Der Seiltänzer

9. Juni 2020, Marlon Rusch
Strafverteidiger Thomas Fingerhuth wartet nach dem Prozess, bis sein Mandant im Polizeikastenwagen weggebracht wird.

Franz W. griff Menschen mit einer Kettensäge an. Notwehr, sagt sein Anwalt – denn W. sah Geister. Ein kühner Drahtseilakt.

Am Montag, den 24. Juli 2017, es war gegen 9 Uhr morgens, betrat ein verwirrter Mann in einer grünen Windjacke den Schaffhauser Bahnhof und bestellte einen Kaffee. Der Mann lebte in einem VW Caddy und trieb sich seit ein paar Wochen in der Region herum. An diesem Montagmorgen trug er einen Rucksack und eine weisse Umhängetasche mit sich. Und einen schwarzen Abfallsack mit länglichem Inhalt.

Nach dem Kaffee überquerte der Mann die Bahnhofstrasse und versuchte vergeblich, bei der Migrosbank Geld abzuheben. Wie er die nächste Stunde verbrachte, ist nicht bekannt. Doch um 10.30 Uhr betrat er die Filiale der CSS-Versicherung an der Vorstadt. Er stellte den Rucksack und die Tasche auf den Boden, zog eine Motorsäge aus dem Abfallsack – und liess sie aufheulen.

Was in den folgenden Minuten passierte, konnte man bald darauf bei CNN, im Guardian oder in der New York Times nachlesen: «Chainsaw terror».

Im 2. Obergeschoss der CSS bereitete sich ein Mitarbeiter an seinem Schreibtisch gerade auf ein Kundengespräch vor, als er sah, wie ein Mann mit Kettensäge und gläsernem Blick bestimmt auf ihn zukam. Der CSS-Mann sprang auf, schrie «nei, nei, nei!» und hielt den rechten Arm schützend über den Kopf. Vielleicht rettete ihm die Geste das Leben. In drei
Bogenbewegungen verletzte ihn den Angreifer mit der laufenden Kettensäge an der Hand, am Hinterkopf und an der Schläfe. Die Polizei wird später feststellen, es sei lediglich «glücklichen Umständen» zu verdanken, dass es zu keinen lebensgefährlichen Verletzungen des Schädels oder des Gehirns gekommen sei.

Von den Rufen aufgeschreckt, öffnete ein zweiter Mitarbeiter der CSS die Bürotür, sah die blutige Szenerie und begann zu schreien. Sofort wandte sich der Angreifer von seinem ersten Opfer ab und näherte sich dem zweiten Mann. Nachdem dieser zwei Hieben mit der Motorsäge ausweichen konnte, rannte er in den hintersten Teil des Büros, zu den Kopierern und Frankier­maschinen – mitten in eine Sackgasse. Schliesslich rettete ihn ein Hechtsprung über einen Korpus in Richtung der Eingangstüre. Dabei erwischte ihn der Angreifer mit der Kettensäge am rechten Brustkorb und am unteren Oberschenkel.

Als die beiden Mitarbeiter sich in Sicherheit gebracht hatten, ging auch der Angreifer die Treppe hinunter, packte seine Sachen zusammen, ging zum Bahnhof und stieg in den Zug nach Thalwil, wo er am nächsten Tag festgenommen wurde. In seinem Gepäck fand man zwei geladene Armbrüste. Mittlerweile kannte die ganze Schweiz seinen Namen: Franz W.


Dienstagmorgen, 26. Mai 2020, 8.30 Uhr. Franz W., grünes Shirt, kurz geschorene Haare, betritt in Handschellen zum zweiten Mal den Schaffhauser Gerichtssaal. Die erste Instanz, das Schaffhauser Kantonsgericht, hat im September 2019 festgestellt, dass er wegen seiner schweren psychischen Störung «nicht schuldfähig» sei, es hat jedoch eine «stationäre therapeutische Massnahme» nach Art. 59 StGB angeordnet.

Art. 59 StGB

Die «stationäre therapeutische Massnahme» nach Art. 59 des Strafgesetzes wird im Volksmund als «kleine Verwahrung» bezeichnet. Sie kann angeordnet werden, wenn Straftäter als psychisch gestört gelten und von denen die Gefahr weiterer Straftaten ausgeht. Nicht die Heilung steht im Vordergrund, sondern der Schutz der Gesellschaft. Der Täter soll aber auch lernen, «mit seiner Störung sozialverträglich umzugehen».

