1700 Gesuche für Kurzarbeit, 116 Kontrollen, keine einzige Betriebsschliessung: Vivian Biner, Leiter des Schaffhauser Arbeitsamtes, über den Umgang mit der Coronakrise.
AZ Vivian Biner, wie ist die Lage beim Arbeitsamt zurzeit?
Vivian Biner Die Situation hat sich etwas beruhigt. Am Anfang wurden wir mit Anfragen überrannt. In den ersten zwei Tagen nach dem 16. März, als der Bundesrat die ausserordentliche Lage verkündet und Betriebsschliessungen angeordnet hatte, sind bei uns über 1000 Telefonate eingegangen. Ausserdem trafen täglich etwa 200 Gesuche für Kurzarbeit per Post oder per Mail ein. Gleichzeitig haben wir alle Mitarbeitenden ins Home Office geschickt. Das war ein grosser Hosenlupf, aber es hat soweit alles funktioniert. Inzwischen kommen weniger als zehn Gesuche pro Tag rein. Bis heute waren es insgesamt 1704, davon haben wir 1691 Gesuche bearbeitet, also 99 Prozent.
Wie viele Personen sind von Kurzarbeit betroffen?
Insgesamt wurde bei den Voranmeldungen für 15 789 Angestellte Kurzarbeit beantragt, der Mittelwert des Arbeitsausfalls beträgt 82 Prozent. Man muss aber dazu sagen, dass nicht zwingend alle diese Angestellten auch wirklich in Kurzarbeit gehen mussten. Wie viele es sind, wird erst bei den Abrechnungen eruiert. Dafür sind dann aber die Kassen zuständig, jene des Kantons oder jene der Gewerkschaften. Einzelne Betriebe haben lediglich vorsorglich ein Gesuch eingereicht.
Mussten Sie auch Gesuche ablehnen? Und weshalb?
Der wirtschaftliche Ausfall darf nicht zum sogenannten normalen Betriebsrisiko gehören. Also wenn beispielsweise ein Unternehmen nur einen Kunden hat und dieser wegfällt, dann kann das Unternehmen dafür keine Kurzarbeit geltend machen, weil dieser Fall zum normalen Betriebsrisiko gehört. Ein Unternehmen muss damit rechnen, dass einmal ein Kunde abspringt. In solchen Fällen kann keine Kurzarbeit gewährt werden.
Wie kontrollieren Sie, welches Unternehmen einen berechtigten Anspruch geltend macht?
Im Normalfall benötigen wir zwei, drei Tage, um ein Gesuch zu bearbeiten. Bei Unklarheiten laden wir den Betrieb ein und hören ihn an, um entscheiden zu können. In der aktuellen Situation konnten aber viele Gesuche schnell bewilligt werden, beispielsweise in der Gastrobranche. Der Bund hat klar gesagt, dass Ausfälle aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht zum normalen Betriebsrisiko gehören. Dann prüften wir bei Einzelfirmen, ob möglicherweise die Erwerbsersatzordnung EO zuständig ist. Und dann gab es Unternehmen, die nur eine Person gemeldet haben. Bei diesen Fällen prüften wir beispielsweise mit den Einträgen im Handelsregister, ob es sich um den Firmeninhaber handelt. Wenn das nicht der Fall war, wurde das Gesuch bewilligt.
Wie viele Gesuche mussten insgesamt abgelehnt werden, weil kein Anspruch bestand?
Eine Handvoll. Es geht schliesslich um die Frage: Besteht ein Zusammenhang zum Coronavirus oder nicht? Man merkt schnell, dass praktisch überall ein Zusammenhang besteht, auch in der Baubranche. Wenn beispielsweise ein privater Bauherr sagt, er lasse zurzeit keine Handwerker mehr ins Haus, gibt es bereits einen Zusammenhang. Ausserdem ist wichtig: Wir entscheiden nicht alleine, wir machen nur die erste Prüfung. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schaut danach alles noch einmal an. Es gab ein paar wenige Fälle, wo das Seco anders entschieden hat als wir. Zudem werden nach der Abrechnung Revisionen durch das Seco durchgeführt. Es wird also schon intensiv geprüft. Vielleicht wird es noch mehr solche Seco-Entscheide geben. Man muss aber auch die Relationen berücksichtigen. Bei uns sind jetzt 1700 Gesuche eingegangen, bei der Finanzkrise waren es seinerzeit 99. Das ist eine riesige Flut.
«Zu 100 Prozent lässt sich ein Missbrauch nicht verhindern»
Vivian Biner
Da stellt sich automatisch die Frage, wie viel Zeit überhaupt bleibt, um ein Gesuch auf Falschangaben zu prüfen und Missbräuche zu verhindern.
Wir können einen Missbrauch natürlich kaum feststellen. Wir müssen ein Stück weit auf die Unterlagen vertrauen, die uns von den Unternehmen übergeben werden. Absichtliche, schwerwiegende Falschangaben wie Urkundenfälschungen würden aber auf jeden Fall eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft nach sich ziehen. Das ist ein Offizialdelikt. Ausserdem werden die Kassen und der Bund bei den Abrechnungen sicher sehr genau hinschauen. Es gab schon Betriebe, die etwas zurückzahlen mussten, weil sie teilweise ungerechtfertigt Kurzarbeit in Anspruch genommen haben. Das sind aber Einzelfälle. Seit ich Leiter des Arbeitsamtes bin, haben wir noch nie eine Strafanzeige aufgeben müssen. Zu 100 Prozent lässt sich ein Missbrauch zwar nicht verhindern, aber ich denke, es gibt gute Mittel, um den Schaden in Grenzen zu halten.
