Das Internet der Tiere

8. Juni 2020, Luca Miozzari
Der Eber Eberhard in seinem Element.
Der Eber Eberhard in seinem Element.

Künstliche Intelligenz auf dem Bauernhof? Das Freudental scheint seiner Zeit voraus zu sein.

Seit fast zweieinhalb Jahrhunderten trotzt es dem Zahn der Zeit, das abricot-farbene Haus am unteren Ende des Freudentals. Ein gewisser Ratsherr Johann Jacob Ziegler von Rosenberg soll es 1781 als Landsitz erbaut haben. Bereits 10 Jahre später verkaufte er das Anwesen an den Stubenwirt von Merishausen, Jakob Meister. Auch seinen Hauptwohnsitz am Herrenacker veräusserte der Schaffhauser Edelmann noch im selben Jahr und verliess die Region. «Der hat bestimmt seine Gulden eingesackt und ist nach Amerika abgehauen», vermutet Thomas Disch, der sich über die Geschichte seines Hofes schlau gemacht hat. Noch besser aber gefällt ihm eine andere Theorie: «Vielleicht hat er sein Gold hier irgendwo vergraben.»

Zusammen mit seinem Lebenspartner Winston Fang ist der Zürcher vor vier Jahren auf den Weiler im Freudental gezogen. Die Gulden von Ratsherr Ziegler haben die beiden noch nicht gefunden, dafür das postmoderne Äquivalent: Bitcoins. Seit März dieses Jahres kann man in ihrem Selbstbedienungs-Hofladen nämlich mit der Kryptowährung bezahlen. Statt eines «Buurekässeli» steht dort eine Checkout-Station wie beim Grossverteiler, mit Touchscreen, Scanner und Kartenlesegerät. Eine computergenerierte Frauenstimme erklärt dem Käufer jeden Schritt. Wer zusätzliche Unterstützung braucht, drückt auf den Hilfe-Knopf. Thomas Disch erhält dann eine Benachrichtigung auf seinem Smartphone und kann den Kunden per Videochat beraten. Surreal. Die Tech-Avantgarde auf dem Bauernhof?

Silicon Valley Freudental?

Pardon, Bäuerinnenhof. Thomas Disch ist nämlich die erste männliche Bäuerin der Schweiz. Zu diesem Titel berechtigt ihn sein Diplom der bäuerlich-hauswirtschaftlichen Fachschule. Als erster Mann überhaupt hat er dort die sogenannte Bäuerinnenschule abgeschlossen. Dann kündigte er, mit knapp 50 Jahren, seinen Job als Informatiker und kaufte den Hof im Freudental. Seine Affinität zur Technik hat er allerdings nicht aufgegeben. Sie ist Teil seines Geschäftsmodells, seiner Vision eines vernetzten Agrarbetriebes. Die Bitcoins im Hofladen sind nur die Spitze des Eisberges. «Smart Farming» lautet sein Zauberwort. «Meine Tiere sind videoüberwacht», verkündet Disch und zeigt auf die Kameras, die an der Stalldecke hängen. Per App kann er von überallher auf die Bilder zugreifen. Keine Bewegung der jungen Engadinerschafe in ihrem Gehege bleibt unbemerkt. Vorausgesetzt, Thomas Disch schaut in den Livestream. Dazu hat er an einem durchschnittlichen Tag jedoch kaum Zeit, denn auf dem kleinen Weiler im Freudental lebt so ziemlich alles, was das Bauernherz begehrt. Den Stall teilen sich die Engadinerschafe mit Hasen, Hühnerküken und jungen Wachteln. An der Decke hängen Schwalbennester und ganz hinten stehen zwei Pferde. Ausserdem leben auf dem Hof noch Hühner, Perlhühner und drei Turepolje-Wollschweine. Einen Bienenstock hat es auch. Kürzlich habe sogar der höchst seltene Wiedehopf vorbeigeschaut, erzählt Disch. «Das musste ich geheimhalten, weil ich sonst von Ornithologen überrannt worden wäre», sagt er.

Der Vogel ist mittlerweile weitergezogen. Aber er war da. Für Disch ein Zeichen, dass es funktioniert. Sein erklärtes Ziel ist Biodiversität. Die Wiesen auf dem Hof werden nur zweimal im Jahr gemäht, Gülle ist tabu, eine Sandbank bietet Lebensraum für Wespen und Reptilien, mit grossen Steinblöcken hat Disch Höhlen für Igel und allerlei Kleintiere geschaffen. «Wir wollen unseren Betrieb möglichst naturnah gestalten», sagt Disch. Er sympathisiert mit den Ideen der Permakultur- und Demeterbewegung. Das heisst: Pflügen ist verboten, chemische Dünger sowieso, statt gegüllt wird gemulcht. Maschinen gibt es keine, alles wird in schweisstreibender Handarbeit erledigt. Der Erhalt der Biodiversität wird dem landwirtschaftlichen Ertrag übergeordnet.


