenpflicht in Läden, Banken, Kinos, Restaurants und Bahnhöfen inklusive Perrons. Schaffhausen war hier – zumindest, was die Läden angeht – drei Tage früher dran. Ausserdem werden spontane Menschenansammlungen von mehr als 15 Personen verboten. Gleichentags schauen aber noch 607 Personen den Match zwischen dem FCS und dem FC Aarau. Zehn Tage später, per 29. Oktober, werden die Massnahmen erneut verschärft, wieder vom Bundesrat: Clubs müssen dichtmachen. Die Regierung teilt dazu mit: «Der Regierungsrat sieht keine Notwendigkeit, über die Anordnungen des Bundes hinausgehende Massnahmen für den Kanton Schaffhausen festzulegen.» Es ist erneut eine Fehleinschätzung, wie sich später herausstellen wird. Denn die Massnahmen reichen nicht aus. Die Zahlen bleiben bis Anfang Dezember leicht ansteigend.

Am 19. November 2020 fragen die SN bei den Parteien, was sie von der Coronastrategie der Schaffhauser Regierung halten. Pfleger und SP-Kantonsrat Patrick Portmann sagt: «Mit der bisher eingeschlagenen Strategie verhält sich die Regierung zwar zurückhaltend, jedoch zielgerichtet.» SVP-Politiker Pentti Aellig meint: «Alleingänge bringen nichts. Insofern hat der Regierungsrat bisher keine schlechte Figur gemacht.» Einen Hauch von Kritik äussert einzig FDP-Mann Marcel Montanari: «Zu Beginn der zweiten Welle wurde einfach auf andere Kantone und den Bund gewartet. Da hätte ich mir mehr Engagement gewünscht.»

Kritisch äussert sich heute auch der Chef des Schaffhauser Gewerbeverbandes, Marcel Fringer. Seinen Freiheiten beraubt, sitzt er derzeit zusammen mit seiner Frau zuhause in Isolation. Beide wurden positiv getestet. Es gehe ihnen den Umständen entsprechend gut, sagt Fringer. Gleichzeitig sei ihm rätselhaft, wo sie sich angesteckt haben könnten. «Ich habe keine Ahnung. Wir haben immer eine Maske getragen.» Angesichts der konstant hohen Fallzahlen konstatiert Fringer nun: «Rückblickend hätte die Schaffhauser Regierung ein, zwei Wochen früher eingreifen müssen. Aber ich hätte womöglich gleich entschieden, wäre ich an ihrer Stelle.»

SP-Präsident Daniel Meyer ist gleicher Meinung, sieht das Hauptproblem aber nicht nur bei der Schaffhauser Regierung. «Wir haben gesehen, dass der Föderalismus bei der Bekämpfung einer solchen Pandemie an seine Grenzen stösst. Es macht keinen Sinn, wenn jeder Kanton auf sich schaut.»

Späte Einsicht

Anfang Dezember reagiert die Regierung dann doch noch. Per 6. Dezember werden Turnhallen, Hallenbäder, Tanzstudios, Fitness- und Wellnesszentren geschlossen. Auch das Casino auf dem Herrenacker, Museen, Kinos, Theater, Bowling- und Billardcenter sowie Erotikbetriebe werden dichtgemacht. Zu diesem Zeitpunkt haben nur die vier Westschweizer Kantone Genf, Jura, Neuenburg und Waadt ebenso harte Einschränkungen. Das geht aus dem sogenannten KOF Stringency-Plus Index der Zürcher ETH hervor. Die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH hat die Härte der Massnahmen in den verschiedenen Kantonen verglichen und in einem Index von 0 (keine Einschränkungen) bis 100 (kompletter Lockdown) gemessen.

