Zu viel Zeitdruck, zu wenig Lohn: Das Pflegepersonal ist unzufrieden und macht auf Missstände aufmerksam – zwei Pflegende aus Schaffhausen erzählen.
Letzte Woche gab es in der Altstadt plötzlich einen riesigen Lärm: Trillerpfeifen und Sprechchöre liessen manche Bewohnerinnen und Bewohner den Kopf aus dem Fenster strecken und lockten Passantinnen und Passanten aus den Gassen heraus. Pflegefachpersonen hatten sich mit Transparenten und Protestschildern versammelt, um das zu machen, was sie sonst, berufsbedingt meistens freundlich und zurückhaltend, nicht tun – zeigen, wie unzufrieden sie sind.
Geschätzt über 200 Menschen baten kurz um Aufmerksamkeit für ein Problem, das eigentlich bekannt ist. Dass die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich hart sind und dass die Schweiz, wie die meisten Länder Europas, mit einem regelrechten Pflegenotstand zu kämpfen hat, hört man nicht zum ersten Mal. Und während die demografische Entwicklung unaufhaltsam voranschreitet, ist keine umfassende Lösung in Sicht. Der letzte Versuch, um das Problem bei der Wurzel anzupacken, wird gerade in Bundesbern in seine Einzelteile zerlegt. Die Pflegeinitiative, die vom Schweizerischen Berufsverband der Pflegenden SBK lanciert und im Gesundheitssektor eine breite Unterstützung erfährt, beschäftigt das Parlament schon seit drei Jahren. Anfänglich durch den Bundesrat abgelehnt, wurde ihr dann im Nationalrat ein indirekter Gegenvorschlag gegenübergestellt, der seitdem sukzessive verschlechtert wird. Was von der ursprünglichen Idee, nämlich die Sicherstellung von genügend qualifizierten Pflegefachpersonen durch Bund und Kantone, übrig bleibt, wird nun zwischen National- und Ständerat wie ein Spielball hin und her geschoben. Frühester Abstimmungstermin wäre im Frühjahr 2021.
Gleichzeitig hat sich die Covid-Pandemie in den Alltag geschlichen. Für viele im Pflegesektor bedeutete der Shutdown ein zusätzlicher Effort, auch wenn in der Schweiz und besonders in Schaffhausen die Lage zwar ernst war und ist, aber keine gravierenden Ausmasse angenommen hat.
In der Krise steckt das Land dennoch. Und während zahlreiche Branchen Unterstützung von Bund und Kantonen erhalten, wurden die Pflegefachpersonen mit einem Applaus komplimentiert. Als auch in Schaffhausen viele Einwohnerinnen und Einwohner für den ausserordentlichen Einsatz in den Spitälern, Alterszentren und Pflegeinstitutionen klatschten, gab es nicht wenige Leute aus der Pflege, die ein müdes Lächeln aufsetzten. Es sei eine nette Geste, die sicherlich von Herzen käme, «das reicht aber nicht aus», hiess es.
Zu wenig Zeit, zu wenig Personal
Die Pflegenden wollen Taten folgen sehen. An der Demonstration in der Altstadt wurde deshalb kurzerhand eine Volksmotion gesammelt, die dann gleich am Freitag darauf von einer Delegation von Pflegenden und vom 30-jährigen Kantonsrat und Gewerkschafter Patrick Portmann, selbst Pflegefachmann, eingereicht wurde. Unter dem Titel «Bessere Bedingungen für das Pflegepersonal» wird eine Einmalzahlung des Kantons an alle öffentlichen und privaten Institutionen im Gesundheitswesen, «welche explizit dem Pflegepersonal» zugutekommen soll. Weiter soll sich der Kanton mit einem neuen Leistungsauftrag für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen.
«Ich muss angeben, dass eine Klientin renitent sei, obwohl sie nur etwas mehr Zeit benötigt.»
Mario, Pflegefachmann
Woran krankt denn das System genau? Fragt man Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wie Patrick Portmann, dann hört man einen Begriff, der oft als Kampfrhetorik gilt: die Ökonomisierung. Seit es im Gesundheitsbereich mehr um Zahlen gehe als um Menschen, stehe es schlecht um die Pflege. Ist das wirklich so? Ein Teilbereich, in dem sich die Quantifizierung der Arbeit deutlich niederschlägt, ist die Alters- und Langzeitpflege. Dort wo die Menschen am meisten Betreuung benötigen, gibt es zu wenig Zeit und zu wenig Geld. In einer Studie, die der Dachverband der Betreuungsinstitutionen Curaviva 2015 in Auftrag gegeben hat, wurden landesweit Alterszentren über die Herausforderungen der nahen Zukunft befragt. 83 Prozent gaben an, dass die Suche nach genügend qualifiziertem Personal die grösste Herausforderung sei, gefolgt vom steigenden Kosten- und Zeitdruck in der Betreuung und Pflege mit 68 Prozent.
