Präventive Überwachung im rechtsfreien Raum

11. Dezember 2020, Mattias Greuter
Mit «Octagon» beurteilt die Polizei potenziell gefährliche Personen: Wenn jemand in mehreren Dimensionen auf «rot» gestuft wird, «ist in der Regel eine unmittelbare Interventionsnotwendigkeit gegeben». Herstellerbroschüre via octagon-intervention.ch
Mit «Octagon» beurteilt die Polizei potenziell gefährliche Personen: Wenn jemand in mehreren Dimensionen auf «rot» gestuft wird, «ist in der Regel eine unmittelbare Interventionsnotwendigkeit gegeben». Herstellerbroschüre via octagon-intervention.ch

Eine Studie zeigt: Auch die Schaffhauser Polizei arbeitet mit Tools für «Vorhersehende Polizeiarbeit». Und: Für das Bedrohungsmanagement fehlt die gesetzliche Grundlage.

Die Schaffhauser Polizei führt eine Datenbank von sogenannten «Gefährdern», stuft diese ein und überwacht sie. Dieses Bedrohungsmanagement wurde in Schaffhausen wie auch in anderen Kantonen unter dem Eindruck des Zuger Attentats von 2001 aufgebaut und soll Gewaltverbrechen verhindern, indem gewisse Anzeichen rechtzeitig erkannt und Hinweise zwischen Behörden ausgetauscht werden.

Das ist nicht neu: Seit 2011 arbeitet im Kanton Schaffhausen eine Arbeitsgruppe Bedrohungsmanagement, aufgebaut unter der Leitung des damaligen Polizeikommandanten Kurt Blöchlinger.

Neu sind die Erkenntnisse einer Recherche der «Republik» und einer Studie der Universität St. Gallen. Für Schaffhausen zeigen sie auf:

Erstens arbeitet der Kanton mit einem Tool für sogenanntes «Predictive Policing», vorhersagende Polizeiarbeit. Mit solchen Tools können Profile von «Gefährdern» erstellt werden und sie sollen den Entscheid für die richtige Massnahme erleichtern. Diese Systeme stehen in der Kritik, weil sie stark zur Überschätzung der Gefährlichkeit einer Person neigen.

Zweitens wäre für die Arbeit des Bedrohungsmanagements eine rechtliche Grundlage notwendig – die aber nicht existiert.

Gesetz gescheitert

Im Jahr 2017 wollte die Regierung das Polizeigesetz überarbeiten und – unter anderem – das Bedrohungsmanagement rechtlich untermauern – mit grosszügigen neuen Kompetenzen für die Polizei. Das neue Polizeigesetz scheiterte aus anderen Gründen letztlich bereits in der Vernehmlassung, ein neuer Entwurf lässt auf sich warten.

Aber: Nichtsdestrotrotz arbeitet das Schaffhauser Bedrohungsmanagement bereits, holt Informationen über «Gefährder» ein, erhebt Daten – auch mit einem Vorhersage-Tool Namens «Octagon» – und teilt sie mit anderen Behörden.

Einem «Gefährder» finanzierte Polizeikommandant Kurt Blöchlinger als Versuch einer Deeskalation eine Busse, eine Geldstrafe und geschuldete Gebühren in der Höhe von rund 11000 Franken aus der Polizeikasse (die AZ berichtete). Nach weiteren Ungereimtheiten musste Blöchlinger im Herbst 2018 plötzlich gehen, viel später legte die Finanzkontrolle die Beweise für Recherchen der AZ nach: Blöchlinger und seine Chefin, die damalige Finanzreferentin Rosmarie Widmer Gysel, hatten rund eine Million Franken ohne rechtliche Grundlage ausgegeben (AZ vom 22. August 2019).

Blöchlinger geht, das System bleibt

Das von Blöchlinger aufgebaute Bedrohungsmanagement aber blieb bestehen.

Ein neues Polizeigesetz, das den juristischen Unterbau bilden soll, gibt es aber weiterhin nicht. Präventive Überwachung und Fichierung ohne rechtliche Grundlage?

Das Finanzdepartement, dem die Polizei unterstellt ist, widerspricht. Es bestätigt zwar die Verwendung von «Octagon», einem Tool für «Predictive Policing», schreibt aber: «Die Annahme, es würde keine gesetzliche Grundlage geben, ist so nicht ganz korrekt.» Es gebe zwar keine «spezifischen für das Bedrohungsmanagement geltenden Regelungen, wie sie mit dem neuen Polizeigesetz geschaffen werden sollen», aber es gälten unter anderem das Datenschutzrecht sowie ein Reglement, das die Aufgaben der Arbeitsgruppe Bedrohungsmanagement konkretisiere. Das Reglement, welches das Finanzdepartement in seiner Antwort auf die Fragen der AZ mitschickt, zeigt auf, dass «Gefährder» überwacht werden können, Daten gesammelt und 20 Jahre lang aufbewahrt werden. Pikant: Die «Arbeitsgruppe Krisenmanagement» darf das Reglement, das ihre Tätigkeit bestimmt, selber anpassen. Verfasst und der Regierung nur «zur Kenntnis gebracht» hat es der ehemalige Polizeikommandant Kurt Blöchlinger.

Diese Grundlage reiche nicht aus, und das sei rechtsstaatlich betrachtet sehr problematisch, sagt Monika Simmler, Lehrbeauftragte für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen und Autorin der erwähnten Studie. Allein schon die Kategorisierung einer Person als «Gefährder» sei ein Eingriff in Grundrechte und bedürfte einer «expliziten rechtlichen Grundlage», also eines demokratisch legitimierten Gesetzes, sagt Simmler.

Das heisst: Der Kanton Schaffhausen hat ein System aufgebaut, mit dem Menschen schon vor einer befürchteten Straftat überwacht und fichiert werden – die rechtsstaatlichen Grundlagen führt man dann irgendwann im Nachhinein ein. Die Republik schreibt: In mehreren Kantonen, darunter Schaffhausen, werden Präventivmassnahmen bislang «im rechtsfreien Raum angewendet. Gefährder­datenbanken wurden ohne rechtliche Grundlage angelegt.»


Zuammenarbeit mit der Republik

Dieser Artikel entstand durch eine Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Republik. Wenn Sie genauer wissen wollen, was «Octagon» ist und wie uns Algorithmen zu Gefährderinnen und Gefährdern machen, empfehlen wir ihnen den ausführlichen Artikel von Adrienne Fichter und Florian Wüstholz.