Die Voraussetzungen für die private Schulung sind zu streng. Zu diesem Schluss kommt die Regierung. Eine Schlappe für den Erziehungsrat und für seinen Präsidenten – Regierungsrat Christian Amsler.
Als ihr erster Sohn in den Kindergarten kommt, merkt Familie M., dass etwas nicht stimmt. Er sei ein fröhliches Kind, voller Staunen und Neugier, das plötzlich nicht wieder zu erkennen gewesen sei, erzählt die Mutter: «Nach dem Chinzgi war er immer total aufgekratzt, manchmal regelrecht aggressiv.» Die Situation verschlechtert sich zusehends. Das Kind fängt an, schlecht zu schlafen, mit den Zähnen zu knirschen. Die Eltern machen sich Sorgen um seine psychische Verfassung. Und sind bald überzeugt: Die Schule macht ihr Kind krank.
Die junge Familie mit drei Kindern wohnt in einem der kleinsten Dörfer des Kantons. Die Mutter ist Pflegefachfrau, der Vater Erwachsenenbildner. Ein Familienleben nebenbei hätten sie nie gewollt, erzählt die Mutter, sondern die Familie im Leben mittendrin. Die Probleme des Sohnes sind für alle eine Belastung: «Ich dachte nicht von Anfang an über Homeschooling nach», sagt die Mutter, «aber ich wollte eine Lösung.» Sie habe sich intensiv mit dem Schulsystem auseinandergesetzt, sich in Studien eingelesen, Literatur über Lernprozesse gewälzt, private Schulen besucht, nur war keine Lösung in Sicht: «Ich wusste nur, dass mein Kind leidet und dass die Schule ihm nicht guttut», irgendwann dachte sie: Warum versuche ich es nicht selbst?
Grundsätzliche Skepsis
Der Heimunterricht, Homeschooling genannt, wurde während des Lockdowns kurzzeitig zum Normalfall. Ansonsten ist er aber eine Randerscheinung. Obwohl in der Schweiz flächendeckend Schulpflicht herrscht, werden die Daten nicht systematisch erhoben. Die Anzahl Kinder, die in der Schweiz zu Hause unterrichtet wird, steigt jedoch kontinuierlich an. Gegenwärtig schätzt man sie zwischen 2000 und 2500. Manche dieser Kinder haben noch nie eine Schule von innen gesehen.
Anfänglich wurde Homeschooling hauptsächlich von Evangelikalen betrieben, deren Weltanschauung mit den Inhalten der Volksschule kollidierte. Pluralismus, Offenheit gegenüber anderen Kulturen oder Sexualkunde, wie sie in der Volksschule vermittelt werden, sind streng Religiösen oft ein Dorn im Auge, wie sich besonders im Widerstand gegen die Einführung des Lehrplans 21 zeigte. Familien, die ihre Kinder in keine private, freikirchliche Schule schicken konnten, entschieden sich für Homeschooling. Über die Zeit hat sich das Phänomen zu einer heterogenen Bewegung entwickelt. Systemfragen haben an Bedeutung gewonnen, die inhaltliche Kritik an den Lehrinhalten ist leiser geworden. Spuren finden sich dennoch. Auf der Webseite des Vereins Bildung Zuhause, der sich für die Rechte von Homeschooling-Familien einsetzt, finden sich neben Zielen, wie die Unterrichtsfreiheit und Selbstbestimmung, auch Kommentare über die Abschaffung der Schulpflicht, gegen die «Sexualisierung der Volksschule» und eine allgemeine und deutliche Skepsis gegenüber dem Staat, die in einzelnen Beiträgen in fundamentaler Ablehnung gipfelt.
Im Einzelfall geht es dann um Kinder und Eltern, die nicht in die Schule passen oder von der Schule nicht passend gemacht werden sollen. Etwa um hochbegabte Kinder, die aus der Sicht der Eltern nicht richtig gefördert werden, um Mobbing-Situationen, um Konflikte mit den Lehrpersonen oder um Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die zu kurz kommen.
Wie bei Familie B., die in einem anderen Zipfel des Kantons lebt. Ähnlich der Familie M. haben die Probleme bereits beim ersten Kind im Kindergarten angefangen. Die Mutter, selbst Kindergärtnerin, findet an einem Nachmittag kurz Zeit für ein Telefongespräch. «Für unseren Sohn war der Kindergarten eine grosse Belastung.» Sie hätten rasch gemerkt, dass ihr Kind, statt Erfolgserlebnisse zu haben, stark gestresst war: «Die Lernumgebung, die er für erfolgreiches Lernen braucht, war im Kindergarten nicht möglich. Er sagte, es wäre zu laut und es hätte zu viele Kinder.» Sie hätten nicht zuschauen wollen, wie ihr Kind leide, und deshalb ein Homeschooling-Gesuch gestellt.
