Zutiefst menschliche Kunst

8. September 2020, Peter Pfister
Ohne Zigarre war Hans Josephsohn selten anzutreffen.
Ohne Zigarre war Hans Josephsohn selten anzutreffen. Peter Pfister

Der Bildhauer Hans Josephsohn, der stets seinen eigenen Weg ging, wird zum 100. Geburtstag im Museum zu Allerheiligen mit einer Ausstellung geehrt.

Der Nebel hatte sich gelichtet, aber abgestandener Zigarrenrauch hing noch tagelang in der Stube. Man hätte meinen können, bei mir sei ein Glauser-Film mit Wachtmeister Studer gedreht worden. Aber nein, die Kunst war schuld. Und das kam so:

Hans Josephsohn war einige Jahre in der Zahnarzt-Praxis meines Vaters in Behandlung. Die beiden schätzten sich und richteten es jeweils so ein, dass er der letzte Patient am Morgen war. Nach der Behandlung fuhr mein Vater mit dem Künstler nach Hause, wo meine Mutter bereits ein einfaches Essen gekocht hatte, wie es Josephsohn gern hatte. «Frau Doktor, wann gibt es wieder mal Brätchügeli?», soll er einmal in der ihm eigenen Mischung aus Dialekt und Hochdeutsch gesagt haben. Möglicherweise erinnerten ihn diese an die Königsberger Klopse und seine Geburtsstadt, aus der er vor den Nazis fliehen musste. Einmal musste meine Mutter kurzfristig weg. Josephsohn war enttäuscht. Obwohl schon lange von zu Hause ausgezogen, erfuhr ich davon und lud die Heimatlosen zu mir ein. Wissend um die Vorliebe Josephsohns für währschafte Kost, schälte ich Kartoffeln und briet eine Berner Rösti mit Kalbsbratwurst und Zwiebelschwitze. Josephson war zufrieden, ich hatte seinen Geschmack getroffen. Es wurde ein lustiges Essen. Josephsohn war ein Mensch ohne jegliche Allüren, der seine Ansichten mit träfen Worten zu vertreten wusste. Zum Kaffee räucherten wir dann gemeinsam die Stube ein. Mit den erwähnten Folgen.

Kleine, aber feine Ausstellung

Im letzten Mai wäre Hans Josephsohn 100 Jahre alt geworden, vor ziemlich genau acht Jahren ist er gestorben. Künstlerisch fand er lange Zeit wenig Beachtung, da er sich nicht an den aktuellen Strömungen orientierte, sondern beharrlich seinen eigenen Weg ging. Als Flüchtling in die Schweiz gekommen, war es ihm bis 1950 verboten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Für seine künstlerische Entwicklung sei das ein Glücksfall gewesen, meinte er später: «Ich durfte sieben Jahre lang Plastiken machen und mich etwas vorwärtsbewegen, ohne dass mir jemand gesagt hätte: ‹Chönndsch mol chli ufem Bau go schaffe›!» Josephsohns Interesse galt zeitlebens dem Menschen, dessen Wesen sich im Körper ausdrückt. Dem Menschen ein Bild seiner selbst zu schaffen, in dem er sich selbst erfahren kann, scheint die vornehme Aufgabe von Josephsohns zutiefst menschlicher Kunst zu sein.

Bereits 1975 widmete ihm das Museum zu Allerheiligen eine grosse Einzelausstellung, die seiner Bekanntheit Schub verlieh. Das Tages Anzeiger Magazin brachte einen grossen Artikel über die Ausstellung, wodurch der junge Architekt Peter Märkli auf ihn aufmerksam wurde, der sich mit Josephsohn befreundete und das 1993 eröffnete Museum «La congiunta» in Giornico für ihn realisierte. Die Stadt Schaffhausen kaufte Werke von ihm an, so eine grosse Relieffigur, die im Waldfriedhof steht. Nun richtet ihm das Museum zum 100. Geburtstag eine kleine, aber feine Ausstellung ein. Konzipiert und realisiert hat sie Kurator Julian Denzler zusammen mit Ulrich Meinherz und Lukas Furrer vom Kesselhaus Josephson St.Gallen, das zugleich Ausstellungsraum, Galerie und Lager für den Nachlass des Künstlers ist. Im Wechselsaal sind drei Figuren, drei Reliefs und drei Halbfiguren zu sehen. Das tönt nach wenig, entpuppt sich aber als kluge Auswahl. Sie erlaubt es, zwischen den Werken Bezüge zu schaffen und innerhalb der einzelnen Werkgruppen Entwicklungen abzulesen. 

