«Es ist frustrierend»

5. Dezember 2020, Luca Miozzari
«Es ist frustrierend», sagt Walter Vogelsanger. Gelb: Die 14-Tage-Inzidenz der Neuansteckungen im Kanton Schaffhausen.
«Es ist frustrierend», sagt Walter Vogelsanger. Gelb: Die 14-Tage-Inzidenz der Neuansteckungen im Kanton Schaffhausen.

Gesundheitsdirektor Walter Vogelsanger sagt: Wir müssen uns an das Coronavirus gewöhnen.
Massnahmen stellt er keine in Aussicht.

«Im Frühling haben wir ja alle gesehen, was wirklich etwas bringt, um die Infektionsketten zu unterbrechen: ein Lockdown!»

Das sagte Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Walter Vogelsanger vor gut einem Monat in einem Interview mit den Schaffhauser Nachrichten. Die Strategie der Regierung schien klar: Abwarten, und wenn die Zahlen ansteigen, Massnahmen einleiten.

Passiert ist etwas anderes: Die Zahlen sind schweizweit gestiegen Und während die Neuansteckungen seit dem Peak Mitte November in fast allen Kantonen wieder sinken, stagnieren sie in Schaffhausen seit Wochen auf hohem Niveau. Die Altersheime vermelden Woche für Woche neue Todesfälle, das Spitalpersonal ist an seiner Belastungsgrenze angelangt. Von der Regierung hört man indes überraschend wenig. Ausser einer «Überprüfung der Schutzkonzepte» in den betroffenen Altersheimen wurden bisher keine Massnahmen kommuniziert.

Wir treffen Walter Vogelsanger in seinem Büro im Mühlental und stellen als Erstes die Frage, die uns am meisten unter den Nägeln brennt.

AZ Herr Vogelsanger, wie muss die Situation aussehen, damit aus Ihrer Sicht ein weiterer Lockdown nötig wird?

Walter Vogelsanger Nun, wir sind ja nicht alleine auf dieser Welt. Wir sind von Nachbarkantonen und Nachbarländern umgeben. Sollte sich herausstellen, dass wir sehr viel höhere Zahlen haben als unsere Nachbarn, dann wäre für mich der Punkt erreicht. Dann müsste der Kanton eigene Massnahmen ergreifen.

Ist diese Situation nicht bereits eingetreten? Derzeit verbreitet sich das Virus in Schaffhausen schneller als im Durchschnitt der anderen Kantone.

Das ist wie an der Börse. Wenn man Tag für Tag die Zahlen anschaut, gibt es starke Schwankungen. An einem Tag gehen die Zahlen runter, man schöpft Hoffnung, dann gehen sie wieder rauf und man ist enttäuscht. Wir in der Regierung schauen vor allem auf die 14-Tage-Inzidenz und die Fallzahlen der vergangenen Woche.

Die Strategie der Regierung richtet sich also primär nach diesen beiden Werten?

Nein, es fliessen auch noch andere Kriterien ein, etwa die Positivitätsrate der Tests und vor allem auch die Situation in den Spitälern und Heimen.

14-Tage-Inzidenz der Neuansteckungen: Der Kanton Schaffhausen hat seine Nachbarkantone und den Schweizer Durchschnitt überholt. (Grafik: Lagebericht des Kantons vom 1. Dezember 2020)

Sie sagen: Wenn wir höhere Zahlen haben als unsere Umgebung, dann müssen wir Massnahmen ergreifen. Auf welche Zahl bezieht sich diese Aussage?

Das lässt sich nicht auf einen einzelnen Wert herunterbrennen. Ich erinnere mich an den Anfang der Pandemie, als wir gebannt auf den ersten bestätigten Corona-Fall warteten. Heute haben wir bis zu 50 pro Tag, und wenn es nur einen gäbe, wären wir alle entspannt. Man gewöhnt sich schnell an neue Situationen und deswegen würden wir uns unnötig einschränken, wenn wir von einer absoluten Zahl sprechen würden. Es ist ein dynamischer Prozess und wir müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen.

Wie meinen Sie das? Müssen die Schaffhauser sich jetzt einfach an die hohen Fallzahlen gewöhnen?

Das Coronavirus ist eine Tatsache und an diese Tatsache müssen wir uns gewöhnen. Neben all den anderen Krankheiten, Norovirus oder Grippe zum Beispiel, haben wir jetzt halt noch eine zusätzliche. Das ist eine Geissel der Menschheit, wenn man so will, und damit müssen wir jetzt leben.