So weit die ökologische Dimension des Projekts Freudental. Aber Thomas Disch wäre nicht Thomas Disch, wenn er nicht noch einen draufsetzen würde. Und in Winston Fang, ebenfalls Informatiker, hat er den perfekten Komplizen gefunden.

Der Hühner-Überwachungsstaat

Zeit für einen Blick in den Hühnerstall. Dazu müssen wir nicht einmal in das kleine Holzhäuschen eintreten. Ein Blick auf das Smartphone reicht, denn auch das Geflügel wird per Kamera überwacht. Und nicht nur das. Hier hat die künstliche Intelligenz Einzug gehalten. Fang hat einem Rechner beigebracht, auf den Kamerabildern aus dem Hühnerstall die einzelnen Hühner als solche zu erkennen, zu zählen und ihre Bewegungen zu registrieren. «Chicken Vision» nennen die beiden ihr System. Gepaart mit Törchen, die sich ferngesteuert öffnen und schliessen lassen, ersetzt es quasi den Landwirt: Das System erkennt, wenn am Abend alle Hühner zurück im Stall sind, und schliesst das Törchen, um Fuchs und Marder von den Tieren fernzuhalten. Am Morgen öffnet es den Ausgang wieder, damit die Hühner ins Freie gehen können.

Das Master-Mind hinter dieser Erfindung ist Winston Fang. «Ich musste auf hunderten von Bildern die Hühner markieren und sie in den Computer einspeisen, damit er lernt, die Tiere von selbst zu erkennen», erzählt er. Auch weitere Anwendungen seien vorstellbar. Zum Beispiel könnte man dem Computer beibringen, zu erkennen, wenn ein Huhn ein Ei gelegt hat oder wenn eines krank ist. Das Ganze wirkt wie eine Kombination aus den beiden Orwell-Klassikern «1984» und «Animal Farm». Ein totalitärer Hühner-Überwachungsstaat.

Ein anderes Projekt der beiden Smart-Farmer steht auf dem Hasengehege. «Das sind Kaninchen der Rasse Rex. Sie haben kein Oberhaar und sind deshalb besonders flauschig. Fast wie Chinchillas», sagt Disch und streicht einem der Hasen über den Rücken. Er hält sie mit der Absicht, aus ihrem Fell später Pelzprodukte herzustellen. Bis dahin müssen sie aber noch ein wenig wachsen. Und fressen. Damit man sie nicht jeden Tag von Hand füttern muss, haben Disch und Fang eine Maschine gebaut, die genau das macht. Aus einem Behälter mit Trockenfutter lässt eine Förderschnecke die richtige Menge in ein Rohrsystem fallen, das zu den Futternäpfen führt. Auf Knopfdruck lässt sich zudem auch der Wassernapf der Tiere auffüllen.

Die nötigen Teile hat Fang in seinem 3D-Drucker hergestellt, so wie fast alle der smarten Gadgets auf dem Hof. Statt mit Kunststoff, wie die meisten 3D-Drucker, druckt sein Modell mit biologisch abbaubarer Maisstärke. «Man könnte die Teile theoretisch essen», sagt er. Empfehlen würde er es aber nicht.

Traum: Tiere ohne Zäune

Mit der Landwirtschaft und der Tierhaltung hat Fang im Gegensatz zu Disch nicht viel am Hut. Er interessiert sich vor allem für die technischen Herausforderungen. Anders als sein Partner hat er einen «normalen» Job bei einer Zürcher IT-Beratungsfirma. «Das hier ist mein Hobby», sagt er. Ein Hobby, für das er momentan aufgrund des  Wochenaufenthalts auf dem Bauernhof jede Menge Freizeit zur Verfügung hat.

