Zu spät bezahlte Löhne und unbezahlte Nachtarbeit: Eine Pflegehelferin zieht ihren ehemaligen Chef vor Gericht – mit Erfolg.
Ihre Geschichte ist kein Einzelfall.
«Und dann hiess es: Wer nicht einverstanden ist, kann die Kündigung einreichen.»
Monika Färber, die eigentlich anders heisst, sitzt in einem Verhandlungssaal und beantwortet die Fragen des Richters. Sie war nicht einverstanden, hat aber erst viel später gekündigt. Dann zog sie vor Gericht, um den Lohn für nicht bezahlte Nachtdienste einzufordern: 9000 Franken.
Im Februar 2017 tritt Färber eine Stelle bei Hand in Hand Spira an, einer kleinen privaten Institution für betreutes Wohnen in Hemmental. Fünf bis sechs Patientinnen und Patienten leben in einer Villa, die der Chef und die Chefin auch selbst bewohnen. Färber wird als Pflegehelferin eingestellt, 80 Prozent, Stundenlohn 25 Franken. «Eigentlich», sagt sie rückblickend, «wäre es ein schöner Arbeitsort. Das Problem ist die Leitung.»
Drei Monate später, Färber ist gerade nicht im Dienst, erscheint eine Delegation der Gewerkschaften Unia und VPOD bei der Villa und zeigt Heimleiter Claus Heuscher eine übergrosse rote Karte. Mehrere Angestellte hatten sich über zurückbehaltene Lohnbestandteile und zu spät bezahlte Löhne beklagt. Heuscher wies die Vorwürfe damals zurück und beantwortete die Fragen der AZ (Ausgabe vom 18. Mai 2017) nicht.
Heute sagt Monika Färber in Übereinstimmung mit mehreren weiteren ehemaligen Angestellten: Es ging genau gleich weiter.
«Man konnte sich auf nichts verlassen», erzählt Färber einige Tage nach ihrem Gerichtstermin: Ständig gab es kurzfristige Änderungen im Arbeitsplan, und sehr oft kam der Lohn nicht rechtzeitig oder nur tranchenweise. «Jeden Franken musste ich kontrollieren», ärgert sie sich.
Pro Nacht sechs Stunden ohne Lohn
Im Sommer 2017 erklärten der Chef und die Chefin – Heuschers Frau Evelyn Spira ist Firmeninhaberin und leitet die Pflege – an einer Teamsitzung das neue Regime für das Nachtpikett.
Alle Pflegenden sollten pro Monat fünf Nachtdienste machen. Das bedeutete: Sie mussten die Bewohnerinnen zwischen 19 und 21 Uhr zu Bett bringen, leisteten anschliessend Nachtpikett und danach den zweistündigen Frühdienst von 7 bis 9 Uhr. Für die Zeit zwischen 21 und 7 Uhr – zehn Stunden Pikett – wurden nur vier Stunden als Arbeitszeit berechnet.
Mit anderen Worten: Die Schicht dauerte 14 Stunden, bezahlt wurden aber nur acht Stunden, und dies ohne Nachtzuschlag.
Denn, so die Begründung, während des Piketts dürfe geschlafen werden. «Sind nachts Einsätze nötig, werden die mit einem Zuschlag bezahlt und aufs Zeitkonto gutgeschrieben. Es gilt: Keine Kontrollgänge, keine unnötigen Arbeiten erledigen wie z.B. Fenster auf und zu (machen). Bewohnerin X (von der Redaktion anonymisiert) wird nicht zum WC begleitet etc.» – so hielt ein Informationsschreiben das neue Regime fest.
Im Klartext: Während der Nacht wird möglichst nicht gearbeitet, damit keine zusätzliche Arbeitszeit mit Zuschlag anfällt. «Von allen Angestellten wird dies erwartet!», schliesst das Informationsschreiben. An der Teamsitzung sagte Evelyn Spira laut Monika Färber: «Wer nicht einverstanden ist, kann die Kündigung einreichen.»
Noch aber hatte Monika Färber Geduld. Noch fast ein Jahr lang.
9000 Franken fehlten
Heute sitzt Monika Färber an ihrem Stubentisch, vor ihr zwei Ordner mit Arbeitsplänen, Stundenabrechnungen und Gerichtsakten. Sie hat irgendwann im Arbeitsgesetz geblättert und sich bei der Heimleitung erkundigt, ob man ihr das Nachtpikett nicht vollumfänglich bezahlen müsse, anstatt nur vier von zehn Stunden zu vergüten. «Es hiess: Nein, dafür gibt es eine Sonderregelung.» Färber fragte einen Anwalt und ihre Rechtsschutzversicherung, und diese sagten: Das ist illegal.
Im April 2018 erhielt Monika Färber einen Arbeitsplan, auf dem für den Juli ganze elf dieser Nachtdienste eingetragen waren. Im Vorfeld sagte sie dem Team und dem Chef mehrmals, sie könne unmöglich elf Nachtdienste leisten, doch die Pläne wurden nicht geändert. Am 2. Juli ging Färber nach Hause und reichte die fristlose Kündigung ein.
Sie nahm sich einen Anwalt und listete die nicht bezahlten Nachtschichten auf: 48 Nächte, 288 Stunden, mit Nachtzuschlag genau 9000 Franken. Eine noch geschuldete Gratifikation zahlte Heuscher nach einem deutlichen Schreiben des Anwalts, doch die Nachtdienste sah er sich nicht zu zahlen verpflichtet. Vor dem Friedensrichter kam keine Einigung zustande, und Färber zog vor Gericht.