Der Freiheitsentzug dauert in der Regel maximal fünf Jahre, in denen die Täterin therapiert wird. Sind die Behörden der Ansicht, dass die Therapie nicht den gewünschten Erfolg bringt, können sie die Massnahme verlängern – so lange, bis sie den gewünschten Erfolg bringt. Auf diese Weise kann die «stationäre therapeutische Massnahme» faktisch in eine lebenslängliche Verwahrung übergehen.

Nun, vor Obergericht, erklärt Franz W. noch einmal, warum er damals mit der Kettensäge die CSS betreten hatte. Er sprudelt, redet von Geistern und übersinnlichen Kräften – und verstrickt sich dabei immer wieder in Widersprüchen.

Daneben sitzt, beinahe regungslos, ein schmaler Mann in schwarzem Anzug. Er trägt dieselbe Frisur wie Franz W., aber die Auftritte der beiden könnte unterschiedlicher nicht sein.

Gestatten, Thomas Fingerhuth, 57, «Star-Anwalt» (20 Minuten) von der Zürcher Goldküste, heimliche Hauptfigur der Causa Kettensäge. Der Seiltänzer.


Fingerhuth hat eine waghalsige Verteidigungslinie aufgebaut. Er geht in die Gegenoffensive und behauptet, beim Fall Franz W. eine «Gesetzeslücke» ausgemacht zu haben – die weitreichende Folgen für den Umgang mit Wahntätern haben könnte.

Verkürzt geht Fingerhuths Argumentationskette folgendermassen: Franz W. sei geistig verwirrt und somit nicht schuldfähig (Soweit sind sich alle Parteien einig. Der renommierte forensische Psychiater Elmar Habermeyer kam in seinem Gutachten über Franz W. zum Schluss, dieser leide an einer «schwerwiegenden chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie».). Weiter sagt Fingerhuth, sein Mandant habe geglaubt, die CSS-Mitarbeiter hätten versucht, ihn mit Geisteskräften zu töten. Mit der Motorsäge habe Franz W. sich nur gegen die Angriffe wehren wollen. In seinem Kopf habe er folglich in Notwehr gehandelt. Das Gesetz kennt dafür den Begriff «Putativnotwehr» – Notwehr aufgrund eines Irrtums. Diese Putativnotwehr besage nun, so Fingerhuth, dass die Tat «nicht rechtswidrig» sei. Und hier sind wir beim springenden Punkt. Wenn keine rechtswidrige Tat vorliege, sei eine Massnahme von Gesetzes wegen genauso ausgeschlossen wie eine Strafe. Ergo müsse sein Mandant Franz W. sofort in Freiheit entlassen werden. Und auch andere schizophrene Täter, die im Wahn handelten, liessen sich gemäss Fingerhuths Auslegung des Rechts nicht mehr in eine stationäre therapeutische Massnahme schicken.

Die Argumentation ist ein akrobatischer Stunt. Im Kern legt der Verteidiger den Gesetzesartikel 13 des Strafgesetzbuches (Sachverhaltsirrtum) extrem wörtlich aus, siedelt die Putativnotwehr in Artikel 13 an und macht diesen zum Zentrum seiner Argumentation. Damit produziert er einen juristischen Schwanzbeisser: Ein Wahntäter kann nicht in die Massnahme geschickt werden, gerade weil er einen Wahn hat.

Die Angelegenheit ist auch für Fachleute äusserst komplex. Der Strafrechtsprofessor Martino Mona von der Universität Bern nennt die Argumentation von Fingerhuth auf Anfrage der AZ «intellektuell sehr anregend».

Doch eigentlich soll es vor dem Schaffhauser Obergericht ja vor allem um eine Sache gehen: das Schicksal von Franz W.

Oder?


Als sich am Dienstagnachmittag, dem 26. Mai 2020, die Urteilseröffnung um 20 Minuten verzögert und der Verteidiger Fingerhuth noch hastig vor der Türe eine Zigarette raucht, wird er gefragt, ob die Verzögerung bei der Beratung des Gerichts Gutes verheisse für seinen Mandanten. Fingerhuth antwortet: «Wahrscheinlich streichen sie mir noch die Honorarnote zusammen. Das machen sie meistens, wenn es länger geht.» Er klang nicht übermässig empathisch.

