Die Schildkröte

1. November 2020, Marlon Rusch
Foto: Peter Pfister
Foto: Peter Pfister

Martin Edlin war der Ruhepol des Schaffhauser Medienzirkus. Seine Lebensgeschichte ist eine Zeitreise durch eine einst schillernde Branche. Ein Porträt in drei Abgrenzungen.

Ab 1968 sah Martin Edlin in Paris manchmal einen Typen mit wilden Haaren durch die Strassen streifen. Der Typ, ein Jahr jünger als Edlin, war ein Berufskollege; beide waren Journalisten, Frankreich-Korrespondenten, der eine für die Tat, der andere für die Weltwoche (damals noch eine sehr honorable Publikation). Furioser noch als die Mähne des Typen war seine Schreibe.­ Es war der junge Niklaus Meienberg, der da in Paris seine Sporen abverdiente – bereits ­damals streitbar, ­gefürchtet, geachtet, später wird man sagen: eine Urgewalt, eine Lichtgestalt des Schweizer Journalismus. Martin Edlin sagt: «ein etwas arroganter Typ». Meienberg wiederum hatte über seinen Kollegen wohl nicht einmal eine Meinung: «Ich war halt keiner, der durch alle Gassen schrie», sagt Edlin.

Während Meienberg seinem turbulenten Leben in den 90er-Jahren ein Ende setzte, ist Edlin heute noch Journalist, eine Woche vor seinem 81. Geburtstag.

Die Episode sagt viel über Martin Edlin. Er ist ein Mann ohne Dünkel, ein Mann, der vielleicht in der zweiten Reihe startet, aber auch ins Ziel kommt, wenn die anderen nicht mehr damit rechnen. In der Fabel von der Schildkröte und dem Hasen wäre Martin Edlin die Schildkröte.

Abgrenzungen wie jene von Meienberg gab es mehrere in Edlins Journalistenleben. Da wäre der Radiopionier Roger Schawinski, wegen dem Edlin einst gehen musste. Da wäre der Schaffhauser Journalist Martin Schweizer, wegen dem Edlin einst nicht zurückkehren konnte.

Es wird sich zeigen: Es waren Kulturkämpfe, die da ausgefochten wurden. Edlin unterlag den flinken Hasen. Doch vielleicht waren es ja gar keine Niederlagen. Die tiefsten Spuren jedenfalls hinterliess Edlin ausgerechnet, nachdem er als Journalist zum zweiten Mal aufgelaufen war: Als die Schweizer Medienbranche in den 80er-Jahren aus den Kinderschuhen entwuchs, war Edlin einer der Köpfe, die für neues Schuhwerk sorgten.


Nachdem er bereits zwei Jahre lang Präsident des Zürcher Pressevereins mit 6000 Mitgliedern gewesen war und entsprechend gut vernetzt, wurde er 1982 zum Präsidenten des Schweizer Verbandes der Journalistinnen und Journalisten (heute Impressum) gewählt. Man kämpfte für eine bessere Anerkennung des Berufsstandes, für einen GAV, für eine professionelle Ausbildung. Der Presserat, die moralische Instanz der Branche, und der Journalistenkodex existierten erst seit kurzem. Edlin war Mitgründer des Medienausbildungszentrums MAZ in Luzern, heute noch eine der wenigen Schweizer Journalistenschulen.

Papst Johannes Paul II. emfängt den Journalistenverbands-Präsidenten Edlin 1984 im Kloster Einsiedeln.

Ein Youtube-Video aus dieser Zeit zeigt einen etwas trockenen Mittvierziger, der im Schweizer Fernsehen DRS ziemlich schnörkellos über Glücksspiel zur Auflagensteigerung in Zeitungen referiert. Edlin war damals so etwas wie ein Beamter unter den Journalisten. Eine Rolle, in der er aufging.

Journalistische Weggefährten sagen alle dasselbe über Martin Edlin: Er sei immer hochanständig gewesen. Er sei sehr seriös gewesen, schlagfertig, mitunter pingelig. Mit ihm sei man nicht saufen gegangen, dafür habe man sich auf ihn verlassen können. Es klingt wie die Karikatur eines Protestanten.


Die Familienkonstellation lässt aufhorchen. Ein jüdischer Russe, der während der ersten Pogrome in die Schweiz flüchtete, lernte eine holländische Theologentochter kennen, die in Deutschland aufgewachsen war. Die Neugier auf die Religion saugte der kleine Martin mit der Muttermilch auf. Aber auch die Neugier auf das echte Leben. Seit er denken konnte, wollte er Journalist werden. Am Mittagstisch lauschte er in den frühen 40ern gebannt den Nachrichten vom Krieg. Ihn faszinierten diese Männer, die im Radio die Welt erklärten. Nach dem Gymnasium in Zürich verschlug es Edlin für ein Volontariat zu den Schaffhauser Nachrichten, danach ging es weiter zu den Basler Nachrichten, dann zur Südwest-Presse nach Tübingen, wo er sich neben dem Redaktions-Praktikum an der Universität einschrieb. Edlin wollte zu Professor Theodor Eschenburg, dem konservativen Doyen der deutschen Zeitgeschichte. Eschenburg kämpfte für Demokratie, die er als «nicht die beste Staatsform, sondern die am wenigsten schlechte» verstand. Er kritisierte das System, um es zu erhalten. Edlin schwärmt davon, wie wenig doktrinär das Deutschland dieser Zeit gewesen sei.


