Die Politik, die Kultur und die Wahrheit

11. August 2020, Mattias Greuter
Die Politik und die Kammgarn, eine lange gemeinsame Geschichte: 2009 tagte der Grosse Stadtrat gar in den «Hallen für Neue Kunst». Foto: Peter Pfister
Die Politik und die Kammgarn, eine lange gemeinsame Geschichte: 2009 tagte der Grosse Stadtrat gar in den «Hallen für Neue Kunst». Foto: Peter Pfister

Nicht alle Argumente nehmen es mit der Wahrheit besonders genau. Im Abstimmungskampf um die Kammgarn wird zugespitzt und zurechtgebogen – höchste Zeit für einen Faktencheck.

Die Abstimmungen zur Kammgarn am 30. August sind, wie man so sagt, «eine grosse Kiste». Es geht um die Zukunft des Westflügels, um den Hof und ein neues Parkhaus, um den Umzug der Bibliothek und der Ludothek sowie der Pädagogischen Hochschule.

Der Abstimmungskampf wird intensiv geführt, Gegner und Befürworterinnen schenken sich nichts. Die Argumente sind so stark zugespitzt, dass die Wahrheit manchmal auf der Strecke bleibt und die Übersicht schwerfällt. Ein Faktencheck in sieben Punkten.

1. Wie hoch sind die Kosten?

Unübersichtlich scheint die Lage schon bei den Kosten des Vorhabens. «Nein zur 35 Mio. teuren Zwängerei», steht auf den Flugblättern der rechtsbürgerlichen Gegner. Die FDP sprach bei ihrer Pressekonferenz von 31,24 Millionen Franken, und das Ja-Komitee schreibt, es gehe um 14,8 Millionen Franken. Was stimmt?

Abgestimmt wird in der Stadt über den Rahmenkredit von 31,24 Millionen Franken. Das sind die Gesamtinvestitionen (35 Mio.) abzüglich der Beteiligung der IWC an der Tiefgarage (3,76 Mio.). Die tatsächliche Belastung für die Stadtkasse ist jedoch tiefer, weil 6,76 Millionen Franken zwei verschiedenen Fonds entnommen werden können: 24,48 oder 14,88 Millionen Franken – letzteres, wenn die Abstimmung im Kanton angenommen wird und dieser zwei Stockwerke für die Pädagogische Hochschule kauft.

Ebenfalls zwei Zahlen kursieren zur Abstimmung im Kanton: Das Nein-Lager spricht von 17,6 Millionen Franken, die Befürworterinnen von 8 Millionen Franken. Richtig ist: Die zwei Stockwerke für die Pädagogische Hochschule soll der Kanton der Stadt für 17,6 Millionen Franken abkaufen. Im Gegenzug aber kauft die Stadt dem Kanton das Grundstück des ehemaliges Pflegezentrums auf dem Geissberg für 9,19 Millionen Franken ab – deshalb resultieren bei einem zweifachen Ja für den Kanton Kosten von 8,41 Millionen Franken. Das entspricht den bisherigen Mietkosten für den PH-Standort im Ebnat auf eine Dauer von knapp 21 Jahren.

In den oben genannten Kosten für die Stadt sind diese 9,19 Franken für das ehemalige Pflegezentrum nicht enthalten, doch sie erhält dafür eine Landreserve zu Marktpreisen. Folglich ist es richtig, von Nettoinvestitionen in der Höhe von 14,88 Millionen (Stadt) und 8,41 Millionen Franken (Kanton) zu sprechen – bei einem Ja zu beiden Abstimmungen.

2. Verkauf? Baurecht?

Die Gegner der Vorlage fordern, die Stadt solle die Liegenschaft nicht selber entwickeln, sondern im Baurecht an einen privaten Investor abgeben. Im Ja-Lager proklamiert aber die AL: «Nicht verkaufen! Selber machen!» Was also ist die von der FDP angestrebte Alternative? Verkauf oder Baurecht? Beides ist nicht ganz falsch. Wenn der Boden im Baurecht abgegeben wird, wird zugleich das Gebäude verkauft.

Ein Teil des Gebäudes, das zweite und das dritte Stockwerk, wird hingegen bei einem Ja im Kanton an diesen verkauft.

Das Ja und das Nein werden von mehreren verschiedenen Plakaten beworben. Foto: Julia Leppin
Das Ja und das Nein werden von mehreren verschiedenen Plakaten beworben. Foto: Julia Leppin

3. Superwaffe gegen Lehrermangel?

Im Kanton bewirbt das Ja-Komitee den neuen Standort der Pädagogischen Hochschule als Mittel im Kampf gegen Lehrermangel: «Die Erfahrung zeigt, dass hier ausgebildete Lehrpersonen oft eine Stelle im Kanton antreten.» Offensichtlich nicht oft genug – sonst wäre Lehrermangel kein Thema. Dass ein besserer PH-Standort mehr Studierende anziehen kann, leuchtet ein. Ob diese nach der Ausbildung aber auch eine Stelle im Kanton antreten, ist massgeblich von anderen Faktoren abhängig – etwa von den Löhnen, die jenseits des Rheins deutlich höher sind.