Immerwährende Suche

«Schauen ist das Wichtigste», wie der Titel der Ausstellung lautet, war ein Satz von Jo­sephson, der nach jedem Arbeitsschritt von der entstehenden Arbeit Abstand nahm, um das Geschaffene zu betrachten. Ein stetes Pendeln zwischen Werk und Beurteilung, ein immerwährendes Suchen zeichnete seine Arbeitsweise aus. Josephsohn arbeitete fast ausschliesslich mit Gips, einem Material, das grosse Flexibilität erlaubt. Mit Spachtel und Händen können Teile hinzugefügt oder verschoben, mit dem Beil wieder weggenommen werden. Die Arbeitsspuren sind auf den Bronze- und Messingabgüssen in der Ausstellung deutlich zu erkennen: «Schauen ist das Wichtigste» gilt auch für die Besucherinnen und Besucher. Von Nahem treten Arbeitsspuren hervor, ab einer gewissen Distanz wird die physische Präsenz der Figuren sicht- und spürbar. Diese bleiben in unserer Wahrnehmung einer stetigen Oszillation unterworfen, nicht zuletzt dank des Naturlichts, das immer wieder neue Konturen hervorhebt oder verschwinden lässt. Bei diffusem Licht wird etwa die grosse Liegende auf einmal zum Bergmassiv. Erst wenn man um sie herumgeht, wird sie als Körper erfahrbar.

Links die Halbfigur, welche Josephsohn im Museum «korrigieren» wollte, rechts im Vordergrund die Skulptur des Arbeiters.
Links die Halbfigur, welche Josephsohn im Museum «korrigieren» wollte, rechts im Vordergrund die Skulptur des Arbeiters. Peter Pfister

Der Schreck der Konservatorin

Bei den Halbfiguren, die ab den 80er-Jahren entstehen, ist es auf den ersten Blick kaum vorstellbar, dass bei ihrer Entstehung jemand Modell sass. Sie wirken gleichzeitig entrückt und kraftvoll und trotz der leichten Schieflage völlig in sich ruhend. Eine davon hatte die Stadt Schaffhausen angekauft. Sie liefert Stoff für eine Anekdote, die zeigt, dass Josephsohn seine Arbeit nie als ganz abgeschlossen betrachtete. Eines Tages erhielt Tina Grütter, damals Konservatorin der Kunstabteilung im Museum zu Allerheiligen, den Anruf einer Aufseherin: «Kommen Sie schnell, da ist ein Mann, der sich an einer Skulptur zu schaffen macht!» Grütter raste die Treppe hoch und fand Hans Josephsohn mit Pinsel und Blechdose auf einem Klappstuhl vor seiner Halbfigur. Er müsse noch etwas korrigieren, meinte er. Mit Mühe konnte ihn die Konservatorin von seinem Vorhaben abbringen.

Die Reliefs, die den Raum an den drei Wänden umkreisen, haben eine andere Charakteristik als die Skulpturen. Mit ihnen kann der Künstler Geschichten erzählen, indem er verschiedene Figuren in Beziehung zueinander setzt. Das kann einfach zu entschlüsseln sein wie beim Relief, welche eine Szene mit Modell und Künstler im Atelier darstellt. Rätselhafter ist das älteste Relief aus den frühen 50er-Jahren, das an steinzeitliche Felsritzungen erinnert. Am traumhaftesten ist das Relief an der Längswand. Die Menschen darauf sind hier nur amorphe Klumpen, deren Stellung zueinander und zu den architektonischen Elementen lassen ein Gefühl von Beklemmung aufkommen.

Ergänzt wird die Ausstellung durch den Film «Josephsohn – Stein des Anstosses», welcher im graphischen Kabinett projiziert wird. Der Regisseur Jürg Hassler hatte die Schaffhauser Ausstellung 1975 zusammen mit Museumsdirektor Max Freivogel eingerichtet. Im Film werden, ganz im kapitalismuskritischen Kunstdiskurs jener Zeit, die Putzfrauen und Aufseher beim Einrichten der Ausstellung befragt. Die überlebensgrosse Skulptur des Arbeiters, der die Eintretenden zu Beginn der Ausstellung begrüsst, wirkt wie ein Wiedergänger des technischen Mitarbeiters in der blauen Arbeitsschürze. Unbedingt sehenswert!