Corona-Leugner: Am Samstag wandelten zehn Zombies durch die Innenstadt. Eine Botschafterin des Todes bediente die Kamera. Was zur Hölle war da los? Eine wirre Spurensuche im Internet.
Montagabend, 9. November 2020, mein Sofa:
Das Video auf der Corona-Leugner-Plattform ProtestMedia hat 149 Likes. 1949-mal wurde es aufgerufen. Dutzende haben es kommentiert. Doch nach 57 Minuten und 10 Sekunden beschleicht mich der böse Verdacht, dass ich wohl der Einzige bin, der sich diese Absurdität tatsächlich in ihrer Ganzheit reingezogen hat.
Samstagmorgen, 7. November 2020, Schaffhausen:
Wer auf dem Wochenmarkt in der Vordergasse einkauft oder über den Fronwagplatz schlendert, bemerkt vielleicht einen apokalyptischen Klangteppich, der langsam durch die Altstadt schwebt. Die Musik stammt aus einem Lautsprecher. Einer von zehn Vermummten, die nun wortlos in Zweierkolonnen mit Spruchtafeln durch die Gassen wandeln, trägt ihn unter dem weissen Overall. Die Passantinnen recken ihre Hälse. Was ist da los? Eine Performance, keine Frage. Doch ist das Kunst oder Klamauk? Oder noch schlimmer: eine Kundgebung?
Eine halbe Stunde zuvor, hinter dem Bachschulhaus:
Ein gutes Dutzend Frauen und Männer verschiedenen Alters hat sich versammelt. Zwischen ihnen schlummert ein Baby im Kinderwagen. «Hender no Chläberli?», fragt ein Mann. «Bisch du scho am Überträge?», fragt eine Frau. Minutenlang versuchen sie, ihre Schilder zu richten, zupfen an ihren Overalls herum, eine Handkamera fliegt durch die Menge wie ein nervöses Insekt. Die Gruppe scheint wenig Routine zu haben, doch sie hat einen Namen: die weisse Wahrheit.
1. Mai 2013, der Youtube-Kanal Empirische Jenseitsforschung:
Eine knapp 40-jährige Frau mit kurzen Haaren und einem Amulett um den Hals erzählt einem älteren Herrn im Anzug von ihrer Nahtoderfahrung. Wir wollen sie Frau B. nennen.
Der Betreiber des Kanals mit 33 400 Abonnenten sagt: «Es gibt Indizienbeweise, die ein Leben nach dem Tod belegen.» Das Jenseits sei «eine reale Welt in einer feinstofflichen Form». Und da im Jenseits alles nach Gesetzmässigkeiten ablaufe, könne man das Jenseits auch erforschen.
Frau B. erzählt ihm, wie sie während einer Wanderung den Ellbogen ausgekugelt habe und daraufhin ihre Seele aus dem Körper gefahren sei. In der Zwischenzeit scheint die Seele zurückgekehrt zu sein, die Frau ist vollends beseelt, ja geradezu euphorisch. Sie erzählt, wie sie Menschen in Energieform gesehen habe, als Feen, Elfen, Einhörner oder Engel. Die Quintessenz ihrer «Nahtoderfahrung» (ausgekugelter Ellbogen): «Das Todsein ist etwas Wunderschönes. Unbeschreiblich. Man braucht null Angst zu haben vor dem Tod.» Sie sei nur zurückgekommen in die Welt der Lebenden, um uns davon zu erzählen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Frau B. noch nicht, dass sie ihr Missionsdrang für das Jenseits sieben Jahre später mit einer Handkamera in die Schaffhauser Altstadt führen sollte.
Dienstagmorgen, 10. November 2020, eine Telefonleitung zwischen Schaffhausen und einem Dorf im Toggenburg:
Frau B., die ihr Geld für gewöhnlich mit Tierkommunikation («Ich darf Tiere sprechen hören») und Sterbebegleitung (Mensch und Tier) verdient, ist derzeit Vollzeit mit Corona beschäftigt. Sie recherchiert Tag und Nacht.
Als ich anrufe, ist sie skeptisch. Schliesslich gehören
viele Journalisten zu den «Drecksmedien». Dann beginnt sie dennoch zu salbadern. Sie benutzt Wörter wie «Evidenz», «Grundrechte», «Freiheit» und «Demokratie». Doch irgendwie wollen die Wörter in ihrem Mund keinen Sinn ergeben. Jedenfalls, so zumindest habe ich es verstanden, kommt ihre ausschweifende wissenschaftliche Recherche zum Schluss, dass jeder eine Maske anziehen darf, aber niemand eine Maske anziehen muss. Wegen dem Bauchgefühl.
