Julien Kabil fesselt regelmässig Menschen. Seile sind für ihn Kunst und Therapie zugleich.
«Die ist immer in Griffweite. Zur Sicherheit», sagt Julien Kabil und legt eine Schere neben sich auf den Teppich. Über ihm, an einem der Balken seiner Dachwohnung in der Schaffhauser Altstadt mit einem Seil befestigt, hängt ein Karabinerhaken. Wie das Schwert über Damokles baumelt er über unseren Köpfen. «Den brauchen wir heute nicht. Hängende Konstruktionen sind nur für Fortgeschrittene», sagt er zu meiner Erleichterung.
Julien und ich, wir sind zum Fesseln verabredet. Das heisst, er zum Fesseln, ich zum Gefesseltwerden.
«Vertrauen ist das Wichtigste», sagt er, während er das Seil in zwei gleich lange Enden teilt und in einer Schlaufe um meine auf dem Rücken verschränkten Arme legt. «Der oder die Gefesselte muss wissen, dass ich weiss, was ich tue. Die Kontrolle über seinen Körper gibt man nicht einfach irgendwem.»
Kein Fetisch, sondern Kunst
Fesselspiele, Bondage, dominante und submissive Rollen: In unserer Kultur lösen solche Begriffe meist Assoziationen mit schmuddeligen Sadomaso-Kellern und Fetisch-Milieus in Lack und Leder aus. Ganz anders ist das in Japan. Auch dort lassen sich Menschen fesseln, doch dient es dort einem anderen Zweck. Shibari, die japanische Version des Bondage, hat nicht primär den sexuellen Lustgewinn zum Ziel. Fesseln gilt als Kunst und der Gefesselte wird zum Kunstwerk. Die Ästhetik steht an oberster Stelle.
Mit Sexualität hat das Fesseln auch für Julien relativ wenig zu tun. «Ich hatte noch nie Sex mit jemandem, den ich gefesselt habe», sagt er. Und er hat schon Unzählige gefesselt. Seit drei Jahren sind Seile und Knoten sein Hobby. Das Wissen darüber hat er sich in Büchern und Kursen angeeignet und mit viel Übung perfektioniert. «Meistens fessle ich Models für Fotoshootings. Da geht es dann wirklich ausschliesslich darum, dass es gut aussieht.» Manchmal macht er die Fotos selbst, oft fragen ihn aber auch andere Fotografen an, ob er Models für ihr Shooting fesseln könne. Oder die Models fragen von sich aus.
«Es sind fast ausschliesslich Frauen, vereinzelt Männer», sagt er und zieht das Seil über meine Schultern unter dem anderen Arm durch. Langsam wird es eng. Männer fesseln Frauen – ist das zeitgemäss? Bildet das nicht problematische Geschlechterrollen ab? «Es gibt einfach wenige Männer, die sich fesseln lassen wollen», sagt Julien. Er sei sich der Problematik aber bewusst. Einmal habe er mit einer Künstlerin zusammengearbeitet, die sich aus genau dem Grund fesseln liess: Die Bilder sollten auf die Unterdrückung der Frau hinweisen. Mit einem Schmunzeln fügt er an: «Frauenkörper kann man auch einfacher fesseln, da hat es mehr Rundungen. Siehst du, bei dir ist das Seil schon wieder abgerutscht.»
Seile verbinden
Mittlerweile ist mein ganzer Oberkörper eingeschnürt. Die Hände sind auf dem Rücken fixiert, wenn ich sie zu bewegen versuche, drücken die vorderen Schlaufen auf den Brustkorb und machen das Atmen schwer. Befreien? Unmöglich. Julien versteht sein Handwerk. «Wie fühlt es sich an?», fragt er.
Beklemmend. Ausgeliefert.
Ich empfinde es nicht als unangenehm.Danach suchen würde ich aber auch nicht. Für andere ist genau dieses Gefühl der Grund, sich fesseln zu lassen. Während er die Knoten zu lösen beginnt, erzählt Julien von einer Freundin, mit der er sich regelmässig zum «ropen» trifft. «Wir reden viel darüber, was wir machen und wie sich das für uns beide anfühlt. Das ist wichtig», sagt er. Was er beschreibt, findet auf scheinbar einer ganz anderen Ebene statt als das, was er für die Fotoshootings inszeniert. Für die Freundin bestehe der Reiz darin, Kontrolle abzugeben, die Grenzen ihres Körpers zu spüren. Das geht in beide Richtungen. «Sie reagiert auf meine Bewegungen und ich auf ihre. Das Seil schafft eine Verbindung zwischen uns.» Fesseln, das sei eine Art Therapie für die beiden. «Sich selbst und den anderen zu spüren, ist Arbeit am eigenen Körpergefühl.»
Diese meditative, fast schon spirituelle Art des Fesselns praktiziere er erst seit einem halben Jahr. «Ich habe da eine ganz neue Welt entdeckt.» Das, was ihn hauptsächlich antreibt, scheint jedoch eher die Kunst zu sein. Julien ist Knotenkünstler. Aus seinem Bücherregal zieht er drei grossformatige Fotobände des japanischen Starfotografen Nobuyoshi Araki. Sein grosses Vorbild. Die Fotos des Grossmeisters wirken verspielt und authentisch. Aufnahmen von Tokyos Hochhäusern reihen sich zwischen Bildern von kunstvoll eingebundenen Frauen, hie und da taucht eine Godzilla-Actionfigur auf. Es sind Fotos, zu denen man sich augenblicklich eine Geschichte ausmalt, ohne dass man die echte Entstehungsgeschichte wissen will. Das würde die Magie zerstören. Die Frauen sind nackt, aber wirken natürlich, selbstbestimmt. Man spürt Respekt.
«Solche Bilder versuche ich auch zu machen», sagt Julien: Keine «Grüselfotos», sondern Kunst. Was er nicht ausstehen könne, seien Fotos, auf denen Frauen beispielsweise gekünstelt lasziv in die Kamera schauen, zu überschminkten und überbearbeiteten Sexobjekten gemacht werden. «Ich will sehen, dass man sich etwas überlegt hat und alle Beteiligten Spass daran hatten. Und dass es echt wirkt», sagt er.
Akt versus «Grüselbilder»
Er ist schmal, der Grat zwischen Akt und Pornografie, zwischen Kunst und «Grüselei». Und er ist subjektiv. Zwei Freunden hat Julien mit ihrem Dossier geholfen, das sie an einer Kunsthochschule einreichen wollten. Auf einigen Fotos waren, wer hätte es gedacht, gefesselte Frauen. Beide Bewerbungen wurden abgelehnt. Die Dossiers seien «zu pornografisch» gewesen, so die Hochschule.
Fesseln wird wohl nie Mainstream werden. Selbst die angeblich so weltoffene Kunstwelt, so scheint es, hat ihre Vorurteile. Eine verruchte Fetisch-Untergrundszene ist es aber auch bei uns schon lange nicht mehr. In Zürich gibt es gut besuchte Shibari-Räume, wo man unter professioneller Anleitung fesseln und gefesselt werden lernen kann. Alles, was man dazu braucht, ist etwas Empathie und Unvoreingenommenheit.
Die Abdrücke der Seile auf der Haut sind nach ein paar Stunden wieder verschwunden.