4. Indoktrination von Studis?

Auf der anderen Seite stellen einige Gegner eine noch gewagtere These auf: «Nun soll ausgerechnet die Pädagogische Hochschule (…) in eine linke Hochburg einziehen, damit den zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern von Anfang an die linke Doktrin eingehämmert werden kann», schreibt SVP-Grossstadtrat Markus Leu. Ganz davon abgesehen, dass der Präsident der Trägergenossenschaft des Kulturzentrums Kammgarn, Thomas Maag, FDP-Mitglied ist (und Befürworter), ist Leus Idee abstrus: Der linke Geist des Kulturzentrums soll so stark ins Nebengebäude wehen, dass beeinflussbare werdende Lehrpersonen quasi eine Gehirnwäsche erhalten und die Schule als Sozialistinnen verlassen. Mit der gleichen Logik müsste man annehmen, dass ein Uhrmacherlehrling bei der ebenfalls benachbarten IWC zum Antikapitalisten wird. Ein ziemlich abenteuerliches Argument, das es nicht einmal in die ziemlich spitz abgefassten Werbeunterlagen des Nein-Komitees geschafft hat.

5. Braucht eine Bibliothek Platz?

Was aber im Flyer der Gegner steht: Die Verdoppelung der Fläche für die Bibliothek sei «in Zeiten der Digitalisierung völlig übertrieben» und zu teuer. Dieses Argument blendet gleich mehrere Fakten integral aus: Erstens ist eine Bibliothek viel mehr als ein Ort, an dem Bücher ausgeliehen werden. Als Lernort beispielsweise ist die Bibliothek schon heute wichtig, eine Funktion, der in direkter Nähe zur PH noch mehr Bedeutung zukommen würde. Zweitens ist die Nutzung der Freihandbibliothek in den letzten Jahren rasant angestiegen und der Raum ist sehr knapp. Drittens würde sie am neuen Ort wieder mit der Ludothek zusammengeführt. Viertens müsste die Agnesenschütte in absehbarer Zeit umfangreich saniert werden.

6. Steigen die Steuern?

Das vielleicht wichtigste Argument der Gegner steht dick auf dem Plakat: «Steuern erhöhen?» Im Flyer wird konkretisiert: «Die Folge werden Steuererhöhungen sein», «der Stadtpräsident hat schon im Januar Steuererhöhungen angedroht». FDP und SVP beziehen sich dabei auf ein SN-Interview mit Peter Neukomm, das den Titel «93 Steuerprozente reichen nicht» trug. Nur: Er sprach dabei nicht von der Kammgarn, sondern allgemein vom Angebot der Stadt als regionales Zentrum und von «Investitionen in die Infrastruktur». Anlässlich einer Kleinen Anfrage beantwortete der Stadtrat die Frage nach höheren Steuern für die Kammgarn klar: «Die Investition in die Entwicklung des Kammgarnareals führt nicht zu einer Steuererhöhung.» Der Stadtrat stellte die Investitionen von 14,88 (oder allenfalls 24,48, siehe oben) Millionen Franken in den Kontext des Nettovermögens der Stadt: 251,4 Millionen Franken. Generell erhöht ein Gemeinwesen Steuern nicht wegen einmaliger Ausgaben, sondern wegen steigenden laufenden Kosten.

FDP und SVP unterschlagen ausserdem: Eine Steuererhöhung untersteht dem fakultativen Referendum, es kann darüber abgestimmt werden. Zuletzt haben die Bürgerlichen eine Steuererhöhung im Jahr 2019 spielend leicht verhindert.

7. Und wenn der Kanton Nein sagt?

«Der Kanton wird den Stockwerkkauf ablehnen und die Stadt bleibt darauf sitzen», schreiben die Gegner der Kammgarnvorlage.

Die Statistik sagt etwas anderes. In der laufenden Legislatur hat die Stimmbevölkerung bei 15 Abstimmungen nur zwei Mal anders entschieden als der Kantonsrat. Dennoch ist natürlich alles möglich. Bei einem Nein zur kantonalen Kammgarnvorlage hätte die Stadt laut den Gegnern ein hohes Leerstandsrisiko für die beiden Stockwerke, die für die PH vorgesehen sind, zu tragen.

Doch: Dieses Risiko ist klein, eine Mieterin zu finden, wäre kein Problem. Sonst wäre die Liegenschaft auch für einen privaten Investor, dem die Bürgerlichen den Vorzug geben wollen, nicht attraktiv. Zudem: Die Mieteinnahmen (laut Peter Neukomm bei Marktmiete weitere rund 600’000 Franken jährlich) würden die Differenz bei der Netto-Investition innerhalb von 16 Jahren wettmachen.

Wenn umgekehrt in der kantonalen Abstimmung ein Ja und in der Stadt ein Nein resultiert, wäre das ganze Projekt gescheitert: die Sanierung des Westflügels, der Umzug von Bibliothek und Ludothek, die Hofgestaltung, die Tiefgarage und der neue PH-Standort. Ebenfalls Makulatur wäre der Verkauf des ehemaligen Pflegezentrums vom Kanton an die Stadt.

Der Entscheid liegt bei der Stimmbevölkerung: Die Stimmzettel sind gedruckt, der Abstimmungskampf läuft bis am 30. August.