Worauf fusst die Strategie des Regierungsrates?

Wir haben ein Covid-Team, das die Lage für uns analysiert und mit mir vorbespricht. Die Regierung nimmt dann im Plenum die politische Wertung dieser Daten vor.

Wer sitzt in diesem Covid-Team?

Dem Covid-Team gehören diverse Leute an. Unter anderem die Kantonsärztin ad interim, Elke Lenz Agnes, daneben Michael Vetter, ebenfalls Arzt, Anna Sax, die Leiterin des Gesundheitsamtes, Matthias Bänziger, der das Amt für Bevölkerungsschutz und Armee leitet, und Laura Gialluca vom Contact Tracing.

Verfügt die Regierung, neben der Statistik, welche das Covid-Team liefert, auch über wissenschaftliche Beratung, zum Beispiel im Bereich Virologie?

Ich habe keinen Wissenschaftler angestellt, der mich berät und sagt, was zu tun ist. Es gibt aber einen regen überregionalen Austausch auf verschiedenen Ebenen. Wir sind mit dem Bund in Kontakt, die Kantonsärztin bespricht sich wöchentlich mit der Konferenz der Kantonsärzte, ich tausche mich sowohl mit der Schweizerischen Konferenz der Gesundheitsdirektoren als auch mit der Konferenz der Gesundheitsdirektoren Ost aus. Es existieren `zig Gremien, in denen man auch die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse diskutiert.

Die AZ berichtet diese Woche über eine Frau, bei der das Contact Tracing offenbar überhaupt nicht funktioniert hat. Von Vorfällen dieser Art hört man zurzeit häufig. Funktioniert das Contact Tracing wirklich so «reibungslos», wie Sie sagen?

Das Contact Tracing ist auf die Erreichbarkeit und Auskunftsfreudigkeit der Betroffenen angewiesen. Und selbstverständlich passieren auch Fehler, das ist bei einer Zahl von täglich über 200 Anrufen unvermeidlich. Mit der Aussage, dass das Contact Tracing funktioniere, meine ich primär, dass wir bisher nie «aufgeben» mussten, weil wir nicht mehr hinterherkamen. Dass Infizierte selbst ihre Kontakte informieren oder tagelang warten müssen, wie man es aus anderen Kantonen hört, ist in Schaffhausen nie passiert. Wir haben genügend Personal und können praktisch alle Fälle innerhalb von 24 Stunden abschliessen.

«Im Altersheim sterben Menschen auch in ‹normalen› Zeiten.»

Walter Vogelsanger

Derzeit sind die Alters- und Pflegeheime stark im öffentlichen Fokus. Die Fallzahlen unter den Bewohnerinnen und Mitarbeitenden häufen sich, ein grosser Teil der Todesfälle mit Corona der vergangenen Wochen ereigneten sich in den Heimen. Was ist da aus Ihrer Sicht falsch gelaufen?

Ich weiss nicht, ob man sagen kann, dass etwas falsch gelaufen ist. Die Frage ist: Wie können wir uns verbessern und die Ansteckungszahlen in den Heimen verringern? Die Heimleitungen sind dabei, zusammen mit dem Hygienespezialisten des Kantonsspitals Workshops durchzuführen, um Schwachstellen zu entdecken und Ansteckungsquellen zu eliminieren. Aber man muss auch sehen: Im Altersheim, im Übrigen auch im Spital, sterben Menschen, auch in «normalen» Zeiten.

Aber wohl nicht so viele aufs Mal.

Das ist wohl richtig. Ich denke jedoch, eine Grippewelle könnte zu einer ähnlichen Anzahl von Todesfällen führen.

Walter Vogelsanger: «Ich denke, eine Grippewelle könnte zu einer ähnlichen Anzahl von Todesfällen führen.»
Walter Vogelsanger: «Ich denke, eine Grippewelle könnte zu einer ähnlichen Anzahl von Todesfällen führen.»

Die Sterblichkeit von Covid-19 ist allerdings um ein Vielfaches höher als die einer Grippe.

Das stimmt. Es trifft alte Menschen besonders schwer und das bedrückt mich.

Gemäss Daniel Gysin, Bereichsleiter Alter bei Curaviva, kam es nicht überraschend, dass sich bei steigenden Fallzahlen in der Bevölkerung auch Altersheimbewohner, besonders Menschen mit Demenz, anstecken. Hätte die Politik, namentlich der Regierungsrat, nicht früher eingreifen müssen, um Bewohner und Mitarbeitende zu schützen?