Vier weitere Fälle
Was Monika Färber erlebt hat, ist kein Einzelfall. Eine andere ehemalige Angestellte erzählt, auch sie habe den Lohn fast immer zu spät und oft in Tranchen erhalten. Sie leistete ebenfalls den beschriebenen Nachtdienst, der nur teilweise bezahlt wurde. Weil sie im Gegensatz zu Monika Färber keine Rechtsschutzversicherung hat, ging sie nicht dagegen vor. Sie verliess Hand in Hand Spira, nachdem sie, im Stundenlohn angestellt, entgegen einer schriftlichen Vereinbarung plötzlich überhaupt keine Einsätze mehr erhielt.
Einer anderen Pflegehilfe versuchte Heuscher in der dritten Woche ihrer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zu kündigen – was illegal wäre. Sie wehrte sich und konnte dank ihrer Rechtsschutzversicherung die Kündigung aufschieben, ausserdem erreichte ihr Anwalt die Zahlung von geschuldeten Nichtberufsunfall-Beiträgen und eines Anteils des 13. Monatslohns, den Heuscher zurückbehalten hatte.
Einer weiteren ehemalige Angestellten wollte Heuscher den Urlaub streichen, der am nächsten Tag begonnen hätte. Sie einigte sich mit Heuscher auf Auflösung des Arbeitsvertrags. Ihr Anwalt, erzählt sie, habe ihr mit Hinweis auf die Bonität von Claus Heuscher geraten, den Lohn für die nicht bezahlte Nachtarbeit nicht einzufordern. Zu guter Letzt weiss die AZ von einer vierten Pflegekraft, die sich über ausstehende Lohnforderungen aussergerichtlich mit Hand in Hand Spira geeinigt hat.
Patrick Portmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft VPOD und selbst Pflegefachmann, kennt solche Erzählungen zur Genüge. Er ist mit mehreren ehemaligen Angestellten von Hand in Hand Spira im Kontakt und sagt: «Seit mehreren Jahren melden sich Angestellte und ehemalige Angestellte bei uns. Die Storys sind oft identisch und die Verhältnisse für Angestellte eigentlich untragbar.» Das Ergebnis sei eine hohe Personalfluktuation, von der auch ehemalige Angestellte erzählen.
Einigung vor Gericht
Am 10. November 2020 trifft Monika Färber ihren ehemaligen Chef im Gerichtssaal 2 des Schaffhauser Kantonsgerichts wieder. Ihr Anwalt führt geduldig eine Selbstverständlichkeit aus: Geleistete Arbeit muss bezahlt werden.
Der Anwalt von Claus Heuscher hält dagegen: Blosser Bereitschaftsdienst könne deutlich reduziert entlöhnt werden. Genau dies, nämlich die Bezahlung von vier statt zehn Stunden während der Nacht, hätten Arbeitgeber und Arbeitnehmerin an besagter Teamsitzung vereinbart.
Aber: Weder Monika Färber noch die anderen Mitarbeitenden haben etwas unterschrieben. Ihr Anwalt erklärte deshalb, von einer Vereinbarung könne keine Rede sein. Das erwähnte Informationsschreiben bekamen die Angestellten nicht einmal zugestellt: Es wurde lediglich am Arbeitsort aufgelegt, Färber hat es mit ihrem Smartphone fotografiert und später beim Gericht eingereicht.
Der Anwalt von Claus Heuscher zieht auch in Zweifel, dass Färber tatsächlich 48 Nachtdienste geleistet habe, die von ihr eingereichte Liste stimme nicht mit der Zeitabrechnung überein. Perfid: Wie der AZ vorliegende Unterlagen zeigen, wurden die Angestellten angewiesen, für die beschriebenen 14-Stunden-Schichten nur 8 Stunden ins System einzutragen, weshalb jetzt nicht alle Ansprüche beweisbar sind.
Ersatzrichter Philipp Zumbühl hat nur wenige Fragen, nachdem sich die Plädoyers erschöpft haben. Dann sagt er, das Gericht ziehe sich zurück, im Anschluss könne über einen Vergleich verhandelt werden. Claus Heuscher und sein Anwalt wollen die Presse bei diesen Verhandlungen nicht dabei haben.
Das Ergebnis liegt der AZ jedoch vor, die Parteien haben sich auf einen Vergleich geeinigt. Man trifft sich in der Mitte: Die Firma Hand in Hand Spira anerkennt die Forderung von Monika Färber im Umfang von 4500 Franken, genau die Hälfte dessen, was Färber forderte.
Claus Heuscher verzichtet auf eine Stellungnahme zu den ihm zugestellten Vorwürfen und hat Fragen der AZ dazu erneut nicht beantwortet.
Monika Färber weiss nicht so recht, ob ihr das Ergebnis gefällt. Eigentlich, sagt sie, stehen ihr 9000 Franken zu. Hätte sie mehr erhalten, wenn sie den Prozess durchgezogen oder mehr verlangt hätte? Das Gericht habe zuerst 6000 Franken vorgeschlagen, doch Heuscher ging nicht darauf ein. Mit dem Kompromissvorschlag, der genau der Hälfte ihrer Forderung entspricht, erklärte sie sich einverstanden, um das Ganze hinter sich zu bringen.
«Ich bin froh, dass ich damit nichts mehr zu tun habe», sagt sie. Lange blieb Monika Färber nicht arbeitslos, gerade in diesen Tagen tritt sie einen neuen Pflegejob in Teilzeit an, auf den sie sich sehr freut. Und während des Besuchs der AZ klingelt mehrmals das Telefon mit weiteren Stellenangeboten: Erfahrene Pflegekräfte sind gesucht. Nochmals sagt sie: «Eigentlich war es ja schön in Hemmental, wir waren ein gutes Team. Aber unter dieser Leitung kann man dort nicht arbeiten.»