Wie viele Betriebe machen absichtlich Falschangaben?
Es sind einzelne Unternehmen, welche in der Vergangenheit trotz Kurzarbeit weiterhin gearbeitet haben. Es kam schon vor, dass uns die Nachbarschaft eines Betriebes darauf hingewiesen hat, im Betrieb brenne die ganze Zeit das Licht. Oder es gibt betroffene Mitarbeitende, die uns berichten, dass sie in Kurzarbeit seien, aber trotzdem arbeiten müssten.
Wenn Personen verdächtigt werden, zu Unrecht Sozialhilfe oder eine Invalidenrente zu beziehen, werden sie teilweise mithilfe von Detektiven überwacht. Warum geschieht das bei verdächtigen Unternehmen nicht?
Wir haben durchaus die Möglichkeit, mithilfe des Arbeitsinspektorats Kontrollen durchzuführen. Und wir kennen einige Betriebe bereits aus der Vergangenheit. Wir wissen also, wo wir kontrollieren müssen. Aber wie bereits gesagt: Das Problem bei der Voranmeldung ist, dass der Betrieb ja vielleicht noch gar keine Kurzarbeit in Anspruch genommen und abgerechnet hat. Was wir aber machen, sind Kontrollen, um zu prüfen, ob die Hygieneregeln eingehalten werden. Wir haben inzwischen 116 Betriebe vor Ort geprüft und werden weitere Kontrollen vornehmen. Wir müssen jetzt nach den Lockerungen genau darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden. Es gab auch schon gewisse Hinweise vonseiten der Polizei.
Mussten schon Betriebe geschlossen werden, weil sie sich nicht an die Regeln gehalten haben?
Nein. Wir setzen zuerst einmal auf Empfehlungen. Wenn beispielsweise in einem Geschäft keine Plexiglasscheibe montiert ist, um die Person an der Kasse zu schützen, dann sagt unser Kontrolleur, er komme zeitnah wieder und dann müsse eine Scheibe montiert sein. Diese Empfehlungen haben die Leute geschätzt, deshalb wurden sie bisher auch stets umgesetzt. Lediglich Teilbereiche mussten an manchen Orten abgesperrt werden. Wenn die Auflagen aber bei Nachkontrollen immer noch nicht eingehalten werden, ist eine Betriebsschliessung sicher ein Thema.
«Wir müssen jetzt genau darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden»
Vivian Biner
Hat sich denn das Instrument der Kurzarbeit aus Ihrer Sicht bewährt? Dieses Mittel ist ja auf sechs Monate begrenzt. Wenn eine zweite Welle kommt und viele Geschäfte erneut schliessen müssen, könnten diese sechs Monate schnell erreicht sein. Kommt dann eine Kündigungswelle?
Das Mittel der Kurzarbeit hat sich schon während der Finanzkrise bewährt. Die Frage ist, wie die Wirtschaft jetzt wieder anläuft. Das hängt auch mit der Lage der Weltwirtschaft zusammen. In der Gastronomie wird es sicher nicht ganz einfach. Ich kann mir vorstellen, dass einige Leute noch nicht ins Restaurant gehen, weil gewisse Ängste vorhanden sind. Deshalb rechnen wir damit, dass wir im Sommer mehr Arbeitslose haben werden.
Findet man denn einen neuen Job, wenn man jetzt seine Stelle verliert?
Wir konnten schon noch einige Stellen im Bereich KV, in der Pharmabranche, in der Logistik und im Bau vermitteln. Grundsätzlich spielt der Stellenmarkt noch. Und obwohl die Stellenmeldepflicht zurzeit ausser Kraft ist, erhalten wir immer wieder Stellenausschreibungen zugeschickt. Es ist aber auch klar, dass gerade im Gastrobereich eine gewisse Zurückhaltung spürbar ist.
Wie sieht es beim Personal des Arbeitsamts aus? Wie konnte der Aufwand geleistet werden, um all die Gesuche zu bearbeiten?
Teilweise waren bis zu 26 Personen damit beschäftigt. Ich habe eine enorme Loyalität im ganzen Team erlebt, die nicht selbstverständlich ist. Es gab Leute, die eigentlich erst ab dem 1. April bei uns angefangen hätten, aber schon Mitte März für uns telefoniert haben.
Das heisst, es braucht nicht mehr Personal beim Arbeitsamt?
Doch, das braucht es. Wir rechnen mit einer Arbeitslosigkeit von schweizweit vier Prozent. Daran orientieren wir uns. Bundesrat Guy Parmelin hat sogar einmal von sieben Prozent gesprochen. Das wäre gegenüber dem Stand vor der Krise eine Verdoppelung. In Schaffhausen müssten wir dann rund 30 Leute einstellen. Das wird nicht möglich sein, aber zwei, drei neue Stellen werden noch dazukommen, eine Person wurde bereits angestellt. Und vielleicht werden in Zukunft Beratungen für Stellensuchende nicht mehr jeden Monat, sondern nur noch alle zwei oder drei Monate möglich sein.