Ich sage zu Frau B., dass ich zwar nicht verstehe, wie das zusammenpasse, dass es aber immerhin konsequent sei, gegen Atemschutzmasken zu protestieren, wenn man sich als Botschafterin des Todes sieht. Das wiederum scheint sie nicht zu verstehen.
Samstag, 31. Oktober 2020, Helvetiaplatz Zürich:
Eine Gruppe Coronaleugner macht Radau, auf einem Wagen halten verlassene Gestalten verworrene Reden. Auch Frau B. ist da. Und die Polizei, die findet, Frau B. müsse eine Maske anziehen. Doch sie will nicht. Sie habe «ein Attest». Die Polizei droht ihr, sie wegen «Nichtbefolgung einer amtlichen Anweisung» zu sanktionieren, und weist sie weg. Frau B. sagt, sie sei «freie Presse». Schliesslich wird sie von der Polizei zu ihrem Auto geleitet. Auf ihren Lippen ein überlegenes Lächeln. Es ist ein trostloses Schauspiel, das sie auf ihrem Kanal wie einen Skalp präsentiert. Das verwackelte Video trägt den Namen «umzingelt, bedroht, verzeigt, weggewiesen, fast verhaftet, verfolgt, als freie Presse» (5 likes, 2 dislikes).
Samstagmorgen, 7. November 2020, ein Café in Schaffhausen:
Vor der Performance der weissen Wahrheit in Schaffhausen sitzt Frau B. in einem Café und dreht ein Video, das kurz darauf auf ihrem Facebook-Account zu sehen sein wird. Das iranische Ehepaar, das das Café betreibt, wird etwas verlegen vor die Kamera gezerrt und soll von sich erzählen. Das Billigmikrofon kommt kaum an gegen die Folklore, die aus den Boxen tröpfelt, dennoch wird klar: Die Cafébesitzer glauben, sie hätten da eine Journalistin vor sich, die Werbung machen wolle für den «besten persischen Tee in meinem ganzen Leben». Zwischendurch aber sagt die Botschafterin des Todes in die Kamera: «Liebe Menschen da draussen. Hier seid ihr willkommen. Mit Maske. Und auch ohne Maske. Ihr werdet hier respektiert. Ich fühle mich wie eine Prinzessin.» Sie grinst selbstherrlich. Im Hintergrund hängt an einem Radiator ein Warnschild des BAG. Das Ehepaar lächelt scheu.
Wenig später, hinter dem Bachschulhaus:
Nachdem die Overalls gerichtet sind, setzt sich die weisse Wahrheit schleppend in Bewegung. Die Männer und Frauen suchen den Gleichschritt, Kopf und Schultern lassen sie hängen. Sie sollen wohl Zombies darstellen, eine Gleichschaltung symbolisieren, eine Dystopie. Doch bald müssen sie feststellen, dass auch der Gleichschritt durchaus seine Tücken haben kann. Brigadier Reynald Droz, der Koordinator der Armeemobilisierung der ersten Welle, hätte die weisse Wahrheit erstmal in die Kaserne geschickt – zum Kampfstiefelpolieren.
Frau B. filmt alles. Ihr stündiger Film ist fürchterlich langweilig. Und doch erschreckend. Der Zug der zehn Zombies wird zwar von vielen Passanten mit abschätzigen Blicken quittiert, doch immer wieder rufen Leute der weissen Wahrheit Durchhalteparolen nach. Ein junger Familienvater folgt der Kundgebung, seine drei verwirrten Kinder im Schlepptau, und applaudiert. Auf dem Fronwagplatz kommt es dann zur coronalen Kernfusion: Die weisse Wahrheit trifft auf die Sammler des Notrecht-Referendums, die ihr zurufen: «Super macheder das!»
«Ich sehe ganz viele grosse Augen in den Massen», kommentiert Frau B. in die Wackelkamera. «Alle gucken!»
Montagabend, 9. November, mein Sofa:
Ich sitze etwas verstört vor dem Bildschirm und frage mich, ob es nun ein gutes Zeichen ist, dass die Leute gucken und solche Umzüge noch nicht gänzlich zur Normalität geworden sind. Etwas beduselt sinniere ich über den Sinn des Rechts auf freie Meinungsäusserung und frage mich, wie weit es wohl noch ist von solchen weissen Gestalten zu echten Paramilitärs.