Mittlerweile unterrichtet die Mutter alle drei Kinder zu Hause. Sie befolgt drei verschiedene Jahresplanungen mit Lernzielen, die regelmässig vom Schulinspektorat überprüft werden. Ihr Ansatz sei dabei nicht wesentlich anders als jener, den sie als Kindergärtnerin in der Schule anwende: «Ich stelle die Kinder, ihre Bedürfnisse und ihre Interessen ins Zentrum», der Stoff sei ja der gleiche, meint sie, nur die Art der Vermittlung manchmal eine andere: «Anstatt Masseinheiten nur theoretisch zu büffeln, backen wir zusammen einen Kuchen.» Das funktioniere gut, meint sie, es sei aber auch ein grosses Stück Arbeit: «Homeschooling ist für mich als Mutter und Lehrerin meiner Kinder eine grosse Herausforderung», sagt sie. Wäre sie nicht ernsthaft überzeugt, dass es die richtige Lösung für ihre Familie sei, würde sie das nicht durchziehen.
Beide Familien betonen, sie hätten nichts Grundsätzliches gegen die Volksschule. Diese sei durchaus für viele Kinder geeignet, nur nicht für die eigenen. Gleichzeitig schwingt klar mit, dass sie mit einigen Aspekten der Volksschule nicht einverstanden sind. Und beide sind überzeugt, ihr Weg sei der bessere.
Familie B. brauchte mehrere Anläufe und ging bis vor Obergericht. Schliesslich hat sie die Bewilligung für das Homeschooling aber erhalten. Familie M. nicht. Der springende Punkt: eine Voraussetzung, die der Erziehungsrat für die Bewilligung des Heimunterrichts in einem Grundsatzpapier zur privaten Schulung stellt.
Erziehungsrat wird zurückgepfiffen
Die private Schulung könne nur von Personen erteilt werden, die ein EDK-anerkanntes Lehrdiplom besitzen, also von an einer pädagogischen Hochschule ausgebildeten Lehrpersonen. Frau B. hat als Kindergärtnerin ein solches Diplom, die Eltern M. hingegen nicht. An dieser hohen Hürde sind die meisten Homeschooling-Gesuche gescheitert. Bis jetzt. Die Familie M. rekurriert mit einem erfahrenen Anwalt gegen den Beschluss an die nächste Instanz – den Regierungsrat – und bekommt Recht. Die Regierung heisst in ihrem Entscheid nicht nur den Rekurs gut, sondern nimmt grundsätzlich zu den Voraussetzungen für das Homeschooling und zu den Kompetenzen des Erziehungsrates in dieser Frage Stellung. Das Urteil, das der AZ vorliegt, fällt für den Erziehungsrat ziemlich schlecht aus. Der Regierungsrat wählt dabei deutliche Worte: Es sei festzuhalten, «dass Art. 15 Schulgesetz die private Schulung klarerweise nicht in dem Sinne einschränkt, dass für deren Bewilligung ein Lehrdiplom vorausgesetzt wäre. Zu diesem Schluss käme man nicht einmal mit einer – sehr – extensiven Auslegung;», das Schulgesetz sei sogar relativierend, Hinweise darauf, dass es der Wille des Gesetzgebers sei, ein Lehrdiplom vorauszusetzen, gebe es nicht. Demnach überschreite der Erziehungsrat seine Kompetenz, wenn er weitergehende Voraussetzungen für das Homeschooling schaffe. Im Klartext heisst das: Der Kanton Schaffhausen wird vom eher restriktiven zu einem Homeschooling-freundlichen Kanton. Und Eltern, deren Gesuche wegen fehlendem Lehrdiplom bisher abgelehnt wurden, könnten vielleicht neu eine Bewilligung erhalten. Der Erziehungsrat muss somit eine Schlappe einstecken, die besonders für den Präsidenten – Eziehungsdirektor Christian Amsler – unangenehm sein dürfte. Amsler, der beim Beschluss im Regierungsrat in den Ausstand getreten ist, musste sich quasi von seiner Amtskollegin und seinen Amtskollegen über die Auslegung des Schulgesetzes belehren lassen.
Auf Anfrage äussert sich Amsler nicht persönlich. Roland Moser, Departementssekretär und zuständig für die Geschäfte des Erziehungsrates, teilt mit, der Erziehungsrat habe den Entscheid der Regierung zur Kenntnis genommen, die regierungsrätliche Auslegung des Schulgesetzes könne er nachvollziehen. Der Entscheid werde demnach nicht an das Obergericht weitergezogen. Der Ball wird also flachgehalten. Im Hintergrund wird der Erziehungsrat dennoch aktiv, kündigt Moser an: Man habe die zuständige Stelle und den Rechtsdienst beauftragt, einen entsprechenden Vorschlag zur Anpassung des Schulgesetzes vorzubereiten.
Bis dahin sind in Schaffhausen – durch regierungsrätlichen Beschluss – die Hürden für Homeschooling ausgesprochen tief.