Nach Stationen beim Allgäuer Anzeigeblatt und beim Ostschweizerischen Tagblatt in Rorschach ging er 1964 als Reporter zur Tat, dem Sprachrohr des Landesrings der Unabhängigen um den Migros-Gründer Gottlieb «Dutti» Duttweiler. Edlin war 25, es war die Ära der Parteipresse und Edlin trat folgerichtig dem Landesring bei, was ihm inhaltlich durchaus entsprach. Die Partei war die sozialliberale Alternative zu den Linken und den Bürgerlichen. Edlin war engagiert, klug, ein Allrounder, der schnell Karriere machte. 1968 ging er nach Paris, nach drei Jahren wurde er nach Singapur entsandt, um auszuloten, ob es möglich wäre, dort eine Fernost-Dependance einzurichten.

Edlin berichtete nach Zürich, Singapur sei teuer, die Distanzen in Asien seien gross, die Regierungen wenig informationsfreudig. Die Übermittlung der Artikel via Fernpost in die Schweiz war mühsam, da in Singapur kaum jemand zu finden war, der Deutsch sprach. Die Texte, die in Zürich ankamen, waren fast nicht lesbar. Die Übung wurde abgebrochen, Edlin flog zurück und wurde 1971 Inlandchef und Bundeshauskorrespondent.

Martin Edlin als Tat-Redaktor in den frühen 70er-Jahren mit dem damaligen Vizekanzler (und späteren Bundeskanzler) Walter Buser im Bundeshaus.

Doch die Tat begann zu schwächeln, die Auflage schrumpfte. Die Zäsur kam 1977 in Gestalt eines 32-jährigen Heisssporns, der ein paar Jahre zuvor den Kassensturz gegründet und damit für Furore gesorgt hatte: Roger Schawinski.


Vergangene Woche wurde Edlin vom Journalistenverband Impressum mit einer Ehrenmitgliedschaft gewürdigt. Als das Schaffhauser Fernsehen ihn daraufhin einlud, um über alte Zeiten zu sprechen, sagte Edlin, als Schawinski zur Tat gekommen sei, habe man einen Waffenschein gebraucht, um dort zu arbeiten.

Es war eine Zeit, als hartnäckige Recherchen im Schweizer Journalismus noch wenig etabliert waren, und auch der Boulevard war noch längst nicht so verbreitet wie heute. Schawinski wurde zur Tat geholt, weil er beides machte. Edlin bekam einen Chef, der eine journalistische Fremdsprache sprach. Schawinski erinnert sich nicht an Martin Edlin, er sagt aber, er habe es damals mit einigen Journalisten aus der alten Tat versucht, aber sie seien «allesamt aus einer völlig anderen Welt» gekommen und hätten sich nicht an das neue Konzept, die neue Mentalität und die neue Führung anpassen können. Für Edlin war kein Platz unter dem neuen Regime, also zog die Schildkröte weiter und vernahm aus der Ferne, dass Schawinski nach einem Jahr bei der Tat fristlos entlassen wurde.


Damals, als kleiner Bub während des Zweiten Weltkriegs am Küchentisch, waren es die Männer aus dem Radio, die Edlin für den Journalismus begeisterten. Als er dann als Jungspund bei der Tübinger Südwest-Presse volontierte, wurde er gefragt, ob er sich vorstellen könnte, ab und an eine kleine Radiosendung zu machen. Mit dem Blick über die Grenze wurde eine Leidenschaft geweckt, die bis heute anhält.

Nach der Gründung von Radio Munot etablierte er 1989 eine Klassik-Sendung, die er heute noch moderiert. Später begründete er das ökumenisch-kirchliche Radio-Magazin Unterwegs. Daneben war er Präsident des Trägervereins und sass im Verwaltungsrat der Radio Munot Betriebs AG.

Ein roter Faden: Überall, wo Edlin dabei ist, ist er richtig dabei, greift in die Organisation ein. Sei es in der Kirche, im Berufsverband, im Journalismus. Max Rapold, ab den 70er-Jahren Verleger und Chefredaktor der SN, wird schon gewusst haben, warum er Edlin nach dessen Aus bei der Tat 1977 als Inland-Chef zurückholte in den Betrieb, wo seine Laufbahn als Volontär einst begonnen hatte.


