Ungewohnte Szenen in Guntmadingen: Die Tierschutzgruppe «1Individuum» besetzte in einer Grossaktion einen Schweinestall.
Eine junge Frau sitzt in einem Kleinbus, Stacheldrahttattoo um den Hals, das Haar halb abrasiert, halb geflochten. Sie zupft an ihrer Schutzmaske herum, schaut frontal in ihre Kamera: «Hi, hier ist Susi live aus der Schweiz.» Neben und hinter ihr sitzen weitere Menschen in weissen Schutzanzügen. Susi spricht unentwegt in die Kamera, sie spricht von Speziesismus, der moralischen Diskriminierung von Tieren. Dies in einem globalisierten Hochdeutsch, in welchem der Bauer nur «Farmer» genannt wird.
Es ist Samstagnachmittag, die Aktivistinnen und Aktivisten sind auf dem Weg zur, nach eigener Aussage, ersten Stallbesetzung in der Schweiz. Sie sind auf dem Weg in den Klettgau.
Dass sich dort etwas abgespielt hat, erfährt man am darauffolgenden Tag aus einer Meldung der Schaffhauser Polizei. Wer die Aktivisten sind und was genau passiert ist, erfährt man auf Social Media. Die Aktivistinnen haben alles gefilmt. Die AZ hat den Video-Stream gesichtet.
Samstagnachmittag, der Kleinbus mit Kamerafrau Susi biegt in eine Einfahrt eines Schweinebetriebs in Guntmadingen ein. Die Leute, die «Aktivisti», springen aus dem Bus, zwei klettern die Leitern an den Silos hoch, «es wird jetzt direkt einen Bannerdrop geben», kommentiert die Kamerafrau. «Stoppt Speziesismus» steht auf dem Banner, das nun hoch über dem Betrieb hängt, darauf das Logo der Schweizer Gruppe, sie nennt sich 1Individuum. Weitere Aktivisti kommen an, sie stürmen den Hofplatz, bilden draussen Menschenketten oder «gluen» (leimen, ketten) sich irgendwo fest.
I’m in pain, living in misery
Dann passiert erst mal nichts. Man befindet sich auf dem Schaffhauser Lande. Kein Farmer in Sicht.
Die jungen Leute von 1Individuum sitzen herum und warten, die Kamerafrau filmt die Schweine, kommentiert, manchmal den Tränen nahe. Man habe extra einen kleineren Schweizer Naturafarm-Labelbetrieb ausgewählt, erklärt sie im Live-Stream: «Wir wollen verdeutlichen, dass es die Schweine hier vielleicht etwas besser haben als in anderen, grösseren Fabriken, dass aber dennoch für diese Tiere ein Leben voller Leid besteht, was immer im Schlachthaus endet. Speziesismus ist die Unterdrückung einer anderen Spezies, weil wir Menschen der Meinung sind, dass wir über ihnen stehen. Darauf wollen wir aufmerksam machen, dass das einfach nicht sein kann.»

Weitere Wagen fahren heran, heraus springt mit Gitarren in den Händen das sogenannte Greenteam, welches von nun an singt, Ansprachen hält und Plakate und Filmaufnahmen auf transportablen Displays zeigt. Etwa 65 Menschen, nach eigenen Angaben aus sieben Ländern, besetzen den Guntmadinger Tierbetrieb und verbreiten ihre Botschaft in die Klettgauer Landschaft hinaus. Sie sind mit zwei Forderungen hergekommen: Sie wollen im Innern des Stalls filmen und symbolisch zwei Individuen (Schweine) befreien.
1Individuum ist über den Guntmadinger Betrieb hereingebrochen wie ein Sturm. In den kommenden Stunden scheint allerdings eine eher ratlose Ruhe zu herrschen. Grillenzirpen. Die melancholischen Stimmen der Sängerinnen und Sänger: «I’m in pain, living in misery, won’t you do something about it.»
Das SRF-Team, das angereist ist, sowie die Schaffhauser Polizeibeamten, die irgendwann hinzukommen, beobachten die Situation. Auf eine Auflösung wird im Sinne der Verhältnismässigkeit verzichtet, so wird die Polizei nach der Aktion mitteilen.
Der Landwirt, der irgendwann mit dem Traktor angetuckert kommt, möchte nicht in Verhandlung treten mit den Aktivistinnen. Als sie ihn daran hindern, wieder wegzufahren, indem sie auf das Dach des Traktors klettern und ihn von allen Seiten blockieren, geleitet ihn die Polizei nach Hause.

Es stellt sich heraus, dass der Tag und der Ort für die Aktion von 1Individuum denkbar schlecht gewählt sind, der Landwirt ist aus privaten Gründen emotional gerade zusätzlich schwer belastet. Die Stimmung bei den Aktivistinnen und Aktivisten ist deshalb etwas betreten, dennoch dringen einige von ihnen an diesem Samstagnachmittag noch ins Büro im Stall vor, um es dann später wieder erfolglos zu verlassen. Der Journalist des SRFs, der mit Kameramann als einziger Medienschaffender vor Ort ist, scheint langsam genug zu haben. Er interviewt zum Abschluss noch kurz einen Sprecher der Gruppe, was wiederum von 1Individuum-Kamerafrau Susi im Live-Stream übertragen wird:
«Geplant war die erste Stallbesetzung der Schweiz. Es hat nicht funktioniert. Sind Sie enttäuscht?», fragt der SRF-Journalist.
Aktivist: «Nein, es HAT funktioniert. Es gibt verschiedene Wege.» Man hoffe, dass die Schweizer Bevölkerung nun, auch dank der Reichweite des Schweizer Fernsehens, sensibilisiert werde wegen dem Speziesismus.
Der SRF-Journalist weiter: «Sie haben zahlreiche Medien eingeladen. Ausser uns ist niemand gekommen. Sind Sie enttäuscht?»
Aktivist: «Nein, Sie sind gekommen, das zählt.»
SRF-Journalist: «Nein, nein, nein, jetzt im Ernst. Das hat nicht funktioniert.» Das könne man nicht senden.
Das sei die erste Besetzung, sagt der Aktivist entschuldigend, das laufe und laufe jetzt weiter. An diesem Samstagnachmittag jedenfalls bricht die Gruppe ihre Aktion nach fünf Stunden schliesslich ab.

Nach der Aktion
Die Gruppe 1Individuum wurde nach eigener Aussage im Mai dieses Jahres gegründet mit dem Fokus, Dokumentationsmaterial aus Schweizer Tierindustrien zu veröffentlichen. Die regionalen Medien waren über die Aktion in Guntmadingen erst (oder gar nicht) informiert worden, als sie bereits lief. Die Gruppe bestätigte auf Nachfrage der AZ, dass sie den Betrieb in Guntmadingen zufällig ausgewählt hat. Der Landwirt möchte zu der Aktion keine Stellung nehmen. Wie die Polizei mitteilt, verzichte er aber auf strafrechtliche Schritte.
SVP-Kantonsrätin und Bauernsekretärin Virginia Stoll ärgerte sich offenbar so sehr über die Aktion, dass sie umgehend eine Interpellation im Kantonsrat einreichte, in welcher sie die Duldung der Aktivisten durch die Polizei und das Risiko der Einschleppung von Krankheiten vorbringt. Angesprochen wird dabei aber nicht etwa Covid-19, sondern die Afrikanische Schweinepest, bei der laut Stoll aktuell eine riesige Einschleppungsgefahr bestehe. Die Gruppe 1Individuum kündigte jedenfalls weitere Aktionen in der Schweiz an.