Nachdem Franz W. einige Stunden zuvor lange erklärt hatte, was aus seiner Sicht abgelaufen war (und damit das Notwehr-Argument des Anwalts aufs Spiel gesetzt hatte), argumentierte Fingerhuth in seinem Plädoyer sinngemäss, man könne seinen psychisch schwer gestörten Mandanten nicht für voll nehmen. Franz W. habe im Wahn gehandelt, also sei auch seine Rekonstruktion der Geschehnisse zweifelhaft. Zur Beurteilung, so Fingerhuth, müsse man sich auf den Gutachter stützen.

Unter dem Strich sagte Fingerhuth also: Mein Mandant kann reden, was er will – spielt sowieso keine Rolle.

Thomas Fingerhuth und Franz W., Verteidiger und Mandant, sie erscheinen wie zwei Einzelspieler in einem Teamsport. Ihr Ziel ist dasselbe: Franz W. in Freiheit zu bekommen. Doch sie haben andere Strategien; der schillernde Anwalt mit seiner hochtheoretischen, ausgefuchsten Paragraphenjonglage und der verwirrte Mandant in seinem schizophrenen Wahn.

Das Obergericht hörte nicht auf Fingerhuth. Es befragte nicht den Gutachter – sondern hörte sich genau an, was Franz W. zu sagen hatte.

Bühne frei also für den Mann mit der Kettensäge.


Franz W. behauptet, er sei erst seit 1999 krank. Der heute 54-jährige gelernte Dachdecker hatte vor zwanzig Jahren einen Verkehrsunfall mit einer Vespa. Damals, sagt er, habe er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Er habe so starke Schmerzen gehabt, dass er aus seinem Körper gerissen worden sei, und bevor er zurückkehren konnte, habe man ihm schwarze Energien eingepflanzt. «Der Teufel existiert», sagt Franz W. Es ist eine gefährliche Welt, die in seinem Kopf gewachsen ist. Überall lauern Teufels­energien, Manipulationen und böse Mächte, die es auf ihn abgesehen haben. Seit Jahren schon führt Franz W. als IV-Bezüger ein Nomadenleben in der Schweiz – immer auf der Flucht vor den dunklen Mächten, immer wieder unter Todesangst.

Franz W. erklärt, er habe bei der CSS, mit welcher er schon früher erfolglos um Entschädigungen in Millionenhöhe wegen seines Unfalles und der gesundheitlichen Folgen gestritten hatte, kürzlich einen Diebstahl angemeldet. Man habe ihm aber die Erstattung verweigert, weil er die Prämie nicht bezahlt habe.

Am Sonntagabend, 23. Mai 2019, lag Franz W. auf der Matratze in seinem VW Caddy irgendwo in einem Wald bei Uhwiesen – und hatte Todesangst. Es war der Vorabend der Tat und er war sich sicher, dass die Mitarbeiter der CSS ihn gerade mit Geisteskräften traktierten. So erzählt er es detailreich vor Obergericht. Irgendwann habe er beschlossen, sich «zu wehren». Also habe er am nächsten Tag – mit Kettensäge – die Filiale an der Schaffhauser Vorstadt aufgesucht.

Diese Version der Geschichte greift Anwalt Fingerhuth auf – Putativnotwehr. Doch Franz W. sagt parallel dazu auch Sätze wie «Ja, ich war verärgert, weil sie sagten, ich hätte meine Beträge nicht bezahlt.» Oder: «Ich habe mich entschieden, mich zu wehren.»

Tatsächlich ist es unmöglich, in den kranken, verwirrten Kopf von Franz W. zu sehen.

Doch für die Argumentation von Anwalt Fingerhuth ist dieser auch nicht wirklich relevant. Ihm geht es um den nackten Gesetzesbuchstaben. Auf ihm führt er seinen Drahtseilakt auf.


«Der Fall ist juristisch sehr komplex», sagte die vorsitzende Richterin Eva Bengtsson gleich zu Beginn der Verhandlung.

Die erste Instanz, das Kantonsgericht, stellte sich auf den Standpunkt, es gebe keine Notwehrsituation, schliesslich habe Franz W. von sich aus die CSS aufgesucht und sei dort aktiv mit laufender Kettensäge auf die Mitarbeiter losgegangen. Staatsanwalt Peter Sticher wiederholte das Argument auch vor Obergericht: «Das war mehr ein Präventivschlag oder ein Racheakt.»

Doch wenn man davon ausgeht, dass sich Franz W. eine «latente Dauergefahr» vorstellt, wie sein Anwalt Fingerhuth es behauptet, so war sein Verhalten «alternativlos». Insofern wäre die Notwehr «gerechtfertigt» und das Handeln von Franz W. «nicht rechtswidrig». Die «Putativnotwehr» als Schlüssel zur Freilassung.

