Bürgerlicher Showdown

17. Juli 2020, Romina Loliva
Thayngen hat die Wahl zwischen Marcel Fringer (FDP, links) und Andrea Müller (SVP): Unabhängigkeit oder Politdynastie? © Julia Leppin / Peter Pfister
Thayngen hat die Wahl zwischen Marcel Fringer (FDP, links) und Andrea Müller (SVP): Unabhängigkeit oder Politdynastie? © Julia Leppin / Peter Pfister

In Thayngen kämpfen die Landwirtschaftspionierin Andrea Müller und der engagierte Unternehmer Marcel Fringer um das Gemeindepräsidium.

In einem Punkt herrscht in Thayngen Einigkeit: Im Dorf soll bitte endlich Ruhe einkehren. Egal mit wem man dieser Tage spricht, die Leute holen tief Luft. Der Frust steht den Einwohnerinnen und Einwohnern ins Gesicht geschrieben. Und vielleicht auch etwas Scham. Der Grund ist die leidige Geschichte des Seniorenzentrums (siehe zuletzt die AZ vom 25. Juni), die schwer auf die sonst so stolze Thaynger Seele drückt. Das Image der einstigen Industriehochburg im Osten des Kantons ist erheblich ramponiert. Die Thayngerinnen und Thaynger hoffen deshalb fest auf Besserung und auf frischen Wind, wie man so üblich vor den Wahlen sagt. Philippe Brühlmann, der nun acht Jahre lang die Zügel in der Hand hatte, gab letztes Jahr bekannt, er trete nicht mehr an. Damals sprach er von «mannigfaltigen Gründen» und betonte stets, er fliehe vor nichts und niemandem, auch nicht vor dem Altersheim, er gehe, weil man gehen soll, wenn es am schönsten sei.

Den schönsten Moment, um abzutreten, hat er zwar nicht gewählt, aber wohl den richtigen.

Am 30. August entscheidet sich, wer das Erbe Brühlmanns antreten soll. Und an diesem Tag könnten die Thayngerinnen und Thaynger gleich zwei Seltenheiten erleben: Zum einen können sie zwischen zwei Kandidierenden auswählen, zum anderen könnte zum ersten Mal eine Frau die Führung der Gemeinde übernehmen.

Der soziale Unternehmer

Schon an der 1.-August-Ansprache vor zwei Jahren, so erzählt es Marcel Fringer, habe er zwischen den Zeilen angekündigt: Brühlmann werde 2020 Konkurrenz bekommen. Bereits damals sei er überzeugt gewesen, Thayngen brauche «einen Wandel». Dieser Meinung ist er auch geblieben. Im Januar gab der 52-Jährige seine Kandidatur bekannt – davon überrascht war im Dorf niemand.

Marcel Fringer brennt für die Politik, das sieht man ihm an. Und liest man die Unterlagen, die er zum Treffen mitbringt, spürt man, wie sehr. Er bemüht Grossbuchstaben und macht Thayngen quasi ein Heiratsversprechen: «ICH WILL». Brühlmanns Rücktritt ist die Gelegenheit, auf die er gewartet hat. Erste Erfahrungen in der Politik macht der gelernte Spengler und Sanitär, der sich bis zum HF-Dozenten weitergebildet und hochgearbeitet hat, Mitte dreissig. Acht Jahre lang sitzt er für die FDP im Gemeinderat und muss feststellen, wie langsam die politischen Mühlen mahlen. «Damit hatte ich Mühe. Habe ich heute noch», sagt er und gibt zu: «Ich bin ungeduldig.» Dennoch habe er einiges für die Gemeinde bewegen können, erzählt er: Die Einführung von Tagesstrukturen, das Label Energiestadt und den Kampf für die Biogasanlagen, die Thayngen zu einer der ökologisten Gemeinden des Kantons machen. 2017 wird er dann zum kantonalen Gewerbeverbandspräsidenten gewählt, 2019 kandidiert er chancenlos, aber mit grossem Elan für den Nationalrat und wird dann FDP-intern als möglicher Regierungsratskandidat gehandelt. Ist das Gemeindepräsidium nur Sprungbrett oder lediglich das einzige Amt, das ihm bleibt?

Seine Priorität sei aber immer Thayngen gewesen: «Ich bin hier verwurzelt», sagt er, seine Firma sei nun 20-jährig, er könne sich beruflich vollumfänglich auf die Gemeinde konzentrieren, «sie käme für mich an erster Stelle» erklärt er sich, «nach meiner Frau».

Thayngen sei eine Perle, die wieder funkeln müsse, meint Fringer. Als Gemeindepräsident wolle er sich um Firmenansiedlungen bemühen, träumt von Start-ups und wirtschaftlichem Aufbruch. Und gibt sich sehr konsensorientiert: «Firmen alleine bringen uns nicht vorwärts. Man braucht auch das gesellschaftliche Umfeld, damit Thayngen lebenswert bleibt.» Zeitgemässe Kinderbetreuung, ausgebaute Infrastruktur und ein Auge für die soziale Verantwortung im Dorf seien ihm sehr wichtig. Seine Aufzählungen wollen nicht enden, die Ideen sprudeln. Marcel Fringer legt sich ins Zeug, um zu zeigen, ich kann das, Thayngen aus der Starre befreien. Der sonst so gmögige, hemdsärmelige Mann wirkt aber auch besorgt. Denn so einfach wird es mit der Wahl nicht.