Man muss sich den Medienplatz Schaffhausen der 70er-Jahre anders vorstellen als heute. Da war kein Monopol, die Zeitungen spielten ein munteres Meinungs-Ping-Pong mit vielen Schmetterbällen. SN-Chef Rapold gab die Direktive durch, wer auch nur eine Zeile im Bock schreibe, habe seine Karriere verwirkt. Die SN-Redaktion war kleiner als heute, zwar klar freisinnig, aber weniger dogmatisch. Als Edlin 1977 kam, wurde er Teil eines Dreigestirns:

  • Da war der Regionalteil, geführt von Martin Schweizer, ein ehemaliger Hippie mit langen Haaren, der als Kulturreporter anfing, ein charismatischer Schreiber und guter Stilist mit einem Riecher für Geschichten, der die Philosophie der Regionalzeitung hochhielt.
  • Da war der Wochenexpress, die neue Boulevard-Beilage, Antwort der SN auf den aufmüpfigen Bock, der damals durchaus immer wieder für Schlagzeilen sorgte. Geführt wurde der Wochenexpress von einem gewissen Norbert Neininger, dem späteren SN-Grandseigneur, damals ein junger Kettenhund mit süffisanter Feder.
  • Und schliesslich das Inland, drei Mann, geführt vom un­dogmatischen, aber wertkonservativen Edlin, der zwar ein erfahrener Nachrichtenprofi war, bestens vertraut mit der nationalen Politik, ein genauer Beobachter und Reporter, der aber keine grosse Aufmerksamkeit heischte und auch keine tiefen Spuren hinterliess. Markus Schärrer, sein damaliger Kollege aus dem Inland, vermutet, Rapold habe Edlin geholt, weil er einen «sicheren Wert in seinem bunten Papageienzoo» gesucht habe.

Edlin, schon lange Vater, baute damals ein schönes Haus auf dem Emmersberg, in dem er heute noch wohnt. Er empfängt im Arbeitszimmer, die Bücherregale quellen über, auf dem geschnitzten Holzschreibtisch Statuen und Tabakpfeifen. Es ist das Büro eines Bildungsbürgers, wie sie im Aussterben begriffen sind. Doch der etwas hüftsteife Journalismusbeamte früherer Tage, der ist nicht mehr da. Im Holzstuhl sitzt ein gelassener, bescheidener, aber humorvoller älterer Herr, in der Brusttasche steckt locker eine Schachtel Kent braun, und man würde am liebsten den ganzen Tag hier sitzen und den alten Geschichten lauschen.


Nach dem Zusammenstoss mit Schawinski geriet Edlin nur noch einmal aus dem Tritt. Es waren die 80er-Jahre, Edlin sass als SN-Inlandchef fest im Sattel, doch da gab es ein Problem. Er war Präsident des Schweizer Verbandes der Journalistinnen und Journalisten geworden, und Max Rapold, sein Chef, war gleichzeitig Präsident des Verlegerverbandes, des grossen Antipoden. Man entschied sich, dass Edlin eine Auszeit nimmt und für die zwei Jahre seiner Präsidentschaft für die Schweizer Familie in Zürich schreibt. Danach sollte er zurückkommen. In der Schweizer Familie konnte er sich in der grossen Form austoben, lange Reportagen, Hochglanz. Es ist bis heute der Traum vieler Journalistinnen, doch es war nicht Edlins Welt. Er sagt: «Ich brauche einen aktuellen Aufhänger, diese Unmittelbarkeit des Journalismus.» Als er dann zurückwollte zu den SN, habe sich die Redaktion um Martin Schweizer gegen ihn gestellt. Es war die zweite Zäsur.


1985 machte er sich selbstständig, schrieb für verschiedene Zeitungen, wurde Chefredaktor eines Medienmagazins, erarbeitete ein Öffentlichkeitskonzept für die reformierte Kirche und bewarb sich dann gleich selbst auf die Stelle, die er geschaffen hatte. So wurde aus dem Journalisten ein zweites Mal ein Funktionär.

Eine ganze Abteilung seines Büchergestells auf dem Emmersberg gehört dem Christentum, und auch in diesem Bereich ist Edlin kein Dogmatiker. Er sagt, der Glaube habe sich seit der Aufklärung nicht im gleichen Schritt entwickelt wie die Welt. So, wie er den Journalismus versteht, versteht er auch die Religion: Gehe mit Vorurteilen an eine Sache heran, lasse dich dann aber belehren. Nur aus diesem Spannungsfeld kann etwas Fruchtbares entstehen.


Seit 2004 ist Edlin freier Mitarbeiter für die SN. Im Oktober erschien über eine Handvoll seiner Artikel. Er berichtete von einer Führung durchs Museum zu Allerheiligen, er rezensierte ein Klassikkonzert, er war in der Oper im Stadttheater, er besuchte die Sterbehospiz und beschrieb, warum sich die Kirchen schwertun, eine Haltung zur Konzernverantwortungsinitiative zu entwickeln. Ob er sich nicht langsam zur Ruhe setzen wolle? «Wieso auch?» Er habe ja sonst keine Hobbys.

Die Schildkröte hält das Tempo auch auf der letzten Runde.