Im 20-Minuten-Takt
Mario*, seit 20 Jahren in der Pflege im Kanton Schaffhausen tätig, erzählt, was Zeitdruck konkret bedeutet. «Wir verlieren die Menschlichkeit aus den Augen», sagt er, «und das meine ich ganz und gar nicht pathetisch.» Die Bewohnenden im Alterszentrum, in dem er arbeite, würden nach unzähligen Kriterien beurteilt, eingestuft und nach einem starren System behandelt. Die Uhr gebe den Takt vor: «Ich muss jeden meiner Arbeitsschritte aufschreiben und den Zeitaufwand notieren. Und von diesem Nachweis hängt es dann ab, welche Leistungen die Krankenkasse vergütet.» Um die Tragweite zu veranschaulichen macht Mario ein Beispiel: «Nehmen wir an, eine Bewohnerin benötigt Unterstützung beim Essen. Entsprechend ihrer Pflegestufe hat sie dafür 30 Minuten. Wenn das aber nicht ausreicht, darf ich eigentlich nicht länger bei ihr bleiben», dass deshalb Suppen oder der Nachtisch weggelassen würden, käme öfters vor. «Unsere Zeit ist sehr knapp bemessen», müsse den Bedarf aufgrund einer Verschlechterung des Zustandes der betroffenen Person angepasst werden, müsse das Personal oft Vokabular in den Beschreibungen verwenden, das eigentlich nicht zutreffe: «Ich muss dann angeben, die Klientin sei renitent, obwohl sie nur etwas mehr Zeit benötigt.»
«Wir können nicht Leute beim Duschen alleine lassen oder sie einfach nicht waschen.»
Lisa, Pflegefachfrau
Diese Quantifizierung ist notwendig, weil auch in der Alters- und Langzeitpflege wie in der Akutmedizin sich verschiedene Kostenträger die Finanzierung teilen. Und weil zwischen Pflege- und Betreuungsaufwand unterschieden wird. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) schreibt eine Beurteilung der Pflegesituation aller Bewohnenden jeder Institution. Die Krankenkassen zahlen ausschliesslich Pflegeleistungen, die detailliert im sogenannten BESA-System – das Pendent zu den Fallpauschalen in der Medizin – erfasst werden müssen. Die BESA-Leistungen werden in 12 Stufen eingeteilt, die jeweils für eine Zeiteinheit von 20 Minuten steht. Ist jemand also in der BESA-Stufe 5 eingeteilt, hat diese Person maximal 100 Minuten Pflegeleistung zugute. Mehr zahlt die Krankenkasse nicht. Die Einstufung wird in der Regel zwei Mal im Jahr überprüft, eine kurzfristige Änderung ist nur nach einem konkreten Vorfall möglich. «Bei einer Bewohnerin wurde lange nicht notiert, dass sie Hilfe beim Duschen braucht», erzählt Lisa*, eine junge Frau, die seit ein paar Jahren in der Pflege ist und ebenfalls in einem Alterszentrum arbeitet. Die Krankenkasse habe sich dann geweigert, die zusätzlich benötigte Zeit zu vergüten: «Wir können aber nicht Leute beim Duschen alleine lassen oder sie einfach nicht waschen», die Zeit fehle dann woanders, bei der Betreuung etwa, die dann auch zu kurz käme. «Wie es um das Gemüt der Bewohnenden steht, wissen wir oft nicht. Meistens müssen sie auf uns warten, weil wir woanders gebraucht werden», sagt die Pflegefachfrau.
Die Bedürfnisse der Kassen
Zum Beispiel im Büro. Der tägliche administrative Aufwand schätzen die zwei Pflegenden bis zu einer Stunde am Tag, «wenn wir das seriös machen sollen», meint Lisa. Der «Rechtfertigungsdruck» gegenüber den Kostenträgern sei sehr hoch und schlussendlich problematisch. Und das sieht nicht nur das Personal so.
Der Pflegealltag sei in der Tat anspruchsvoll, meint auch Daniel Gysin, Heimleiter des Alters- und Pflegeheim Ruhesitz in Beringen. Gysin, der jeden Tag mit BESA arbeitet und auch die Vorgängersysteme gut kennt, bedauert, dass Pflege und Betreuung in der Abrechnung getrennt werden. Ganzheitliche Pflege umfasse sowohl Pflege als auch Betreuung, meint er: «Der Fokus liegt oftmals nicht mehr bei den Bedürfnissen der Menschen, sondern bei den Kostenträgern der Pflege, also zu grossen Teilen bei den Krankenkassen.» Messbare Kriterien zur gerechten Abrechnung, wären sinnvoll, aber sie müssten auch der Realität entsprechen. Gysin macht ein Beispiel: «Eine halbseitengelähmte Person im Rollstuhl hat voraussichtliche eine hohe BESA-Stufe, weil der Pflegeaufwand gross ist. Die Betreuung einer solchen Person ist aber wahrscheinlich viel weniger intensiv als jene einer an Demenz erkrankten Person, die immer wieder davonläuft.» Somit könne der Personalschlüssel auch nicht anhand von BESA abgeleitet werden. Die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sei nicht nur für das Personal, sondern auch für die Bewohnenden und für die Institutionen sehr wichtig.
Was hat das aber mit dem Lohn zu tun, den die Pflegenden als zu tief betrachten? Lisa und Mario sind sich einig: «Es geht um Wertschätzung. Etwa um die Möglichkeit, sich eine Teilzeitanstellung zu leisten», meint Lisa und Mario sagt: «Wir wollen in unserem Beruf bleiben, weil er sehr sinnstiftend sein kann», um jeden Preis sei er es aber nicht wert.
Dieser Meinung sind fast die Hälfte der Pflegenden. Sie wollen ihren Beruf aufgeben. (Umfrage der Gewerkschaft UNIA, 2019.)
* Namen geändert