Das Obergericht sah die Sache anders. Im Kern befand es: Auch wenn Franz W. sich in einer Art Dauernotwehr befinde, könne diese den Angriff mit der Kettensäge nicht rechtfertigen. Ausserdem sei seine Wahnvorstellung auf der Ebene der Schuld (Art. 19 StGB) und nicht auf der Ebene der Rechtfertigung (Art. 13 StGB) zu behandeln. Das Obergericht wies die Berufung ab.

Der Seiltänzer Fingerhuth ist fürs Erste abgestürzt. Zu Recht?

Professor Martino Mona amüsiert sich am Telefon hörbar über die Komplexität von Fingerhuths Herleitung. Schliesslich sagt er, es könne tatsächlich sein, dass dieser eine Gesetzeslücke gefunden habe.

Falls es sie tatsächlich gebe, könnte man diese Lücke am einfachsten schliessen, indem man das Gesetz so anpasst, dass Massnahmen auch ohne eine «rechtswidrige Anlasstat» möglich wären.

Nach der Verhandlung sagt Fingerhuth in die Fernsehkameras und Radiomikrofone, das Obergericht habe einen Trick angewendet. Er werde den Fall höchstwahrscheinlich ans Bundesgericht weiterziehen.

So fühlt er sich wohl: Strafverteidiger Thomas Fingerhuth vor den Kameras und Mikrofonen der Nation.

Dort ist der Verteidiger kein Unbekannter. Erst gerade verteidigte er einen steinrichen Galeristensohn, der in einer Küsnachter Villa im Ketaminrausch seinem langjährigen Kumpel wieder und wieder einen sechs Kilogramm schweren Kerzenständer über den Schädel geschlagen und ihm schliesslich eine Kerze in den Rachen gerammt hatte, bis der 23-Jährige erstickt war. Der Galeristensohn hatte seinen Kumpel im Drogenwahn als grünes Männchen wahrgenommen, das ihn töten wolle. Fingerhuth konnte das Urteil der ersten Instanz (12,5 Jahre) vor dem Zürcher Obergericht im Dezember 2019 auf 3 Jahre herunterdrücken. Die Staatsanwaltschaft zog das Urteil weiter vor Bundesgericht.

Thomas Fingerhuth fühlt sich wohl im Rampenlicht. Dass er nach dem Küsnachter Fall auch den Fall Franz W. übernahm, lag nahe.

Natürlich will er die Freiheit für seinen Mandanten. Doch er sucht zweifellos die Aufmerksamkeit – wie jeder Seiltänzer. Und mit der «Gesetzeslücke» hat er sie auf sicher.

In seinem Plädoyer sagte Fingerhuth: «Ob es für die Gesellschaft nötig ist, Franz W. mit einer Massnahme zu belegen, ist heute kein Thema. Wir dürfen uns nicht anmassen, Leute mit Massnahmen zu belegen, die keine Straftat begangen haben.» Sein Mandant müsse freigelassen werden.

Dies, obwohl Gutachter Habermeyer, dessen Urteil Fingerhuth mehr vertraut als seinem eigenen Klienten, Franz W. eine «hohe Rückfallgefahr» attestierte und ausführte, dass diese nur mit einer stationären therapeutischen Massnahme in einer spezialisierten forensisch-psychiatrischen Institution gesenkt werden könne.


Dort wird Franz W. vorläufig bleiben. Allzu schlecht scheint es ihm dort nicht zu ergehen. Mal abgesehen von der Zwangsmedikation. Er ist fasziniert von der Natur und freut sich, hoffentlich bald in der Gärtnerei arbeiten zu dürfen. «Ich habe bereits Tomaten gesetzt. Es ist ein Wunder für mich, wie viele Informationen in einem einzigen Keim stecken», sagte er vor Gericht. Ausserdem haben es ihm die Stationshühner angetan. Kürzlich habe er ein spannendes Buch geschenkt bekommen: «How to speak chicken: Warum Ihre Hühner tun, was sie tun, und sagen, was sie sagen».

Vielleicht kann er so die Geister ein wenig vergessen. «Die Natur», so Franz W., «ist die Gegenkraft zum Bösen.»


Für Fingerhuth war das Obergericht wohl nur ein Testlauf. Für den wahren Drahtseilakt vor Bundesgericht.