An diesem 6. Dezember erreichen Schaffhausen sowie die erwähnten Kantone auf dieser Skala einen Wert von 64,2. Alle anderen Kantone, auch unsere Nachbarn Zürich und Thurgau, haben tiefere Werte im ETH-Index und sind demnach weniger streng. Generell hat es laut der ETH-Skala schweizweit seit dem Frühling keine entschiedeneren Massnahmen mehr gegeben.

Die KOF hat ausserdem berechnet, dass stärkere Massnahmen einen Einfluss haben: «In Kantonen mit restriktiveren Corona-Schutzmassnahmen sank die Reproduktionszahl im Oktober stärker als in anderen. Im November blieb sie auf tieferem Niveau.» Vor diesem Hintergrund lässt sich wohl ableiten: Hätte Schaffhausen Mitte Oktober entschlossener gehandelt, wären die Fallzahlen heute vermutlich tiefer.

Die Schulen – ein Hin und Her

Dazu kommt es im Oktober aber nicht. Und das hat Folgen: Im November erreicht das Virus mehrere Altersheime, Anfang dieses Monats muss das Kantonsspital Patientinnen und Patienten in ausserkantonale Spitäler verlegen, weil es selbst keinen Platz mehr hat. Auch die Todesfälle steigen.

Deshalb braucht es nun eine weitere Massnahme. Zu diesem Schluss ist diese Woche auch die Regierung gekommen: «Um die Corona-Fallzahlen vor den Feiertagen zu reduzieren und auch über die Feiertage gering zu halten, hat der Regierungsrat entschieden, die Schulen in der Weihnachtswoche zu schliessen.»

Schulzimmer geschlossen: Die Regierung schickt die Kinder früher in die Ferien.

Allerdings: Um diesen Entscheid ist hinter den Kulissen offenbar stark gerungen worden. Im ersten Anlauf sei sogar Fernunterricht vor Weihnachten abgelehnt worden. Das jedenfalls schreiben die Lehrpersonen des Schulhauses Alpenblick in einem Brief, den sie am Montag an die Medien geschickt haben.

Stadtschulratspräsident Christian Ulmer bestätigt noch am Wochenanfang gegenüber der AZ, dass über Fernunterricht an der Oberstufe diskutiert wurde, diese Option aber verworfen worden sei. Ulmer macht keinen Hehl daraus, dass er in dieser Frage zwei Herzen in der Brust trägt. «Als Privatperson bin ich der Meinung, dass wir angesichts der hohen Fallzahlen nun drei oder vier Wochen in einen Lockdown müssten, inklusive Schliessungen von Schulen und Kitas. Im Bildungsbereich aber herrscht schweizweit Konsens, dass die Volksschule zum Wohle der Kinder weiterhin stattfinden soll. Auch der Lehrerinnen- und Lehrerverband ist gegen Schulschliessungen. Ausserdem spielen die Schulen aus epidemiologischer Sicht kaum eine Rolle. Es gibt an den Schulen nur sehr wenige Fälle.»

Anders sehen das die Lehrpersonen vom Alpenblick. Sie schreiben in besagtem Brief: «Corona ist in der Schule angekommen. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass Jugendliche sehr wohl an Corona erkranken und/oder Corona weitergeben können. Mehrere Jugendliche und Lehrpersonen müssen wegen Corona zu Hause bleiben. Mehrere Klassen dürfen deshalb nur noch beschränkten Kontakt zu anderen Klassen haben.» Aus diesem Grund habe man darauf gedrängt, zumindest in der Oberstufe Fernunterricht einführen zu können.

Nun geht die Regierung sogar noch einen Schritt weiter und schliesst alle Schulen, vom Kindergarten bis zur Kanti. Ausserdem steht zur Debatte, Anfang Januar zwei Wochen Fernunterricht einzuführen. Noch vor Weihnachten soll ein Entscheid fallen.

Die Schliessung der Schulen ist eines der letzten Salamistücke, die die Regierung dem Coronavirus zum Frass vorwirft – und darauf hofft, dass es dann endlich satt ist.