Dass das Virus in die Heime eingedrungen ist, hat mit dem gestiegenen Infektionsdruck aus der Bevölkerung zu tun. Gefordert sind dann vor allem die Heimleitungen, denn die Heime sind ja die eigentlichen Spezialisten im Umgang mit Viren. Sie müssen zum Beispiel auch mit Noro- und Grippeviren fertig werden und haben diese Erfahrung in ihre Schutzkonzepte einfliessen lassen.

Als die ersten Fälle in den Altersheimen Kirchhofplatz und Schleitheim auftraten, war klar, dass diese Schutzkonzepte zumindest in einzelnen Heimen offenbar nicht ausreichen. Hätte die erwähnte Überprüfung durch den Spitalhygieniker nicht gleich dann erfolgen müssen und nicht erst drei Wochen später?

Ich bin der Ansicht, dass wir schnell reagiert haben. Nach den ersten Ausbrüchen habe ich mich sofort mit den Heimleitungen zusammengesetzt und einen Dialog gestartet. Dass wir nicht laufend alles kommunizieren können, was wir machen, hat auch damit zu tun, dass wir die Bevölkerung nicht verunsichern wollen.

Derzeit erreichen uns viele Wortmeldungen und Leserbriefe von Schaffhauserinnen, die sich von der Regierung alleine gelassen fühlen. Können Sie das nachvollziehen?

Das Postfach der AZ-Redaktion als Stimmungsbarometer zu verwenden, finde ich etwas schwierig. Ich bekomme auch viele persönliche E-Mails, und diese reichen von konstruktiver Kritik bis hin zu Links auf Seiten von Corona-Skeptikern. Dass sich gewisse Menschen nicht abgeholt oder alleingelassen fühlen, bezweifle ich nicht. Das ist in dieser Situation kaum zu vermeiden.

«Es gibt wenig zu sagen, weil sich nichts verändert.»

Walter Vogelsanger

Kürzlich sagten Sie an einer Pressekonferenz, Sie seien «verärgert» über die hohen Fallzahlen. Das klingt, als wären Sie als Regierungsrat wütend auf die Bevölkerung.

Ich bin verärgert, weil die Fallzahlen in Schaffhausen nicht sinken. Zu dieser Aussage, die zugegebenermassen emotional war, stehe ich.

Im selben Satz kündigten Sie weitere Massnahmen an, falls sich die Situation nicht «innert sehr kurzer Zeit» verbessere. Die Situation hat sich nicht verbessert. Heisst das, es kommen Massnahmen?

Das werden wir noch sehen. Wir möchten Massnahmen dort treffen, wo wir wissen, dass sie einen Nutzen bringen.

Wäre es nicht konsequent und transparent, wenn solche Ankündigungen an eine konkrete Zahl gebunden wären?

In kleinen Kantonen ist das schwierig, weil bereits geringfügige Veränderungen einen grossen Ausschlag ergeben können. In einer grösseren Population, zum Beispiel der Gesamtschweiz, könnte das Sinn machen. Aber einen ganzen Kanton wegen eines lokal beschränkten Ansteckungsherdes in einen Lockdown zu schicken, wäre unverhältnismässig.

Wäre es Ihnen lieber gewesen, der Bund hätte das Szepter nach dem Ausnahmezustand gleich behalten, statt den Kantonen wieder mehr Entscheidungshoheit zu geben?

Nein, ich finde es gut, dass der Bund Grundregeln vorgibt, aber es muss auch die Möglichkeit geben, regional auf die Situation zu reagieren.

Wir nehmen wahr, dass viele die öffentliche Präsenz der Regierung vermissen.

Das ist ein wichtiger Punkt, zu dem ich mir oft Gedanken mache. Und darüber diskutieren wir auch regelmässig innerhalb der Regierung. Es gibt wenig zu sagen, weil sich nichts verändert. Seit Wochen erwarten wir eine Verbesserung der Lage, aber es tut sich nichts. Das ist frustrierend.

Der Regierungsrat hat den Vernehmlassungsvorschlag des Bundesrates mit Regeln für die Festtage gutgeheissen. Welche Empfehlungen können Sie der Schaffhauser Bevölkerung geben, wie sie sich über die Festtage verhalten soll?

Ich kann sagen, wie meine Familie und ich es machen: An Weihnachten gehen wir zu siebt in den Begginger Wald zum «Bräteln». Meine Empfehlung lautet: Haltet es klein und seid kreativ.