Muss er auch, denn die beiden haben grosse Ziele, dafür dass es nur ein Hobby ist. «Unser ultimatives Ziel wäre, Viehhaltung ohne Zäune zu ermöglichen», sagt Disch. Mit Zäunen hat er so seine Mühe. «Sie aufzustellen und instandzuhalten bedeutet viel Arbeit», sagt er. Seine Idee: Halsbänder mit GPS-Ortung, die die Tiere mit Geräuschen oder elektrischen Impulsen darauf hinweisen, dass sie gerade die Grenze ihrer Weide übertreten. «Sowas gibt es bereits für Hunde. Bei Schafen dürfte es komplizierter werden. Die erschrecken, wenn sie einen Stromschlag kriegen, und rennen erst recht weiter», vermutet er. Ausprobiert hat er es nicht. Noch nicht.

«Was häsch» vs. «Was willsch»

Smart Farming, das beinhaltet für Disch nicht nur eine Arbeitserleichterung auf dem Hof selbst. Er will auch den Vertrieb seiner Produkte selbst gestalten. Anders als viele andere Betriebe verkauft er alle Lebensmittel, die er herstellt, im eigenen Hofladen und gibt nichts an Grossverteiler weiter. Dies vor allem, weil er mit den Praktiken der Lebensmittelindustrie nicht einverstanden ist. «Es wird zu viel verschwendet», sagt er. Ausserdem wolle er sich nicht von der Preispolitik der Grossabnehmer abhängig machen.

Das Problem der Verschwendung sieht er vor allem in der Fleischindustrie. «Es gibt so viele Stücke an einem Tier, von dem die Menschen heute nicht einmal mehr wissen, dass man es essen kann. Das Zwerchfell von einem Schwein zum Beispiel ist äusserst zart», sagt er. Seine eigenen Tiere verwertet er deshalb nach dem «Nose-to-Tail»-Prinzip. Alles, was erlaubt ist, wird verkauft. Damit auch wirklich alles einen Abnehmer findet, ist vorgesehen, dass er seine Tiere erst schlachtet, wenn alle ihre Teile bereits verkauft sind. «Ich glaube, dass Tiere auf der Weide glücklicher sind als in der Tiefkühltruhe», sagt er. Logistisch löst er das mit einer Online-Fleischtheke, bei der die Kunden angeben können, welche Stücke sie kaufen wollen.

Ansonsten funktioniere sein Vertrieb eher nach der «Was häsch»- als nach der «Was willsch»-Maxime, sagt Disch. Kunden, die genau wissen, was sie kaufen wollen, seien bei ihm ziemlich fehl am Platz, denn sein Angebot verändere sich ständig, je nach Saison und Verfügbarkeit von Fremdprodukten. «Mein Konzept passt eher für Leute, die spontan und offen für Neues sind», sagt er.

Relativ planbar ist die Produktion von Eiern. Um die Hühner-, Wachtel- und Perlhuhneier an den Mann zu bringen, haben die beiden Tüftlerbauern einen eigens dafür konzipierten Vertriebskanal aufgebaut: Regelmässige Eierkonsumenten können über den sogenannten «Freudental Buddy» ihre Bestellung von zuhause aus hinterlegen. Der Buddy ist ein kleines weisses Kästchen, das ans Internet angeschlossen wird. Auf der Oberseite befindet sich ein Knopf und ein Display. Wer den Knopf drückt, bestellt automatisch eine gewisse Menge an Eiern. Zweimal drücken bedeutet die doppelte Menge, dreimal die dreifache, und so weiter. Über das Display kann Disch seinen Kunden zudem Neuigkeiten mitteilen. Genutzt werde das Gerät bisher von fünf Kunden.

Spinner oder Visionäre?

Das Freudentaler Zweierteam sprüht nur so vor Erfindergeist und Selbermach-Attitüde. Wenn Thomas Disch beispielsweise von einem geplanten Rohrsystem mit Förderband erzählt, das seine Wachteln aus dem Stall auf die Weide befördern soll, kann man gar nicht anders, als sich zu fragen: Sehen so Visionäre aus oder sind das einfach zwei Spinner? Ist das die Zukunft der Landwirtschaft?

Schwer zu sagen. Bisher sind die Smart-Farming-Gadgets im Freudental vor allem eines: technische Spielereien. Einen nennenswerten Nutzen bringen sie nicht. Die Prinzipien dahinter hingegen, die Vernetzung von intelligenten Systemen (Stichwort «Internet der Dinge») sowie die Nutzung von Online-Kanälen und digitalen Zahlungsmitteln sind Tendenzen, die auch in anderen Wirtschaftszweigen zu beobachten sind. Wieso also nicht in der Landwirtschaft? Der Hof im Freudental zeigt, dass mehr Technologie und ökologischere Anbaumethoden sich nicht widersprechen müssen.