Als Industriegemeinde hat Thayngen eine rote Vergangenheit, die heute weitgehend verblasst ist. Seit nun 20 Jahren hat die SVP die Gemeinde fest in der Hand. Seit der Fusion mit den landwirtschaftlich geprägten Ortsteilen Altdorf, Bibern, Hofen und Opfertshofen im Jahr 2009 konnte die Partei ihre Stellung weiter ausbauen. Und weil man in der Politik Pfründen bekanntlich nur ungern aufgibt, war es nur eine Frage der Zeit, bis die SVP eine Nachfolge für Philippe Brühlmann aufstellen würde.

Die grüne SVPlerin

Die Dächer des Unterbucks leuchten von weitem in der Sonne. Die grosse Photovoltaikanlage ist der Traum jeder grünen Agrarpolitikerin. Schaut man sich die moderne Biogasanlage an und die Holzschnitzelheizung, die zusammen Strom und Wärme für rund 600 Haushalte, ein Schulhaus und vier Betriebe liefern, den fast autarken Energiekreislauf des Hofs, die optimierten Abläufe, weiss man: so sieht die Zukunft der Landwirtschaft aus. Und hört man Andrea Müller bei der Führung durch den Betrieb zu, ist schnell klar, Thayngen könnte tatsächlich neu eine Gemeindepräsidentin bekommen.

Die 49-Jährige ist kompetent, denkt strategisch und ist nicht zimperlich unterwegs. Zuerst als Maschinenzeichnerin tätig, dann in der Zürcher Verwaltung und später als Verkaufsleiterin bei Hugo Boss, braucht Müller nicht auf die gute Gelegenheit zu warten: «Es ging immer eine Türe auf», erzählt sie. In Thayngen landet sie der Liebe wegen, und als ihr Mann den Landwirtschaftsbetrieb der Familie übernimmt, steigt Andrea Müller mit Überzeugung in die Gummistiefel.

«Wenn ich etwas mache, dann richtig», definiert sie sich, der Erfolg des Betriebs gibt ihr recht. Sie absolviert die Bäuerinnenschule, bildet sich in Betriebsmanagement weiter und schärft nach und nach mit ihrem Mann das Profil des Betriebs. «Wir arbeiten nicht für die Direktzahlungen. Und sind davon überzeugt, dass sich nachhaltige Energien lohnen», sagt sie, von der Bittstellung mancher Berufskolleginnen und Parteikollegen keine Spur. Ist die SVP überhaupt die richtige Partei für sie? «Man findet keine Partei, die zu 100 Prozent zu einem passt», antwortet sie. In ökologischen Fragen weiche sie zum Teil stark ab von der Parteilinie – «da könnte ich auch grünliberal sein» –, gibt sie ungeniert zu, «die SVP hat es energiepolitisch verpasst, eigene Akzente zu setzen».

Ihr politisches Interesse sei schon immer vorhanden gewesen, erzählt sie, ihr Engagement natürlich gewachsen. Seit bald vier Jahren ist sie im Gemeinderat als Bildungsreferentin und nun möchte sie für die SVP das Präsidium sichern. «Thayngen soll wieder stolz auf sich sein», ihre Vision sei es, das Dorf zur attraktivsten Gemeinde des Kantons zu machen. «Wir sind hier sehr privilegiert», erklärt sie, «diese Lebensqualität soll erhalten bleiben». Neue wirtschaftliche Impulse, gute Schulen, Tagesstrukturen, eine endlich sanierte Badi, das ziehe junge Familien an und dafür wolle sie sich einsetzen.

Mit ihren Zielen unterscheidet sich Andrea Müller kaum von ihrem Gegenkandidaten, den sie auch persönlich gut kennt. Denn die Biogasanlage, für die sich Fringer seinerzeit im Gemeinderat so vehement eingesetzt hatte, ist diejenige beim Unterbuck. Das Interesse und den Einsatz für erneuerbare Energien haben sie gemeinsam. Beide sprechen kollegial und fair übereinander: Müller sei klug und umsichtig, meint er über sie, Fringer sei ein engagierter und guter Kommunikator, sagt sie über ihn. Aber wie stehen die Chancen?

Die Qual der Wahl

Andrea Müller kann die SVP-Wählerschaft hinter sich scharen, die sich auch von der unrühmlichen Rolle des Gemeinderats beim Seniorenzentrum nicht von ihrer Parteitreue abbringen lassen wird, ausserdem ist sie eine Müller wie der ehemalige Gemeindepräsident Bernhard Müller und stark mit der Gemeinde verflochten: als Energie-Produzentin, als Landbesitzerin und mit ihrem Familiennamen. Und als Frau könnte sie bei jenen punkten, die sich ein erstes weibliches Präsidium wünschen. Für manche gilt sie fast als gesetzt.

Marcel Fringer hingegen wirkt fast als Herausforderer. Er ist zwar unabhängig, unbelastet, in der Gemeinde bestens vernetzt, aber eben doch mit weniger Rückhalt als Müller. Die FDP-Wählerschaft ist ihm sicher, ohne die Unterstützung der Parteiungebundenen und der Linken könnte es allerdings knapp werden.

Für die SP ist die Situation jedoch schwierig. Die Partei hat es selbst nicht geschafft, eine Kandidatur aufzustellen, und hat für die Wahlen Stimmfreigabe beschlossen. Kapituliert man vor der bürgerlichen Wand?

«Links sind beide nicht», fasst Alt-Kantonsrat Richard Bührer die Situation zusammen, Andrea Müllers Haltung zur Energiepolitik sei unterstützenswert, Marcel Fringers Drang zu Veränderungen löblich. Eine bürgerliche Kandidatur zu unterstützen, damit tun sich die Genossinnen und Genossen aber schwer.

Leer einlegen? Das sei auch keine Lösung, sagt der ehemalige SP-Gemeinderat Stefan Zanelli. Man ist etwas ratlos.

Darum wird es wohl eine Wahl aus dem Bauch heraus und mit dem Parteibuch.